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Aus dem TagetucJi eines Stadtpfarrers

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Im folgenden veröffentlichen wir einige Teile aus dem Buche „Splitter und Balken“ des französischen Priesters Ignace Lepp, das in deutscher Uebtvsetzung im Verlag Styria, Graz, erschienen ist. Der Verfasser, ehemals Kommunist, der sich bekehrte und Priester wurde, schilderte seine Konversion in dem Bucii „Von Marx zu Christus“.

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Im folgenden veröffentlichen wir einige Teile aus dem Buche „Splitter und Balken“ des französischen Priesters Ignace Lepp, das in deutscher Uebtvsetzung im Verlag Styria, Graz, erschienen ist. Der Verfasser, ehemals Kommunist, der sich bekehrte und Priester wurde, schilderte seine Konversion in dem Bucii „Von Marx zu Christus“.

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Der Zug rollt nach Süden, auf die Stadt Marseille zu, die die Vorsehung als erstes Feld meiner priesterlichen Tätigkeit bestimmt hat. Gott allein weiß, worin diese Tätigkeit bestehen wird. Ich möchte sie dem Dienst der Arbeiterklasse weihen, der ich so viel verdanke und ohne die ich wahrscheinlich nie aus meinem egozentrischen intellektuellen Schneckenhaus herausgekrochen wäre und daher nie zum Priestertum gefunden hätte. Was weiß ich aber von ihren religiösen Bedürfnissen? Ich beginne seit einiger Zeit einzusehen, daß ich während der zehn Jahre meiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei mehr für das Ideal als für den konkreten Menschen gekämpft habe.

Die Jahre meiner Vorbereitung auf das Priestertum haben mir den unendlichen Wert jeder Seele klargemacht. Sicherlich bemühe ich mich heute nicht leidenschaftlicher als bei meinem ersten Kontakt mit dem Christentum um das private Heil des einzelnen. Es ist mir von Grund auf unmöglich, mich für meine eigene himmlische Glückseligkeit zu interessieren, und wahrscheinlich werde ich nie * imstande sein,-einem reumütigen' Sünder das Heil seiner Seele zu versprechen. Das einzige, was wirklich Bedeutung hat, ist das Schicksal der Menschheit als Ganzes, ja der ganzen Schöpfung. Es wäre aber diese Gesamtheit, diese Gemeinschaft, nur eine Abstraktion, wenn sie nicht die Summe der Einzelschicksale wäre. Ich werde mich also um jeden Menschen, den Gott auf meinen Weg schickt, einzeln kümmern müssen.

*

Gestern habe ich Jacques wiedergetroffen. Wir hatten uns fast zur selben Zeit zum Katholizismus bekehrt und füreinander durchaus Sympathie empfunden. Jacques war früher Rechtsanwalt und ist bei den Dominikanern eingetreten. Es erscheint ihm unbegreiflich, daß Gott ihn so weit her und durch so viele Hindernisse hindurch berufen hätte, nur um die „Gewissenskonflikte“ der guten Damen vom Dritten Orden zu lösen. Weil der Pater nun aus Erfahrung weiß, wie sehr Gott in der Welt abwesend ist (nur wenige von denen, die von Haus aus katholisch sind, ahnen es), hat er beschlossen, Ihm dort wieder Zugang zu schaffen.

Seine glühende Liebe hat ihn zu den Hilfsbedürftigsten geführt. Jacques wurde Docker im Hafen von Marseille. Er hatte keine Vorstellung von der Art der Tätigkeit, die er dort ausüben könnte; was einzig für ihn zählte, war, daß Christus durch Seinen Priester unter Seinen enterbtesten Söhnen gegenwärtig würde. Seine , Arbeitskameraden wußten monatelang nicht, daß er Priester war.

Wenn Christus in unseren Tagen wieder auf die Erde käme, würde er wahrscheinlich nicht Handwerker auf dem Lande werden. Er würde wahrscheinlich Fabrikarbeiter oder — warum nicht? — Docker in Marseille sein. Für jeden, der das Evangelium mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, ist es klar, daß Christus die skandalöse Ausbeutung des Menschen durch das Kapital nicht ansehen würde, ohne sie zu brandmarken, und die Gerechtigkeit, die er predigen würde, wäre vor allem die soziale Gerechtigkeit. Konnte der Priester anders handeln, als sein Meister sicher gehandelt hätte?

