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STREITER FÜR FRIEDEN UND RECHT

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Im hohen Greisenalter von beinahe 100 Jahren ist am 9. Jänner 1966 einer der bedeutendsten, wenn auch nicht konformistischen deutschen Geisteswissenschaftler in Kilchberg bei Zürich dahingegangen: Friedrich Wilhelm Foerster. Nach seinem fast sechs Jahrzehnte währenden Exil in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und den USA, war er im Juni 1963 dank der Hilfe vieler deutscher Freunde nach seiner Wahlheimat, wie er die Schweiz immer wieder bezeichnete, heimgekehrt und hatte damit den Ausgang seines weltweit wirkenden Arbeitsfeldes, Europa, wieder in den Griff bekommen. Die Schweiz, wo Foerster von 1899 bis 19ll an der Technischen Hochschule und der Universität Zürich dozierte, begrüßte diesen Wanderer zwischen den Kontinenten, der als gestaltender, unbeugsamer und trotz aller Gegnerschaft toleranter, pädagogischer und ethischer Verteidiger des Rechts gegenüber jeder Macht- oder Gewaltpolitik die Welt in Erstaunen setzte.

Ein langes, arbeitsreiches, kämpferisches, von großem Leid und manchem Kummer bestimmtes Leben hat sein Ende erreicht, doch seine erhabenen Ideen werden auch heute mehr denn je gehört. Dieser große Sohn eines ebenso bedeutenden Vaters, des ehemaligen Mathematikers und Direktors der Berliner Sternwarte, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Vatikan wegen einer schon damals geplanten Kalenderreform im Gedankenaustausch stand, kannte als — mütterlicherseits — Verwandter des älteren Moltke das deutsche Denken gründlich, das Berliner gesellschaftliche, politische und militärische Denken des unter preußischer Leitung stehenden Deutschlands blieb ihm kein Geheimnis. Unter dem bestimmenden Einfluß seiner aus dem Mecklenburgischen stammenden, künstlerisch veranlagten Mutter beschritt er freilich nicht den Weg zu den Berliner Kasernen, sondern zur Wissenschaft. Als ehemaliger Generalsekretär der Ethischen Bewegung Felix Adlers fand der immer Suchende und Verstehende eine Annäherung an das Christentum nur unter großen Schwierigkeiten, war er doch im Elternhaus in konsequent naturwissenschaftlicher Erziehung ins Leben eingetreten. Sein Vorhaben zur Aussöhnung zwischen Religion und Naturwissenschaft, das er noch 1961 in Angriff zu nehmen gedachte, vermochte Foerster nicht mehr zu verwirklichen, da er das große Vorhaben Johannes’ XXIII. und des Zweiten Vatikanums geistig nicht mehr zu erfassen in der Lage war. Doch eilte er trotzdem einigen Reformbestrebungen der katholischen Kirche voraus: Er war und blieb, gemäß dem Ausspruch eines katholischen Bischofs, ein „Bischof der unsichtbaren Universalkirche”.

Des Heimgegangenen Stellung zum Christentum entstammte sehr wesentlich seinen im Geiste der Objektivität vorgenommenen Studien und Lebenserfahrungen, die er in seinen Bemühungen um einen Frieden zwischen Menschen, Gesellschaftsformen und Staaten gemacht hatte. Einen wesentlichen Anteil an seinem geistigen Schaffen vermittelte ihm neben dem Elsaß und seiner großen kirchlichen Kunsttradition die Schweiz, die als „Völkerbund en miniature” das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Nationen, wenn auch oft unter innerpolitischen Schwierigkeiten, zu ermöglichen schien.

