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REVUE IM AUSLAND

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Die von Emmanuel M o u n i e r herausgegebene Zeitschrift der französischen Per- sonalisten „Esprit“ widmet den größten Teil ihrer letzten Nummer dem Andenken des am 24. März dieses Jahres verstorbenen russischen Philosohen Nikolaus Berdiajeff, der nicht nur von der ersten Nummer der Zeitschrift (Oktober 1932) an zu ihren Mitarbeitern gehörte, sondern den der „Esprit“- Kreis darüber hinaus als Vorläufer und Meister anerkennt. Nach einem in sein Leben und Werk einleitenden Artikel von Marie-Magdeleine Davy „Nikolaus Berdiajeff oder der Kampf de,r Schöpfung gegen die Objektivierung“ enthält das Heft zwei nachgelassene, bisher unveröffentlichte Aufsätze des Verstorbenen.

Im ersten dieser Aufsätze, der den Titel eines früheren Buches von Berdiajeff „Der Sinn des Schöpfungsaktes“ („Lesens de l’acte createur“) trägt, gibt der so vielseitige Denker selbst das zentrale Thema seines Lebens und Schaffens an:

„Das Thema der Schöpfung, der schöpferischen Berufung des Menschen, ist das wesentliche Thema meines Lebens. So aufgefaßt, ist dieses Thema nicht das Ergebnis meines philosophischen Denkens; es ist eine innerlicHerlebte Erfahrung, ein inneres Licht. Man mißversteht gewöhnlich mein Thema von der Schöpfung, indem man es in der geläufigen Annahme der kulturellen Schöpfung, der Schöpfung der ,Künste und Wissenschaften', Kunstwerke, Bücher usw. auffaßt.“

Berdiajeff zeigt dann, daß er die schöpferische Tätigkeit als eine Antwort des Menschen auf den A - ruf Gottes ansieht.

„Um meinen Gedanken zu erfassen, ist es notwendig, zu verstehen, daß der sdiöpferi- sdie Akt für mich weder eine Forderung noch ein Recht des Menschen ist, sondern eine Forderung Gottes gegenüber dem Menschen und eine Verpflichtung für den letzteren. Gott erwartet den Schöpfungsakt des Menschen als Antwort auf den Schöpfungsakt Gottes. Was für die Freiheit gilt, ist ebenso gültig für die Schöpfung. Gott verlangt auch die Freiheit des Menschen, sie ist eine Pflicht des Menschen gegenüber Gott.“

Es ist nun überaus kennzeichnend, daß der russische Denker bekennt, diese Einsicht, die ihn aus einer Periode tiefster seelischer Bedrückung unter dem Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit befreite, sei ihm in seiner „tSurm- und Drang"-Periode zuteil geworden in der „Periode der Auflehnung gegen das orthodoxe Milieu von Moskau“ und während der einen ganzen Winter dauernden Italienreise, während der er sich in Florenz, Rom und Assisi in das bewundernswerte Schöpfungswerk der italienischen Frührenaissance vertiefte.

Der zweite nachgelassene Aufsatz Ber- diajeffs behandelt „Die Umgestaltung des Marxismus in Ruß- Ian d“. Der russische Denker, der, als Student in eine sozialistische Verschwörung verwickelt und verurteilt, zweieinhalb Jahre in der Verbannung in Nordrußland mit marxistischen Kameraden verbracht hatte, schildert hier zunächst die verschiedenen Formen und Epochen der vormarxistischen sozialistischen und sozialrevolutionären Bewegung im zaristischen Rußland und zieht aufschlußreiche Verbindungslinien von der Bewegung der „Volks- tümler“ („Narodniki“), vor allem von Tkatscheff zu Lenin (zumal in der Bewertung der revolutionären Möglichkeiten im bäuerlichen, industriell unentwickelten Rußland). Das Ergebnis sei schließlich in der Entwicklung von Lenin zu Stalin ein neuer „russifizierter und orientalisierter“ Marxismus, eine Verschmelzung zwischen dem proletarischen Messianismus und dem Messianismus des russischen Volkes. Von den beiden Seiten des Marxismus, dem vom „historischen Optimismus“ Hegels herkommenden, mit Evolutionismus und soziologischem Determinismus verbundenen „wissenschaftlichen Sozialismus“ einerseits und der „messianistischen, quasi-religiösen“ Seite andererseits, habe der russische Mar- ximus vor allem jene Tendenz weiterentwickelt, für welche die Überzeugung von der Befreiungsmission des Proletariats als eines neuen auserwählten Volkes stets eine Frage des Glaubens und nicht der Wissenschaft war. Die philosophische Folge dieser Einstellung aber sei im sowjetischen Denken die Idee der Selbstbewegung, die im Gegensatz zum mechanistischen Materialismus, „dessen Verteidigung in Sowjetrußland ins Gefängnis führen kann“, unter der Bezeichnung eines „dialektischen Materialismus" der Materie innere Freiheit und Schöpferkraft zuerkennt.

