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Gott in Frankreich — heute

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Seit Jahren liegt ein Arbeiter gelähmt in seinem Bett. Ist er von Verzweiflung erfüllt, haßt er das Leben und seine Bedingungen, die ihn von der menschlichen Gemeinschaft ausschließen? Gerade das Gegenteil, von dem Kranken strömt eine befreiende Kraft der Gläubigkeit aus. Er kämpft für das Recht der Armen, für die bessere, die brüderliche Welt.

Robert Philippe schreibt Gedichte. Mit der Feder führt er den Feldzug für den Frieden, die Hoffnung der Menschheit.

„Warum ist dieser Christus am Kreuz, warum wurden Jaures und Gandhi ermordet?“

„Warum der elektrische Stuhl, der Galgen und das Schafott? Warum Hiroschima und Nagasaki? Warum leben die portugiesischen Arbeiter wie Ratten im gay-Paris? Warum die Revolten der Arbeiter, der Haß, die Verfolgungen?“

Philippe wünscht eine Antwort zu geben.

„Der Mensch hörte auf, 'dein Bruder zu sein. Natürlich kannst du schweigen, demissionieren und dich weigern, zu antworten. Aber sprich, wenn du wünschst, daß die Erde ein anderes Gesicht gewinnt. Sprich zu den Soldaten, sage den Armen, den Hungrigen, den Gebrochenen, sie mögen den Kopf heben und die Sonne der Gerechtigkeit grüßen. Sage der Liebe, sie möge den großen Mantel weben, in dem die alte und noble Geschichte der Erde neu zu erzählen ist. Und dann erscheint sie ohne Tränen und ohne Spuren der Schläge und des Blutes, wie sie am ersten Tag war und wie sie wieder sein wird am Abend des großen Triumphes in der Würde der Wiedergeburt.“ („Temcrignage“, Zeitschrift der Katholischen Arbeiterbewegung, Nr. 147, 1965, stärkstens gekürzt.)

Rufe, die weiterwirken

In den Straßen brüllen die Zeitungsverkäufer, eine Rakete erreichte den Mond, die diabolische Geliebte ermordete in fürchterlicher Weise ihren Gatten, de Gaulle besucht Moskau. Menschen gehen vorbei, drängen gehetzt in die

Metrogänge, ausgesaugt durch den harten Existenzkampf, trübe Gesichter, schwitzende Körper. Niemand kümmert sich um den andern. Man ist fürchterlich allein in der gnadenlosen Weltstadt. Aber der Ruf des gelähmten Arbeiters wirkt weiter. Genau wie die Begegnung mit dem Minenanbeiter, der 16 Jahre in den Köhlenschächten schuftete und der jetzt, von einem innerlichen Feuer erfüllt, die Aufgabe der Laien in der Welt von morgen predigt. Er schildert die Bedingungen der Arbeiter, 2,400.000 alte Männer und Frauen vegetieren mit sechs Francs im Tag.

„Aber auch ihnen leben wir das Wort des Herrn vor und unternehmen ein umfassendes Apostolat. Der Christ vertritt eine Vision der Gegenwart und glaubt, seine Aufgabe sei damit erfüllt. Wir wünschen jedoch die breite, die weiteste Begegnung, um die Probleme der Nichtchristen zu entdecken. Gewiß, eine unerhörte Aufgabe. Der Christ nimmt in der Gesellschaft einen besonderen Platz ein. Wir bekämpfen, was in den Vororten geschieht, wir verneinen die Ungerechtigkeit, die es zuläßt, daß die Spannung zwischen Löhnen und Gehältern größere Formen annimmt. Wir bestehen auf einer Revision der sozialen Fragen, denn Gott verlangt es.“

Sonderbar, diese Sätze, mit Leidenschaft herausgeschleudert, in einem kleinen Büro, in dem niemand den nationalen Sitz der Katholischen Arbeiterbewegung vermutet, dieser brüderliche Empfang, sie zeigen mehr von der Kirche Frankreichs als emsige Studien in den Bibliotheken. Stundenlange Gespräche schließen sich mit einem Mann im Rollkragen an. Es ist ein Priester, der nationale geistliche Betreuer der katholischen Arbeiter.

