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Geistige Wandlungen in Frankreich

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Der Aufsatz „Frankreich — religiös gesehen“, veröffentlicht in Nr. 17 unseres Blattes, hat einen lebhaften Gedankenaustausch und Zuschriften an den Autor und die Redaktion angeregt. Anknüpfend an gestellte Fragen nimmt der Verfasser im nachstehenden — gewiß zur Genugtuung vieler Leser — zu einer Erweiterung des Themas das Wort.

Irgendwie waren wir alle, die wir während des Krieges in Frankreich waren, in diesem Lande stille Beobachter und wenn es auch. nie gelingen wird, das Wesen eines anderen Menschen ganz zu ergründen, weil jeder ein Stück Geheimnis in sich birgt, das er für sich behält, wie sehr ist dies bei einem Volk, wo trotz aller eigenen Sprachenkenntnisse weder die Normalität des Falles gegeben war noch wir selbst in dieser oder jener Eigenschaft die Möglichkeit hatten, im Dasein des Alltags eines Franzosen unterzugehen. Was aber unsere Stellung als Christen betrifft, so erinnere ich midi noch gerne an jene herzlichen Sonntagsabende,' die ich mit dem „M. le eure“ und seinen Vikaren in Pontarlier zubrachte, und an denen alle miteinander gerne den Mentor spielten, um mir die Anfangsgründe einer katholischen Frankreichskunde beizubringen. Dort in den armseligen Klausen — die Zimmer der Ka-pläne waren nichts anderes — saßen wir und machten unsere gegenseitigen Tastversuche. Wer war der angebliche Priester in deutscher Uniform und was wollte er, der angab, Wiener zu sein, indessen an den Plakatwänden jede Woche neue Todesurteile vom deutschen Kriegsgericht angekündigt waren? So war es schon im Frühjahr 1941. — Bald waren die Hemmnisse des Mißtrauens gefallen und wir verstanden uns und erzählten einander, wie unter Amtsbrüdern von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. So wußte auch ich bald, wo die Leute von der Pfarre hin einkaufen gehen und wer von den Jungen bei den Scouts oder bei den Jocisten war.

So eigenartig es klingt, M. le eure hatte überall seine Beziehungen. Niemand nahm es ihm für übel, daß er etwa nicht der gleichen politischen Meinung war, wie dieser oder jener von der Straße oder vom gegenüberliegenden Haus. Ich habe überhaupt noch wenige Franzosen getroffen, die fest und steif auf ihre Partei schwören, denn Politik ist dort eine Sache, die nicht so tief ins persönliche Leben eindringt wie bei uns. Dazu ist der Franzose zu viel Skeptiker, als daß er im Politiker den reinen Idealisten sieht, und er weiß wohl und glaubt, daß dieser vielleicht ganz gut auch persönliche Geschäfte macht. Er wählt ihn als den Mann, der eine bestimmte Meinung vertritt und der er beipflichtet oder die er als die günstigste betrachtet. Er lehnt ihn aber ab, sobald er mir ihm und seiner Tätigkeit unzufrieden ist. Das kommt auch daher, daß bisnun das Listenwahlrecht in Frankreich nicht angewendet wurde, sondern erst bei der Herbstwahl 1945. Bisher wählte der Franzose den bestimmten Mann und sein Programm. So ereignete es sich im November vorigen Jahres, daß in einem Departement tlie Katholiken einem Kandidaten der MRP ihre Stimme nicht gaben, weil sie ihn nicht kannten und ihre Wünsche bezüglich der katholischen Schule in den Händen eines „Unabhängigen“ besser geborgen glaubten.

