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Ernst Freiherr von Feuchtersieben

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„Man wird zu allem geboren; warum nidit auch zum Reinmenschlichen?“ Dieses Wort, Bekenntnis und Forderung zugleich, ist der ScWü-sel zum Wesen und Werk eines Mannes, dessen Bedeutung mehr als-in der Universalität seines Geistes und der Größe seines Werkes in der Symbolhaftigkeit seiner Person zu suchen ist. Ernst von Feuchtersieben ist der charakteristische Vertreter der öster-eichischen Geistigkeit des beginnenden 19. Jahrhunderts. Sein Leben, eingebettet Zwischen den napoleonischen Kriegen und den großen politischen und geistigen Umschichtungen in der Mitte des Jahrhunderts, ist ausgefüllt mit der Problematik seiner Zeit, die er nicht nur sorgfältig reflektiert, sondern auch in ruhefoser Tätigkeit zu meistern versucht hat. An der schier unüberbrückbaren Divergenz zwischen den idealen Forderungen seines Gemütes und der rauhen Wirklichkeit des öffentlichen Lebens mu'te auch dieser feinsinnige Mann scheitern, der als Arzt, Philosoph und Dichter dem großen Rätsel „Mensch“ nahezukommen suchte. Niemand hat das Geheimnis seines Leidens und Sterbens tiefer verstanden als Grillparzer, der nach dem Tode Feuehterslebens' schrieb: „Er ist vom Geiste aus gestorben.“

Die ersten Eindrücke empfing der junge Feudrersleben an der Wiener TSeresiani-schen Akademie, wo er sich auch die gediegenen Grundlagen seiner universalen Bildung erworben hat. „Rom und Griechenland, das waren die ersten feierlichen Gefühle meines Lebens“, schrieb er in sein Tagebuch, dessen Führung frühe Neigung zur Reflexion und kritischen Selbstbeobachtung verrät. Schon die Betreibung der eigenen Studien weist auf sein Bildungsideal hin, das verwirklichen zu helfen er später in der großen österreichischen Unterrichtsreform berufen sein sollte. Mit dem Ziel, die psychische und physische Existenz des Menschen zu erforschen, vertiefte er sich in gleicher Weise in humanistische und realistische Fächer. Wohl fühlte er sich bald durch die Enge des Internatsbetriebes bedrückt, aber auch hier fand er jene Formel, die seinem ungebärdigen Freiheitsdrang die Zügel der Vernunft anlegen sollte: „Nur aus dem Wiederstreben geht Dasein hervor.“

Früh. begann er, seelische Vorgänge an sich selbst zu beobachten. Er begründete diese eigenartige Selbstkontrolle mit dem Wunsch, alle seelischen Regungen ins Bewußtsein dringen zu lassen, um so zu ei.er Klarheit über sich und über die Menschheit überhaupt kommen zu können. Diese empirische Methode hat Feuditersleben nicht nur bei seinen eigenen philosophischen Erwägungen und medizinischen Forschungen beibehalten, sondern sie darüber hinaus als neuen Faktor in die medizinische Diagnostik eingeführt. Mit Ferchtersleben endigt die alte Wiener medizinische Schule eines van Swieten, Stoll und Peter Frank und beginnt jene neue Rokitanskys und Skodas.

Trotz des Selbstmords seines Vaters, der ihn seelisch zutiefst erschüttert hatte, und des Verlustes seines ganzen Vermögens blieb der junge Arzt der gleiche ungebrochene und unermüdliche Idealist. In dieser Zeit erschienen die ersten inhaltsschweren und formschönen Gedidite Feuch.terslebens in verschiedenen Wiener Zeitschriften und seine Literatur- und Kunstkritiken wurden viel gelesen. Er bekam Anschluß zur Schubert-Runde und lernte Griillparzer kennen, mit dem ihn bald eine innige Freundschaft verband. Aber auch auf dem Gebiet der Medizin konnte er sich bald einen Namen machen. Sein vorwärtsdrängender Geist begann an dem morschen Bau der alten Methodik zu rütteln. In einer Zeit, die, noch in mystischen Vorstellungen vom Eigenleben der Krankheit befangen, rein intuitiv diagnostizierte, fing Feuchtersieben an, eine lehrbare, auf exaktem empirischem Wissen fußende Unt.Tvuehungstechn-ik auszubauen, die den Einblick in den Krankheitsvorgang fordert. „Der Arzt erkenne, daß die Theorie nicht die Wurzel, sondern die Blüte der Praxis ist“; ein revolutionärer Satz zu einer Zeit, da die gesamte medizinische Methodik in eine Sackgasse zu führen drohte. Wie sehr Feuchtersieben auch immer über das Gegebene hinausstrebte, er tat es stets, ohne mit d?n überkommenen Werten gänzlich zu brechen. Sein Bestreben, anscheinende Gegensätze in einer höheren Einheit zu versöhnen, machte ihn zum wahren Reformator und ließ ihn den Revolutionär überwinden, der erst niederreißen muß, um Neues bauen zu können.