Foerster trachtete in Europa und den USA damach, als Brückenbauer zwischen Völkern und Religionen zu wirken. Unter diesem Gesichtspunkt haben seine Schriften und tausende bedeutender Aufsätze in pädagogischen, ethischen, kulturpolitischen und politischen Zeitschriften und Zeitungen als Propädeutik zum Christentum die Interpretierung erfahren, die sein weitblickender Geist und seine hohe sittliche Lebensauffassung ermöglichten. Mit großem Pathos und in voller Klarheit sah er schon vor Jahrzehnten jene das Christentum bedrohende Gefahren voraus, die im 20. Jahrhundert eine große Entchristlichung der Massen ins Blickfeld aller Verantwortlichen rücken ließ. Ungefähr 50 Jahre vor dem Zweiten Vatikanum erklärte er: „Die meisten Vertreter des deutschen Katholizismus finden… immer noch nicht die Sprache für die Bedürfnisse der dem religiösen Leben entfremdeten Massen, und solange sie diese Sprache nicht gefunden haben, werden sie auch keine richtige Seelsorge ausüben können und den inneren Abfall von der Kirche nur immer mehr verbreiten.” Die Lage der protestantischen und reformierten oder kalvinistischen Kirchen fand in ihm einen noch stärkeren Kritiker, weil in diesen Dominationen der nichtkatholischen Glaubensgemeinschaft nicht mehr jener religiöse Fundus zu finden blieb, der für die Geltung oder Wiedergewinnung der Massen notwendig zu sein ihm vorschwebte.

F. W. Foerster stand nicht zwischen den christlichen Konfessionen, sondern über ihnen. Ihm schwebte seit seiner Tätigkeit als weltweiser Pädagoge und von hohem ethischen Bewußtsein getragener Geisteswissenschaftler die seit Jahrhunderten verlorengegangene Harmonie zwischen Rom, Wittenberg, Genf und Moskau vor Augen. In dieser Nationen und Kontinente überspannenden Arbeit fühlte er sich nicht als „Kirchenlehrer”, wie er einmal sagte, auch sah er seine Vermittleraufgabe nicht darin, Unterricht in Glaubensfragen au erteilen, es sei denn, daß er, wie in Zürich und Genf, darum gebeten wurde. Ob in Deutschland oder in der Schweiz, in Frankreich, England, Italien, Jugoslawien oder Polen: überall fand er Gehör, aber nicht etwa deshalb, weil er für jeden und jedes schmeichelnde Worte wie Honig dahingleiten ließ, sondern weil er wegen seiner unbeugsamen Härte, Charakterfestigkeit und Willensenergie in allen zur absoluten Gewißheit gewordenen christlichen Lebensüberzeugungen großen Eindruck, selbst bei nichtchristlichen Völkern, machte.

Foersters pädagogisches und ethisch-philosophisches Schrifttum ist sein Zeuge, daß es für jede Weltgesellschaft der Nationen aller Kontinente notwendig sei, den Charakter der Menschen, insbesondere jenen der Staatsmänner und ihrer in den Kulissen arbeitenden Mitarbeiter, zu bilden und ihnen einen ungebrochenen Willen zur Wahrhaftigkeit, Wahrheit — was nicht dasselbe ist — und Gerechtigkeit, auf Grund der ihnen vermittelten religiösen Überzeugungen anzuerziehen, der nicht Wille zur Macht, sondern an das Bedürfnis zur gemeinschaftlichen und nicht widersprechenden Arbeit im Dienste des Friedens weltanschaulicher und religiöser wie auch politischer und wirtschaftlicher Fachgruppen sein müßte. Klingt hier nicht Johannes’ XXIII. Enzyklika „Pacem in terris” auf?

In seiner universalistischen, mit der christlich-abendländischen Summe aller Denkkategorien wirkenden Geistesarbeit, die alle menschlichen Beziehungen zusammenfaßte und analysierte, verband er den tieferen Sinn des Christentums mit Freiheit in notwendiger Beschränkung, mit Humanität und Toleranz, denen das Zweite Vatikanum unter entscheidender Mitwirkung amerikanischer „Periti” und Kardinale jene gesellschaftlich und staatspolitisch unabdingbare Substanz neben der akzidentellen Formgebung die Bedeutung wird zukommen lassen müssen, die von der modernen Welt als kategorische Forderung angesichts der technischnaturwissenschaftlich-chemischen Umwälzung erhoben werden.