Die Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der M. l'abbe in seiner geflickten Soutane wie die Klosterschwester in den rötesten Vierteln von Paris, Lyon und Marseille sich bewegen, ebenso wie sie bei Ämtern und Behörden ihre Ansprüdie und Wünsche vortragen, ist ein Faktum, das sich der französische Klerus erkämpft“ hat. Es hat auch Zeiten gegeben, wo man ihnen das „Kra-kra“, wie den Schimpfnamen „corbeau“ (Rabe) nachgerufen hatte. Aber das hat sich grundlegend geändert seit dem ersten Weltkrieg, als der Priester als Soldat und Kamerad, als Poilu mit den andern zusammen im Dreck des Schützengrabens in Flandern und bei Verdun gelegen hat. Als nach dem Krieg gewisse Kreise diese Tatsadie übersehen wollten, da berief sich der Klerus auch auf seine Auszeichnungen und es demonstrierten einige Male etliche fünftausend Priester in Soutane auf den Straßen von Paris und verlangten ihr Recht als Staatsbürger und Frontkämpfer. So mancher bescheidene Landpfar-er genießt weit über sein Dorf Ansehen, weil er als gedienter Hauptmann oder Major nicht übergangen werden kann. Deswegen oder trotzdem hat er seine Schar von Rangen um sich und weiß auch, was er ihnen sagen muß und sagen kann. In diesem Sinne ist die Kirche Frankreichs nationaler als wir es vielleicht gewohnt sind. Es gibt auch keine Kirche, in der nicht zu beiden Seiten im Kirchenschiff oder beim Hochaltar die Trikolore nicht etwa vereinzelt angebracht ist, sondern in Bündeln. Und als diese im okkupierten Frankreich nirgends gezeigt werden durfte — die Kirchen nahmen sie nicht weg. Nicht umsonst sind französische Bischöfe in deutsche Konzentrationslager gewandert — wie der Bischof von Montaubon, der der „Maquisbischof“ genannt wurde —, da sie einen unbedingten Kampf gegen das einbrechende Heidentum führten.

Wenn es auch so sdieint und es für viele Schichten, vor allem in den Landgemeinden und in gewissen Bezirken charakteristisch & ist, daß eine Erstarrung des Glaubenslebens eingetreten ist, dann tritt wieder der Priester als Missionär auf, der zäh und zielbewußt mit allen Mitteln, fast möchte man sagen mit scheinbar zu peripherischen, an die Menschen heranzukommen sucht. Wieviele Landgemeinden gibt es, wo der Pfarrer der Konzessionsinhaber des Kinos ist und sich Sonntag für Sonntag hinstellt — weil er sonst niemand hat und niemanden bezahlen kann — und zu lächerlichen Preisen Kinovorführungen abhält. In die Kirche kommen so und so vieie nicht, aber in das Kino gehen sie und es ist nicht gleich, was . geboten wird. Oder denken wir an die zahllosen Ferienkolonien, die von allen Städten aus durch die Pfarren organisiert werden, in denen die Kinder einer Pfarre gemeinsam irgendwo zelten oder in einem Heim untergebracht sind und immer ein Seelsorger von der Pfarre dabei ist. Die Kinder sind nicht irgendwo, sondern es ist nur eine transferierte Pfarre. Hier muß die Bedeutung der Pfadfinder erwähnt werden. Die Pfad-findjrbewegung hat tatsächlich weiteste Kreise erfaßt, und wird für eine bis in das Detail gehende seelsorgliche Betreuung ausgenützt. Das Pfadfinderkreuz, anstatt der Lilie in Frankreich getragen, ist das weitverbreitetste Abzeichen bei Burschen, Mädeln und vielen jüngeren Männern. Die Pfadfinder sind zumeist das Rückgrat der städtischen Pfarrgemeinden. Hier hat zielbewußte Arbeit seit Jahren große Erfolge aufzuweisen.

Bei aller Vielfältigkeit der zahllosen katholischen Organisationen ist doch eine Einheitlichkeit herausgebildet, die sich in einer straffen Zentralisierung zeigt, die zu einer Spitze hinweist. Alle Gruppen sind diözesanmäßig organisiert, aber einer Zentralleitung zumeist mit dem Sitz in Paris unterstellt. Darin liegt die Stärke und die Schlagkräftigkeit der Katholiken audi im öffentlichen Leben. An ihrer Meinung kann keine Regierung und keine Partei vorübergehen. Bei aller Laizität des Staates, die gerne in der Öffentlichkeit betont wird, ist doch nirgends weder die Kirche noch der Klerus irgendwie in den Winkel gedrückt. Vielleicht gibt es Kreise, die es wollten, aber sie können nicht hinwegsehen über die imponierenden Zahlen ihrer Organisationen, über die Tatsachen und Leistungen der Laien, des Klerus und der Orden. Dagegen läßt die „offizielle“ Kirche Vorsicht walten gegenüber der Öffentlichkeit des Staates. Sie hat aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts gelernt. Sie verläßt sich lieber auf ihre persönlichen Beziehungen und ihre katholische Intelligenzschicht.