„Der Grund dafür ist klar. Ein Materialismus, der alle Dinge aus der ökonomischen Notwendigkeit und den von außen gegebenen Bedingungen erklärt, würde keine Erklärung für die kommunistische Revolution in Rußland zulassen, in einem Land, das nicht die materiellen ökonomischen Voraussetzungen für einen Kommunismus in Gestalt einer entwickelten Industrie und eines Proletariats besaß. In Rußland hat sich eine Selbstbewegung vollzogen. Die Freiheit und Aktivität innerhalb der Materie haben eine kommunistische Revolution vollzogen trotz der Notwendigkeit, die von außen wirkt. Die russischen Kommunisten-Marxisten lieben es gar nicht, wenn man sagt, daß sich alles automatisch vollziehe, von selbst, durch den Zwang der

Notwendigkeit. Sie sagen, daß alles das Ergebnis der Aktivität, desrevolutionären Willens sei. Das ist geradezu die Philosophie des sozialen Titanismus, aber in eigenartiger Weise mit der Unterwerfung und dem Gehorsam verbunden. Das ist genau entgegen-gesetzt der Art, wie die deutschen Sozialdemokraten den Marxismus verstehen. Der innere Widerspruch des Marxismus wird durch den russischen Kommunismus an den Taggebracht.“

„Die Früchte von Lambeth“ ist der Titel eines Artikel in der konservativen englischen Wochenschrift „T h e Spectator"vom 20. August über die große adite Lambeth-Konferenz der anglikanischen Kirche in London (im Lambeth- Palace des Erzbischofs von Canterbury), die erste seit 1930 und die größte jemals abgehaltene, bei der sich 325 anglikanische Bischöfe aus den verschiedensten Ländern vereinten. Die Entschließungen dieser Konferenz — zusammengefaßt in einer Bot- schaft, die am 14. Oktober in etwa hundert verschiedenen Sprachen in allen anglikanischen Kirdien verlesen wird — befassen sidi mit allen aktuellen Zeitfragen, mit dem Eherecht wie mit der Stellungzum Kommunismus („unvereinbar mit christlichem Glauben und christlicher Praxis, da er atheistisdi ist, Klassenkampf predigt und das Sittengesetz nicht als absolut, sondern als relativ zu den Bedürfnissen des Staates erklärt“), mit der Stellung der Kirche gegenüber politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und anderen öffentlichen Fragen.

„Uneingeschränkte Unterstützung wird den Vereinten Nationen im allgemeinen zuerkannt und im besonderen ihrem Eintreten für die Mensdienredite und ihren Bemühun-

gen um Rüstungsbeschränkung und wirksame internationale Kontrolle der Atomenergie. Die Erklärung gegen jede Rassendiskriminierung ist unzweideutig. … In einigen Fragen, wie in der neuerlichen Ablehnung kirchlicher Eheschließung für einen geschiedenen Ehepartner mag der Bericht kritisiert werden, obwohl es richtiger wäre, der Kirche im lalle einer Lockerung ihrer Grundsätze als in dem ihrer Aufrechterhaltung Vorwürfe zu machen. Aber im ganzen muß der Bericht als eine weise und anregende Interpretierung des ewigen christlichen Evangeliums im Lichte der — harten, quälenden und herausfordernden — Bedingungen von heute anerkannt werden.“

Die Augustnummer der englischen Monatsschrift für Literatur und Kunst „Horizon"enthält neben einer umfangreichen Übersicht über das weite Feld der „Psychiatrie in den Vereinigten Staaten“ von Alistair Cooke einen anschaulichen Reisebericht des englischen Schriftstellers Christopher I s h e r- w o o d — der in England vor allem durch seine Romane aus dem Berlin zwischen den beiden Weltkriegen bekannt ist — über Bolivien unter dem Titel „Auf dem Platea u". Abschließend faßt der Beobachter seine Ansicht über die Lage Boliviens in der Weltpolitik zusammen:

„Fast das ganze Zinn Boliviens wird ši die britischen Schmelzöfen exportiert. Die Vereinigten Staaten brauchen seine anderen Metalle, seinen Gummi und sein öl. Den Kommunismus fürchtend, wünscht Washington politische Stabilität und ist bereit, dafür zu zahlen — wenn auch vielleicht nidit hoch genug — mit medizinischen und technischefi Beratern, Plänen für Spitäler und Schulen, Erziehungsfilmen und US-Stipendien für Ärzte, Krankenschwestern und Ingenieure. Im Süden wartet Argentinien auf seine Gelegenheit. Ein Krieg oder auch eine große internationale Krise, welche die USA und Großbritannien anderswo bindet, könnte Per6n freie Hand lassen, seinen lateinamerikanischen Block zu konsolidieren. Aber in diesem Fall würde auch Brasilien ein Wort mitzureden haben… Es sieht aus, als ob das Schicksal des armen Bolivien wohl von außerhalb seiner Grenzen her bestimmt werden könnte."

Das zweite Heft der heuer neu gegninei eteen Vierteljahrzeitschrift „Blick nach Osten“ fügt in ihrer jetzigen Folge eine aufschlußreiche Kulturchronik der Ostländer an. Die Aufsatzreihe, in der Forst-Battaglia die politischen Parteien im neuen Polen, Tončič-Sorinj die politischen Sonderformen im Südosten behandelt, beschließt Gregor Luschnytzky mit dem Thema: „Die Ostkirche der Gegenwart“. Er zeigt die voneinander abweichende kirchengeschichtliche Entwicklung im West- und Ostraum Europas auf, der zufolge die Ostkirche, während die Westkirche sich im Laufe der Jahrhunderte ihre Unabhängigkeit erkämpft hat und damit zu einem selbständigen Reich des Geistes geworden ist, immer tiefer in die Abhängigkeit vom Staat verstrickt worden ist. Gewissermaßen als eine Rechtfertigung für diesen Stand der Dinge erscheine es, wenn so bedeutende russische Historiker, wie Erzbischof Makarij, Golubinskij oder Presnjakov, zpr Formulierung von Sätzen sich veranlaßt sehen, wie etwa: „Wer die politische Gewalt ausübt, ist berufen, auch die kirchliche Gewalt aus zu üben.“ Oder: „Tief verankert war in der gesamten Gestaltung des altrussischen Lebens der Grundsatz der Unterstellung der Kirche unter den Träger der weltlichen Gewalt.“

„Es ist deutlich" — fährt Luschnytzky fort —, „daß diese unmittelbare, wenn auch mehr oder weniger stark ausgeprägte Abhängigkeit der Kirche vom Staat früher oder später in der Eigenart der psychischen Struktur im Bereiche gerade der slawischen Zweige der europäischen Ostkirche zum Ausdruck kommen mußte, ebenso wie die andersartige Entwicklung der Westkirche die Voraussetzungen für eine ganz bestimmte psychische Einstellung bot.“

Der Autor sieht darin den Zug der Ostkirche zu einem į,geistigen Imperialismus“ begründet. Während die Westkirche selbständig und nur für sich — und damit für die Verbreitung des Christentums — auch außerhalb der Grenzen der christlichen Staatenwelt Neuland gewinnen konnte, habe die Ostkirche „in ihrer Expansion derjenigen des Staates gedient und ihre Missionstätigkeit zum Hilfsorgan des staatlichen Imperialismus gestaltet“. Daraus zieht ' der Verfasser die Folgerung:

( „Aus dem Gesagten ergibt sich die Berechtigung der Behauptung, daß die Erziehung vieler Generationen im Geiste der einen oder anderen Kirche in der Mentalität ihrer Angehörigen deutliche Spuren hinterlassen mußte. In der Westkirche mußte diese Erziehung ihnen die Ehrfurcht vor der Kirche einprägen, die in ihrem Bewußtsein die höchste auf Erden wirkende Gewalt darsteDt, die den weltlichen Gewalten übergeordnet ist und nach deren Lehre diese die ihnen untertänigen Bürger nicht zur Befolgung staatlicher Gebote zwingen dürfen, die von der Kirche als nicht annehmbar bezeichnet werden; di Ostkirche dagegen erzog ihre Gläubigen selbst zur unbedingten Ächtung 3 er weltlichen Gewalt, der gegenüber sie selbst sich auf dieFunktion eines Verwaltungsorganismus eigener Art b s chränkte, dessen Einschaltung je nach der zeitbedingten Umständen notwendig oder überflüssig sein konnte.“

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