Wenn sich F. W. Foerster in seiner Pädagogik und Ethik auf diese Disziplinen in unbeugsamer Haltung beschränkte, so wäre es nicht richtig, jedes aus religiöser Überzeugung fließende Aktivum nur als nicht mehr auflösbare Metaphysik zu betrachten, statt iih Religiösen eine Grundlage jeder pädagogischen und ethischen Arbeit auf kulturpolitischem Gebiet zu sehen. Seine christlich definierte Stellungnahme hinderte ihn jedoch nicht, auch im Islam und Buddhismus solche Elemente zu entdecken, die an Hand der Koranvorschriften zum Beispiel einen Vergleich mit den sittlichen Grundsätzen der Lehre Christi erlauben, und jenes abendländische Bild zu vermitteln, das vor 500 Jahren der nunmehr von Karl Jaspers gewürdigte große Kardinal Nikolaus von Cues bereits anläßlich seiner Reise nach Konstantinopel durch Zusammenarbeit mit mohammedanischen Würdenträgern zu zeichnen gedachte.

Foerster stellte noch 1960 fest, daß „die gegenwärtige kirchliche Pädagogik, im Gegensatz zu etwa der kirchlichen Praxis der ersten christlichen Jahrhunderte und zum Teil auch des Aufklärungszeitalters, trotz vielen redlichen Bemühungen dennoch in der psychologischen Behandlung ihrer Aufgabe und in der entsprechenden pädagogischen Kunst der Darbietung und Deutung ihrer Traditionen ganz erschreckend zurück lwibt. Der Grund dafür; liegt nicht “in einem Mangel an Verantwortungsgefühl aui Seiten kirchHcHer Krėise, sondern in der ungeheuren seelischen Entfremdung, die seit langem religiös entwurzelte Kreise abgrundtief von denjenigen Volksschichten trennt, die im Schutz gesicherter Traditionen aufwuchsen. Beide Gruppen sind einander durch wahrhaft babylonische Sprachwirrung ferngerückt: Was dem einen heilig ist, das gilt dem anderen als pathologisch. Der kirchliche Mensch hat keine Ahnung davon, in welchem Maße dem .modern’ aufgewachsenen Menschen alle Voraussetzungen fehlen, um die Wirklichkeit zu erfassen, die sich hinter den christlichen Dogmen und Berichten verbirgt. Je mehr nun aber der moderne Geist die ganze Atmosphäre der abendländisch-technisch-wissenschaftlichen Zivilisation durchdringt, die Schulen beherrscht, die Universitäten in seinem Bann hält, die Lehrerschaften erobert, desto mehr wird auch die in gläubigen Familien aufwachsende Jugend von diesem Geist durchsetzt und zersetzt werden und wird einer ganz anderen religiösen Seelenführung und Geistesführung bedürfen, als es diejenige ist, die bisher als unzulänglich befunden wurde.”

Die geistige Machtsphäre im Menschen bildete für den Heimgegangenen das entscheidende Faktum allen Wirkens, Duldens und auch Unterlassen . Den Ausspruch Dantes: „Nicht die Natur ist ruchlos und verdorben, nur schlechte Führung hat die Welt verdüstert”, zugrunde legend, entwickelte er einen Begriff der christlichen Erbsündenlehre, der Aufsehen, Widerspruch, aber auch Anerkennung hervorrief. Dem großen Ethiker ist die Erbsünde nicht etwa nur in der sexbewegten Natur begründet. Vielmehr offenbart die Triebwelt ihr Vorhandensein in einer „geheimnisvollen, in den tiefsten Tiefen der Seele gelagerten Neigung, den Trieben im Gesamtleben des Menschen den Primat zuzuerkennen, statt diesen das Gesetz des Geistes aufzuprägen”.