Jacques befand sich bald bei der Vorhut des Kampfes, den die Docker um etwas mehr Brot und Würde führten. Wie groß war die LIeberraschung aller, als er sich eines Tages gezwungen sah, ihnen zu sagen, daß er Priester sei! (Denn die Kameraden zeigten sich immer mehr entschlossen, ihn zu verheiraten. Jeder betrachtete es als eine Ehre, wenn dieser „prima Bursche“ sein Schwiegersohn oder sein Schwager würde.) Wer hätte glauben können, daß ein „Pfarrer“ so ein pfundiger Kerl sein könnte.

Der geschäftsführendc Direktor, ein Katholik, war am meisten erstaunt. Er hätte sehr wohl

begriffen und es sogar gutgeheißen, daß ein Priester Arbeiter würde, um die Arbeiter zu „bekehren“, um ihnen den „christlichen Verzicht“ zu predigen, um sie vom Kommunismus wegzuziehen. Was für ein Skandal, welcher Verrat, daß ein Priester — und, was mehr ist: ein Priester von so bürgerlicher Herkunft - selber ein Agitator wird!

Jacques hat mir das alles und viele andere Dinge mit seinem gewohnten nachsichtigen Lächeln erzählt. Er verurteilt den Chef nicht, er versteht ihn; aber das wird ihn selbstverständlich nicht hindern, weiterzukämpfen.

Nichts ist mir bei den frommin Leuten so widerlich wie der Geist der Angeberei. Wenn ein Priester in einem befreundeten Haus sich etwas freimütig über seine Vorgesetzten geäußert oder gewisse Sitten und Gebräuche kritisiert hat, findet sich fast immer jemand, der seine Worte, oft in verdrehter Form, dem Bischof oder einem Generalvikar berichtet.

Ich stehe in einem ausgezeichneten Einvernehmen mit der Direktorin der Schule für den Sozialdienst, an der ich Professor bin. Das hindert sie nicht, dem Bischof jeden paradoxen Gedanken zu berichten, den ich in meinen Vorlesungen erwähnt haben könnte. Als ich in Ott letzten Woche von der kapitalistischen Spekulation sprach, habe ich als Beispiel einen Reeder angeführt, der das Schiff, während es friedlich den Ozean überquert, verkauft, wieder zurückkauft und dann noch einmal verkauft. Es scheint, daß mein Beispiel irgendeine stadtbekannte katholische Persönlichkeit zu nahe betroffen hat. Die Direktorin hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Bischof auf meinen neuen Einbruch in die Gesetze der Anständigkeit aufmerksam zu machen. Armer Bischof!

Das Schlimmste ist, daß diese Angeber zur größeren Ehre Gottes, zum Wohle der Seelen und besonders zum Wohl des Priesters, den sie anzeigen, zu handeln glauben. Es ist zum Heulen, was für ein Unmaß an Bösem unter dem Deckmantel des Guten geschieht!

*

Ich stand plötzlich vor der größten Not eines Priesterlebens, die ich je gesehen habe.

Als Abbe V. vor zwei Jahren die Priesterweihe empfing, wurde er mit 23 Jahren zum Pfarrer einer kleinen Landpfarrei in einer völlig protestantischen Gegend ernannt. Von den mehr als 300 Katholiken der Pfarre nehmen kaum dreißig, und davon nur ein einziger Mann, an der Sonntagsmesse teil. Unter der Woche ist der Pfarrer bei der Meßfeier in einer im Winter eiskalten Kirche allein. In der ganzen Gemeinde ist niemand, mit dem er wirklich reden könnte. Mit Ausnahme der beiden Lehrer und des Arztes, die als wilde Antiklerikale jeden Kontakt mit dem Priester ablehnen, gibt es hier kaum gebildete Menschen. Es kommt vor, daß er wochenlang zu einer wirklich -menschlichen Begegnung keine Gelegenheit gehabt hat.

Gewiß, es gibt andere Priester in der Gegend. Die nächste Pfarre ist aber zwölf Kilometer weit weg, und die zu gebrechliche Gesundheit des Abbe V. verbietet ihm das Radfahren. Und seine Armut ist so groß, daß er niemanden zu sich einladen kann. Kurz, ich habe den Abbe V. in einem schrecklichen Zustand nervöser Gespanntheit, mutlos und voll düsterer Gedanken angetroffen. Wie wird er das bestehen?