Es begann nach dem ersten Weltkrieg

Und damit steigt die Geschichte und die Tätigkeit der Katholischen Aktion Frankreichs auf.

Es begann mit der Verteidigung der nationalen und konservativen Interessen der Kirche, welche die Republik nach dem Sieg 1918 neuerlich in Frage stellte. Das Konkordat mit dem Vatikan sollte gekündigt werden, der Stolz der Katholiken, ihre Schulen, schienen auf das äußerste bedroht. Die Katholiken wurden aus dem Staat herausgedrängt, obwohl auch sie größte Blutopfer gebracht hatten. Ein illustrer Soldat des ersten Weltkrieges, Castelnau, schuf daher 1924 die nationale Liga der Katholiken, die ihr Gegenstück in der viel älteren Liga der patriotischen Frauen fand, eine Organisation, dazu bestimmt, die Monarchie zu verteidigen. Die Frauenliga wurde in Lyon in der Epoche der Trennung Staat—Kirche gegründet, spaltete sich sehr bald,

da zahlreiche Frauen eine einseitige politische Orientierung ablehnten. Erst 1933 kam es zur Wiedervereinigung. Die Organisation der Männer wurde durch die starke Persönlichkeit von Le Cour Grandmaisan über die Wirren des Krieges und der Besatzung geführt.

Beide Bewegungen widmeten sich in erster Linie der Bildung der Katholiken in der Pfarre. Ihre organisatorische Form entsprang traditionellen Strukturen. Der endgültige Rahmen wurde in den Jahren ab 1950 gefunden und tritt uns derzeit folgendermaßen entgegen:

Im „Komitee für das Apostolat der Laien“, als dem Organ der Koordination, treffen sich die allgemeine katholische Organisation der Männer und die allgemeine katholische Organisation der Frauen. Zahlenmäßig kann ihr Einfluß an der Abonnierung der Zeitschriften abgemessen werden. „Echo de notre temps",eine illustrierte Monatszeitschrift, weist eine Auflage von 1,800.000 auf. Damit erzielt sie die höchste Auflage aller französischen Zeitschriften und Zeitungen. 200.000 Helferinnen, von denen zirka 13 Prozent ledig sind, bilden das Rückgrat dieser Organisation. Es wird angenommen, daß 10 Prozent der Frauen Frankreichs eine ständige Form der Aussprache finden und damit dem Rhythmus der Kirche folgen.

Die Zeitschrift der Männer, „France mondecatholique“, ebenfalls monatlich, nennt ihre Auflage mit 180.000. Entsprechend der Regionen finden Lehrgänge und Zusammenkünfte statt. Im Mittelpunkt der Arbeit dieser beiden Bewegungen steht eine jährliche Enquete, die, gemeinsam vorbereitet und durchgeführt, die eucharistische, die menschliche Gemeinschaft entdeckt. Die Regruppierung der Laien, das Fixieren moralischer Grundsätze, die Vertiefung im Glauben sind die Leitmotive dieser Tätigkeit. 1964 lautete das Thema der Untersuchung: „Die Gemeinschaft der Pfarre im Zustand der Mission.“ 1965 66: „Das menschliche Leben und die Brüderlichkeit in Christus.“

Brüderlichkeit in Christus

Die Kirche ruft alle Christen auf, eine Welt zu erbauen, welche die natürliche Solidarität bestätigt. Eine Brüderlichkeit in Christus! Die Katholische Aktion übersetzt diese Forderung durch ein bewußtes Leben, durch den entwickelten Familiensinn und die Freude zu der Arbeitsstätte. Ja selbst die Vergnügungen erhalten einen neuen Akzent. Der Christ f indet die kleine Brüderschaft. Diese unterstützt ihn, sie ist das Ferment der christlichen, der menschlichen Gemeinschaft. Eine möglichst große Anzahl von Personen möge an diesen Diskussionen, Begegnungen und Wallfahrten teilnehmen. An den Abenden werden einzelne Artikel kommentiert und durchbesprochen. Der enge Kontakt zu den Priestern der Pfarrei ist den Mitgliedern eine besondere Pflicht.