1838 erschien das Werk „Zur Diätetik der Seele“. Wie Goethe, Feuchterslebens Abgott und stetes Vorbild, verbindet der Dichter die Erfahrungen seines Lebens mit der überzeugenden Kraft einer sittlichen Idee. Über die Selbstüberwindung führt er die kleinmütige Seele zu neuer Lebensfreude in der Hingabe an die Gesamtheit, die ihm höchste sitoliche Kraft bedeutet. Nicht zu Unrecht wird dieses Buch das Hohelied auf die Heilkraft des Willens genannt. Das Gleichgewicht des Gemütes und die harmonische Entfaltung aller geistigen und körperlichen Anlagen erscheinen ihm, ähnlich Goethe, als das erstrebenswerte Ziel einer wahren Bildung des Herzens.

1840 wurde Feuchtersieben Sekretär der Gesellschaft der Wiener Ärzte, deren Leitung und Organisation bald ganz auf ihn überging. Immer mehr wandte er s'.ch nun der Psychiatrie zu. Seine langjährigen Selbstbeobachtungen, seine am intensiven Studium der Logik und Erkenntnistheorie geschulte Denkmethode und nicht zuletzt das tiefe psychologische Ahnungsvermögen des Dichters drängten ihn mit zwingender Notwendigkeit in diese R'Jiturg. Schon aus seinen Gedichten und vor allem in unzähligen Aphorismen erkennt man sein “ändiges Bemühen, ales Seelische bis zu den letzten Tiefen zu analysieren. In der damaligen Wiener medizinischen Schule klaffte eine empfindliche Lücke: in Wien gab es keinen Lehrstuhl für Psychiatrie, ja die Stadt besaß nicht einmal eine Irrenanstalt. Es ist das unschätzbare Verdienst Feuehterslebens, der 1844 als erster an der Wiener Universität Vorlesungen über „Arztliche Seolenkunde“ aufnahm, mitten im krassen Realismus seiner Zeit den Gedanken einer psydiischen Therapie geboren und der Psychopathologie, die seit damals die Zierde der Wiener Schule blieb, in Wien eine dauernde Heimstätte begründet zu haben. 1845 erschien als Niederschlag seiner Vorlesungen das „Lehrbuch der ärztlichen Seelenkun Je“, das erste umfassende Werk über medizinische Psychologie und Psychiatrie, welches in Österreich veröffentlicht wurde. Wegen seiner vorzüglichen Methode wurde dieses Werk bald in Frankreich, Englan:', Rußland und Holland als Lehrbuch eingeführt. 1845 wurde Feuch-ters'-ben Dekan der medizinischen Fakultät und begann sofort eine umfassende Reform des medizinischen Studiums durchzuführen, die er später als Vizedirektor der medizi-nisch-chirurgisdten Studien zu Ende führte.