Bereits vor 50 Jahren hatte sich der Pädagoge mit strafrechtlichen und strafprozessualen Fragen in die Arena der öffentlichen StrafrechtSdiskussionen hineiribegeben. Zwar wurde ihm von einem Teil der deutschen Juristen entgegengehalten, er überziehe seine Kompetenzen, doch ein anderer Teil der Fachgelehrten billigte ihm als Ethiker das Mit- spracherecht zu. Sein 19ll erstmals erschienenes Werk „Schuld und Strafe. Grundfragen des Verbrecherproblems und Jugendfürsorge”, 1961 in vierter Auflage erschienen, fordert für den Deliquenten „Bewährungshilfe”, ohne jedoch die Strafe zu erlassen. In der Bundesrepublik Deutschland ist angesichts der „Großen Strafrechtsreform” die Diskussion erneut in Gang gekommen. Zwei Richtungen stehen einander gegenüber: jene der „defense sociale”, die durch präventive Maßnahmen die gesellschaftlich-staatliche Ordnung durch Absicherung neuer Verbrechen, nicht aber durch Schulduntersuchung und Strafe, geschützt sehen will. Die zweite Richtung hält an der bisherigen Strafrechtswissenschaft fest. Ihr liegt die Auffassung zugrunde, daß die strafrechtlichen Normen von den Ideen der Freiheit und Verantwortlichkeit, der Schuld und Sühne getragen bleiben müssen.

Diese These stand seit dem Beginn der pädagogischen und ethischen geisteswissenschaftlichen Arbeit Foersters. Die Entwicklung der Welt brachte im 20. Jahrhundert eine völlige Anerkennung der Foersterschen „Strafrechtsschule”. Dem Verblichenen schwebte jener ethische Realismus vor Augen, der den pädagogischen Naturalismus in die Schranken forderte, der weiterhin in der christlichen Theologie deshalb erleuchtete Biologie erkannte, weil erst in der Theologie das Biologische und mit diesem das Deliquententum erfaßt werden könne. In der biologisch-theologischen Deutung des Menschen in seiner gegen Recht und Gesetz verstoßenden Handlungsweise ist die Foerstersche, vor 50 Jahren in einer strengen wissenschaftlichen Analyse vorgenommene Schuld- und-Strafe-Problematik in einer Weise vorgenommen worden, die beste Anerkennung und Berücksichtigung fand.

Seit seiner Exilzeit ist der Ethiker mit dem Politiker Foerster in eine Zwiesprache getreten, die nicht ohne erkennbare Widersprüche vor sich ging. Unter dem Einfluß mancher Freunde ging er dazu über, nicht mehr von der Alleinschuld Deutschlands am ersten Weltkrieg, sondern von der deutschnationalen Mitschuld an dem Völkermorden zu sprechen.

Als der Verblichene seinen 90. Geburtstag beging, erreichten ihn zahlreiche Glückwünsche: Der evangelische Bischof von Berlin, Dr. Dibelius, Papst Pius XII., der Oberbürgermeister von New York, Robert Wagner, Albert Einstein, Martin Buber und zahlreiche andere brachten dem Greis ihre Huldigung dar. Die Universität München übermittelte ihm durch ihre philosophisch Fakultät folgendes Bekenntnis: „Vor nunmehr bald zwei Menschenaltern sind Sie ein Mitglied unserer Fakultät geworden, in einer Zeit, die in .manchem für die Gedanken, die Sie damals und später vertraten, noch nicht reif war. Die unruhigen Jahrzehnte, die seitdem über unsere Welt dahingegangen sind, haben den Gedanken des Machtstaates gründlich entwertet, und wenn heute das Problem der Friedenssicherung im Vordergrund des politischen Bemühens steht, so ist das nicht zuletzt auch das Ergebnis der Lebensarbeit von Männern wie Ihnen.”

Diese akedemische Würdigung seitens der Münchner Universität war für den Verstorbenen deshalb die größte Rehabilitation, weil gerade von dieser Universität das Kesseltreiben gegen ihn ausgegangen war…

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