Vielleicht hilft der Kirche in Frankreich nicht zuletzt auch ihre persönliche Armut und das sehr große Verständnis des Klerus für die sozialen Fragen und Nöten. Wer denkt nicht noch an den eigenartigen Linkskurs, den vor 1938 „L'Aube“ und die Dominikanerzeitschrift „Sept“ eingeschlagen haben? Wer die hohen Auflagenziffern der sozialen Wochenblätter der „Joe“ und ihnen nahestehender Kreise kennt, die weit über die hunderttausend zum Teil bis zweihunderttausend gehen, muß doch zugestehen, daß sie nicht wegen des Papieres gekauft werden. Die lebendige soziale Aufgeschlossenheit birgt wohl das glückliche Geheimnis, das den großen Veränderungen im öffentlichen Leben zugrunde liegt.

Der Kampf, den die MRP führt, ist nicht nur ein Parteienkampf, sondern ein Kampf um Ideen, vor allem ein Kampf um den Arbeiter. Die MRP ist nicht die in der Partei organisierte Kirche und es sind nicht alle Katholiken, die in der MRP organisiert sind und schon gar nicht ist sie eine „Katholische Volkspartei“, wie sie so oft genannt wird. Priester wie Laien versicherten mir ganz energisch, daß sie eine solche Bezeichnung ganz entschieden ablehnen und vielleicht ist ihre eigene Formulierung als „junge Volksbewegung der vierten Republik“ bis jetzt die treffendste. Über sie mehr zu sagen — ich glaube kaum, daß noch bessere Kenner es wagen würden. Jedenfalls wird niemand leugnen können, daß ihre aktivsten Kämpfer in den Vororten der großen Industriestädte stehen und die jungen christlichen Arbeiter es sind, die ein christliches Sozialprogramm zur Erfüllung sich gesteckt haben.

Vor mir liegt ein Heft, das den Titel trägt „Le Christ dans la construetion du Foyer“ („Christus im Aufbau des Heimes“), herausgegeben von einem Missionär der Arbeit, Abbe Henri Godin, der zugleich Aumönier der Vereinigung „Jeones Foyers“ („Junge Heime“) ist. Begleitet von einer Textseite, die klar und ungeschminkt die Wirklichkeit des Lebens mit ihren Tatsachen und Schwierigkeiten bringt, dazu ganzseitige Kupfertiefdruckbilder, die das Leben eines jungen Paares darstellen, angefangen vom ersten Kennenlernen, alle Situationen berechnend, soll es ein Lebensführer für die jungen Eheleute sein. Hier haben wir ein modernes und populäres Ehebüchlein, das auch Bilder bringt, die uns ungewöhnlich erscheinen, so wenn unter anderem ein Photo aufscheint, wo das junge Paar gemeinsam das Bett macht und darunter der Text steht: „Der Priester des Herrn hat es am Abend unserer Hochzeit gesegnet und durch

Gott hat er onere Wehe geheiligt.*' Oder ein anderes Bild, das menschlich so ansprechend ist, wenn der junge Mann die weinende Frau umfangen hält und darübersteht: „Man weiß nicht, wie weit die Liebe geht, man hat die tiefsten Freuden nicht gespürt, wenn man nicht in letzter Seelengemeinschaft gemeinsam Leid getragen und Tränen vergossen hat.“ Dieses nette und eigenartige Büchlein, das mit einem Bilde schließt, darstellend das junge Paar am Tisch unter dem Kreuze sitzend, ist ein Symbol der strebenden Kirche in Frankreich, aber auch der Kirche, die nur die Zukunft erobern und gestalten kann, wenn sie für die Fragen, Aufgaben und Forderungen ihrer Zeit hellhörig ist.

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