*

Es gibt eine fromme Phraseologie, die das wahre Gesicht des Christentums vollständig verunstaltet. Man spricht viel von Mitleid, von Tröstung, von Demut und nicht genügend von der Kraft, vom Mut, von dem männlichen Stolz, der einen Christen beseelen soll. Doch wenn es in der Umgebung Jesu Frauen gab — was für wunderbare Frauen! —, Seine eigentlichen Be-

gleiter waren trotzdem Männer, von denen man wahrhaftig nicht sagen kann, daß sie weibische Jünglinge gewesen wären. Es waren rauhe Männer aus dem Volk, die alles verließen, um Jesus nachzufolgen, weil Er ihren Seelen eine starke, lebensspendende Nahrung zu bieten vermochte und nicht die fade Kost der Schwachen.

Was für dummes Zeug hat man nicht über die christliche Demut gesagt. Geschah es nicht und geschieht es nicht heute noch, daß man im Namen der Demut jedes Streben, jeden Willen zum Erfolg und jede Kühnheit beim Christen verdammt? Es genügt übrigens, den Großteil derer aufmerksam zu beobachten, die sich zur Demut bekennen, um darin einen verborgenen Pharisäismus aufzudecken. Oh, gewiß bleibt dieser Pharisäismus oft ganz unbewußt, und die „Demütigen“ glauben, sie wären es wirklich. Aber mit etwas psychologischem Scharfblick entdeckt man leicht, daß hinter der Maske der Demut sich die Feigheit des Egoisten oder die Schwäche des Kranken verbirgt und fast immer der Hochmut dessen, der das Risiko der Tat, des Willens zum Erfolg nicht tragen will. Die Heiligen, die doch wirklich Demütige sind, sind weder faul noch furchtsam; sie nehmen die Demut nicht zum Vorwand, um auf Abenteuer und Unternehmungen, die in den Augen der Welt oft töricht erscheinen, zu verzichten. Für sie besteht die Demut darin, sich nicht als Eigentümer der Geschenke und Talente, die Gott ihnen gegeben hat, zu benehmen, und nicht auf sich selber den Ruhmesglanz ihrer Werke zurückstrahlen zu lassen: non ntobis Domine, non nobis. .'.

Es wäre kindisch, zu behaupten, daß die Arbeiterpriester keine Fehler begangen hätten, daß

keiner der ihnen gemachten Vorwürfe berechtigt wäre. Die meisten von ihnen kannten kaum das Arbeitermilieu. Selbst diejenigen, die ihrer sozialen Herkunft nach ihm angehörten, haben sich durch ein jahrelanges Leben in den warmen Treibhäusern der Seminare von ihm getrennt. Weil der reinste christliche Edelmut sie getrieben hat, die Lage der Arbeiter zu teilen, war der psychologische Schock, der in der Berührung mit der Wirklichkeit hervorgerufen wurde, grausam. Das erklärt, daß mehrere die Situation nicht mehr zu meistern verstanden und Empörer wurden.

Zum ersten Male jedoch hatte die Kirche seit dem skandalösen Riß zwischen den Volksmassen und dem Christentum (nach Pius XI. das größte Verbrechen des kapitalistischen Jahrhunderts) die Gelegenheit wiedergefunden, ihnen die Botschaft des Evangeliums zu verkünden. Die Neuheit der Mission besteht nicht in der Tatsache, daß die Priester manuell arbeiten. Seit dem heiligen Paulus war das immer schon auf einer mehr oder weniger breiten Ebene praktiziert worden, und in mehreren Orden ist die Handarbeit noch eine von der Regel streng verlangte Verpflichtung. Der lebendige Kontakt mit den Arbeitern ließ diese jungen, edelmütigen Priester schnell verstehen, daß der Arbeiter nicht mehr der arme Schlucker ist, den sich die Bürgerlichen vorstellen, der der Verzweiflung ausgeliefert ist und mit Passivität die Unterdrückung auf sich nimmt. Er ist sich seines Loses bewußt geworden, bewußt auch seiner Kraft und seiner Rolle in der Geschichte. Von da an erkannten die Priester, daß es noch eine

wichtigere Tätigkeit gibt als die manuelle Arbeit, nämlich den proletarischen Zustand in seiner Gesamtheit auf sich zu nehmen, mit all seiner Unsicherheit, aber auch mit seinen Hoffnungen und seinen Kämpfen. Daß diese Hoffnungen und diese Kämpfe sich im Kommunismus kristallisiert finden, ist sicherlich nicht die Schuld der Arbeiterpriester noch der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.