Auf dem Weg zur endgültigen Form des Apostolates hat die Kirche Frankreichs auch große Enttäuschungen erlitten. Ais Beispiel dient die Volksbewegung der Familien, die 200.000 christliche Familien umfaßte, einen brillanten Arbeite- und Sozialminister stellte (Bacon), den Aufstieg des MRP maßgebend beeinflußte und schließlich in der Abspaltung einmal gestellte Aufgaben vergaß. Diese Bewegung wurde von früheren Mitgliedern der JOC begründet, die nach der Gründung der Familien den Geist der Jugendorganisationen bewahren wollten. 1942 43 stellten die Reihen des MPF die gläubigsten Mitglieder der Widerstandsbewegung. Nach der Befreiung durfte sie als eine der wichtigsten Organisationen des Landes bezeichnet werden. Eine Zeitung mit einer Auflage von mehr als 100.000 verbreitete ihre Doktrinen.

Es schien, als sei die Massenbewe gung der katholischen Arbeitnehmer entstanden. Ihre Führer kamen nach einer gründlichen Analyse zur Überzeugung, daß der Christ in der Welt wirkend auch Verpflichtungen im Sektor der Politik zu übernehmen hat. Die Gewerkschaften seien zu unterwandern, und die Mitglieder wurden aufgefordert, parteiliche Bekenntnisse abzulegen. Die Abwanderungen nach links wurden bemerkenswerter.

Das MPF schied schließlich als Glied der Katholischen Aktion aus; 1949 unter eigener Verantwortung außerhalb der Kirche weitergeführt, verschwand der frühere Geist, die Einheit löste sich auf. 1950 wurde die neue Bezeichnung „Bewegung zur Freiheit der Völker“ gefunden, und 1951 splitterte die Gruppe „Bewegung zur Befreiung der Arbeiter“ ab. Zahlreiche Mitglieder fanden schließlich eine geistige Heimat in der autonomen sozialistischen Partei (nicht zu verwechseln mit der SFIO).

Zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken fristen die Überlebenden dieses Abenteuers ihr Dasein außerhalb der lebendigen Organisationen der Katholischen Aktion. Sie sind selten in der Lage, den früheren Idealen nachzukommen.

Beruf und Umwelt

Mit dem Hinweis auf die JOC gelangen wir zur Betrachtung der speziellen Organisationen, die, nach Berufen und Milieu aufgegliedert, über Pfarren und Diözesen verbreitet, den eigentlichen Reichtum der Kirche ausmachen. Im Jahre 1927 tauchte mit der katholischen Jungarbeiterbewegung (JOC) die erste spezielle Bewegung auf, die, schnell verbreitet, bis auf den heutigen Tag als Vorbild aller ähnlichen Bestrebungen zumindest der Jugend gilt.

Drei große spezielle Organisationen, die der Unabhängigen, der Bauern und Arbeiter, bestätigen die funktionelle Bindung zu diesen Berufsständen. Die Unabhängigen vertreten Ingenieure, Professoren, leitende Angestellte, und ein konservativer Geist ist auf diesem sozialen Hintergrund spürbar. Eine tapfere Frau mit einem bedeutenden Namen, Fräulein Monnet, animierte durch lange Zeit diese Bewegung. Sie ist die Schwester des Schöpfers des Schuman-Planes. Als erste Frau wurde sie zur Auditorin des Konzils bestimmt. Es wäre zu weitschweifig, alle anderen speziellen Vereinigungen verschiedenster Naturen anzuführen, wir rücken die Organisation MCC (Mouvement des Cadres et Ingenieurs et des Chefs d’Entrepri- se) in den Vordergrund, da hier die christlichen Unternehmer und leitenden Funktionäre der Großbetriebe versuchen, eine soziale Doktrin zu verwirklichen, die abseits des zu bequemen Paternalismus liegt.

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