Es kam das Jahr 1848. Nun erwies es sich, daß Feuchtersieben zwar ein großer Reformator, aber kein Revolutionär war. Seine Schul reformpläne, die er einmal im Mai 1847 in einer großen Rede an der Universität entworfen hatte, und sein energisches Eintreten für die Lehr- und Lernfreiheit hatte ihm gar bald den Ruf eines revolutionären Geistes eingebracht. Im Juli 1848 wurde ihm das Unterrichtsministerium angeboten und Feuditersleben lehnte ab. Trotzdem verblieb er als Unterstaatssekretär im Ministerium, und die grundlegenden Gedanken der mit den Namen Doblhoff, Helfen und Graf Thun verbundenen österreichisdien Unterrichtsrefonn gehen auf ihn zurück.Seine alte Idee der Versöhnung von Humanismus und Realismus fand nun ihre Verwirklichung. Die innere Struktur der österreichischen Schulen von den Elementar- bis zu den Hochschulen kann man noch heute auf die Feuchfersleben-Reform zurückfüh. ren. Die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Fächer in den Gymnasiallehrstoff ist ebenso sein Werk wie die Erweiterung des Gymnasiums um zwei philosophische Jahrgänge, die zum Universitätsbetrieb überführen sollen. Was Feuchtersieben auf der geistigen F.bene immer so leicht bezwingen konnte, dem zeigte er sich auf der menschlichen nicht gewachsen. Auf eine so verantwortliche Stelle zu einer Zeit berufen, da jede Bitte zur Sturmpetition wurde und jede Ablehnung einem Aufstand gleichkam, mußte sein diplomatisch wenig wendiger, offener und wahrhafter Charakter in immer größere äußere und innere Konflikte geraten. Wie oft hat er in diesen stürmischen Tagen seinen Überzeugungen untreu werden und seine höchsten Ideale nach den Windrichtungen der von einem Extrem ins andere umschlagenden „öffentlichen Meinung“ wenden müssen! Wieder hat Grillparzer das tiefste Verständnis für die unerträgliche Lage Feuehterslebens gefunden: „Er wäre für ruhige Zeiten der bestdenkbare Unterrichtsminister gewesen. Hier aber kam er mit etwas in Konflikt, was seiner Natur rein entgegengesetzt war: mit der Rohheit.“

Nach reiflicher Überlegimg reichte er noch im Herbst des Revolutionsjahres seine De-m:ss:on ein. Als er nun auf seine alte Stelle als Vizedirektor der medizinischen Studien zurückkehren wollte, um seine ganze Arbeitskraft wieder der Reform der Medizin zu widmen, protestierte die neiderfüllte und den modernen Gedanken des weitblickenden Reformators abgeneigte Lehrerschaft gegen seinen Wiedereintritt. Zutiefst gekränkt und verbittert, zog sich Feuditersleben in das Privatleben zurück, wo er bald, melancholisch umdüstert, an einer merkwürdigen Nervenkrankheit dahinzusiechen begann.

Obwohl einige Gedichte Feuehterslebens, wie z. B. das von Mendelssohn vertonte „Es ist bestimmt in Gottes Rat. . .“, nodi heute zum lebendigen Schatz deutscher Lyrik gehören, so fehlt doch vielen seiner Balladen und Lieder „der treibende Nerv“. In ihnen tritt der intellektuelle und allgemein-menschliche Gehalt stärker hervor 'als der rein dichterische. Daher gehören auch seine Aphorismen, die in ihrer feinen Geschliffenheit oft an Goethe gemahnen, zum Wertvollsten, was er an rein Literarischem hervorgebracht hat. Auch seine Kritiken, zusammengefaßt in den „Beiträgen zur Literatur, Kunst und Lebenstheorie“, wurden mehr aus dem Intellekt als aus einem ausgeprägten Formgefühl niedergeschrieben. Trotzdem sind zum Beispie! seine Reproduktionen von Gemälden und Bildwerken eine noch heute ungemein anregende und wertvolle Lektüre. Als Plr'osoph hat er sich in seinem Meisterwerk „Diätetik der Seele“, das lange Zeit in jeder Hausbibliothek zu finden war, ein bleibendes Denkmal gesetzt. Seine reiche Tätigkeit als Dichter, Kritiker, Philosoph, Arzt und Staatsmann lassen vor uns einen universalen Geist erstehen, wie wir ihn bei der modernen Spe7.ial:siening der geistigen Gebiete nur selten finden. In seinem Streben nach Bildung im Sinne einer Erweiterung und harmonischen Durchdringung aller Fähigkeiten ist er seinem Ideal Goethe im Bereiche seiner Begabung nahegekommen und, ähnlich Grillparzer, zog er sich bald enttäuscht aus der Welt zurück. Seine letzten Worte zeigen die gläubige und bereite Abgeklärcheit dieses einst so impulsiven und tatenfreudigen Geistes: „Ich gehe fort auf einen anderen Stern, auf einen helleren!“

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