Weil sie für ihre Aufgabe schlecht vorbereitet waren und den Marxismus und Kommunismus kaum kannten, scheinen einige Arbeiterpriester ihjer gefährlichen Faszination unterlegen zu sein. Sie haben nicht begriffen, daß das Proletariat in seiner Mehrheit nur auf Grund der historischen Umstände marxistischkommunistisch ist. Sie haben sich überreden lassen, daß der Marxismus wirklich die immanente Philosophie des Proletariats ist und daß es für das Proletariat nur in und durch den Kommunismus ein Heil gibt. Daraus ergab sich eine arge Verblendung. Aber ich beharre in dem Glauben, daß die Irrtümer, die sich daraus ergeben haben, im Vergleich zu dem, was positiv gewesen ist, kaum zählen. Die Bekehrungen von Arbeitern zum Katholizismus durch die Tätigkeit der Arbeiterpriester sind vielleicht nicht zahlreich. Aber zum erstenmal seit Generationen hat das Arbeitervolk das Gefühl gehabt, daß Christus und seine Kirche nicht notwendig auf der Seite der Mächtigen und Besitzenden stehen. Man müßte geistig blind sein, um die außerordentliche Bedeutung dieses Ergebnisses in der Evangelisation der Welt im allgemeinen und der Armen im besonderen nicht zu verstehen.

*

Eine Gruppe katholischer Studenten fragt mich über das Thema des vorliegenden Werkes „Splitter und Balken“, dessen Erscheinen als logische Folge meines anderen Buches „Von Marx zu Christus“ angekündigt worden war. Ich bemühe mich also, ihnen verständlich zu machen, in welchem Geist ich dieses Buch verstehe, von dem ich von vornherein weiß, daß

es vielen nicht gefallen wird, mit denen ich doch den Glauben und die Liebe zu Christus teile. Abbe J„ der Seelsorger der Studenten, faßt zusammen: „Im großen und ganzen haben Sie im ersten Werk gesagt, warum Sie Kommunist wurden und warum der Kommunismus Sie abgestoßen hat. In diesem Buch werden Sie, wenn ich mich nicht täusche, das sagen, was Sie bei den Christen abstößt und warum Sie trotzdem Christ bleiben.“ Man könnte den Sinn dieser meiner Tagebuchblätter tatsächlich nicht besser zusammenfassen.

In vieler Hinsicht scheint mir die christliche Welt kaum schöner als die kommunistische. Beide entsprechen nicht der Vorstellung, die wir uns zu Recht vom Reiche Gottes oder vom irdischen Paradies machen. Es besteht jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen den zw~: ..Welten“ ' 4“

Die kommunistische Welt ist unmenschlich, erniedrigend und bringt gerade das entscheidend Menschliche im Menschen in Gefahr. Es ist das nicht so, wie manche abgefallene Kommunisten glauben, weil Stalin und seine Komplicen den wahren Kommunismus verraten hätten, sondern das Gegenteil, weil sie — und in dem Maße, in dem sie — der Grundidee des Marxismus-Leninismus treu sind. Wenn sie ihr weniger treu wären, wären ihre Verbrechen wahrscheinlich weniger himmelschreiend. Um den. Mißbräuchen des Kommunismus ein Ende zu etzen, darf man nicht zu den sogenannten vergessenen Quellen zurückkehren, sondern man muß gerade sie aufgeben; denn sie sind vergiftet.

Mit der christlichen Welt ist es ganz anders. Wenn sie so oft mittelmäßig ist, wenn sie sich zum Mithelfer der Tyrannen und Unterdrücker jeder Art gemacht hat und manchmal noch macht, wenn sie sich oft sektiererisch und intolerant zeigt, dann geschieht das keineswegs auf Grund ihrer Treue zum Evangelium Jesu Christi, sondern weil sie es verraten hat.

Um dem, was es in der christlichen Welt an Häßlichem gibt, ein Ende zu setzen, gibt es nur einen Weg: die Rückkehr zur Quelle.

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