6696218-1963_08_09.jpg
Digital In Arbeit

DER GROSSE EINZELGÄNGER

Werbung
Werbung
Werbung

Als Hermann Hesse vor etwa 40 Jahren von seinem Verleger ■ aufgefordert wurde, eine Auswahl seiner Werke vorzubereiten und sich darüber zu äußern, nach welchen Gesichtspunkten sie vorgenommen werden sollte, kam es zwar nicht zur Ausführung dieses Planes, aber der Dichter schrieb eine Vorrede, die uns einige wertvolle Hinweise für die Deutung seines Wesens und Schaffens gibt. In dieser Vorrede heißt es unter anderem: „Alle diese Erzählungen handeln von mir selbst, spiegeln meinen eigenen Weg, meine heimlichen Träume und Wünsche, meine eigenen bitteren Nöte. Auch solche Bücher, in denen ich einst, als ich sie schrieb, mit bestem Glauben fremde, außenstehende Schicksale und Konflikte darzustellen gemeint hatte, auch sie sangen dasselbe Lied, atmeten dieselbe Luft, deuteten am selben Schicksal, am meimgen.“ Und in der Tat sind Hesses Werke — mehr als die eines »nderen zeitgenössischen Schriftstellers — Bruchstücke einer großen Konfession. Ob die narzißtische Anlage des jungen Hesse oder der Einfluß der pietistischen Umwelt entscheidend waren, ist eine sekundäre Frage. Etwa bis zur Zeit des ersten Weltkrieges sind beide Faktoren etwa gleich mächtig. Dann mögen andere Geistes- und Bildungsmächte, Erlebnisse und Erfahrungen sein Werk bestimmt haben. In seiner Grundhaltung blieb es unverändert.

Tritt man vor dem einzelnen Werk Hesses einige Schritte zurück und versucht, das Gemeinsame, die Familienzüge seiner „Helden“ zu erkennen, gelingt es ferner, auch die geistige Gestalt des Dichters aus einiger Distanz zu schauen, so hat man vor sich: das Werk und die Person eines Einzelgängers, eines Eigenbrötlers, eines Eigensinnigen. Nicht zufällig hat der Dichter in eigener Sache das Lob des Eigensinnes gesungen:

„Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. Von all den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören, kann ich nicht viel halten. Und doch könnte man all die vielen Tugenden, die der Mensch sich aus irgendeinem ornamentalen Bedürfnis heraus erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen, Tugend ist Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ,Sinn' des .Eigenen'.“

Dieser Eigensinn verbindet alle Gestalten Hesses zu einer brüderlichen Sippe, vom Hermann Lauscher und dem Peter Camenzind über Harry, den Steppenwolf, bis zur Sozietät der Morgenlandfahrer und Glasperlenspieler. Bei diesen letzteren hat sich nur der äußere Raum erweitert, so etwa wie die Faust-Sphäre vom einsam hallenden ersten Monolog zur vielfach gegliederten und bunten Welt des zweiten Teiles wird oder wie die lyrischen Motive des jungen Hofmannsthal in seinen letzten Werken in einen reichornamentierten Teppich des Lebens, in ein Theatrum mundi, verwoben sind. Aber auch sie sind einzelne Helden Hesses sind Einzelne und Einzelgänger.

Dies Eigenwillige, Schwierige und Widerspenstige blickt uns zum erstenmal aus den Aufzeichnungen der Mutter an, die über den Zweijährigen berichtet, nachdem er sich durch gewaltsame

Bewegungen den Arm gebrochen hat. „Gottlob! Es ging gut vorüber; doch war es eine schwere Zeit und harte Schule, den unglaublich lebhaften und verwegenen Jungen zu hüten.“ Und über den Dreijährigen: „Entwickelt sich sehr rasch, erkennt alle Bilder sofort, ob sie aus China, Afrika oder Indien, und ist sehr klug und unterhaltend; aber sein Eigensinn und Trotz sind oft geradezu großartig.“ Man glaubt, wenn man diese Zeilen liest, daß von einem Knaben, einem Halbwüchsigen, die Rede ist. Aber dieser sollte es seinen Eltern und allen, die für ihn zu sorgen hatten, noch viel schwerer machen.

Das Milieu, in dem der Knabe und Jüngling aufwuchs, war geeignet, den Gegensatz zwischen Innen und Außen noch zu verschärfen. So kommt es bei Hesse zu einem immer stärker werdenden Abkapseln gegen die Außenwelt und zu einem immer entschiedeneren Sichzurückziehen auf sich selbst. In dieser Zeit liegen die Wurzeln jener zahlreichen Verdrängungen, die schon in frühen Werken, besonders heftig aber im „Demian“ und im „Steppenwolf“ hervorbrechen. Seine schwere und verschattete Jugend hat nicht aufgehört, den Dichter und Menschen Hesse zu beschäftigen. Es hätte der literarischen Tradition des deutschen Entwicklungs- und Erziehungsromans nicht bedurft, den Dichter Hesse zu veranlassen, sich immer und immer wieder mit seiner eigenen Jugend, ihren Nöten und Kämpfen zu befassen. Wie in einen tiefen Brunnen taucht der Dichter in jene Flut von Verstrickungen, Phantasien, Gewissensangst und Not — und reicht auch uns den Wunderkrug, der die Gabe der Erinnerung verleiht und uns mitleiden macht und teilnehmen läßt an den Wundern und Schmerzen der Kindheit.

In diesem dunklen Brunnen entspringen auch zwei Quellen, die das gesamte Lebenswerk Hesses durchströmen. Sie verleihen ' ihm seinen eigenen bittersüßen Reiz — für manche — und machen es, so man die Frage nach seiner inneren Gesundheit und Lebenstüchtigkeit stellt, fragwürdig — für die vielen. Hesse begann seine literarische Laufbahn, wenn wir von den frühen Gedichten absehen, mit zwei kleinen Studien: über Franz von Assisi und Boccaccio. Diese beiden Gestalten vermochte der Jüngling mit dem gleichen Verständnis, der gleichen Sympathie zu erfassen. Der Heilige und der Weltliche, Himmlisches und sehr Irdisches, Askese und Dionysisches — zwischen diesen Extremen wird sich von nun ab das Leben und das Werk des Dichters bewegen. Bald wird die eine, bald die andere Dominante stärker erklingen. Häufiger jedoch wird er versuchen — Spiegelbild des eigenen Inneren —, in einer einzigen Gestalt diese Gegensätze zu verkörpern. Sinclair und Demian, Klein und Wagner, Narziß und Goldmund, der Morgenland-fahrer und sein Bundesbruder Leo — sie alle stellen ja eine Hälfte jener einen Person dar, die aus so disparaten Elementen zusammengesetzt ist, daß sie sich spalten m.uß. Auch hier begünstigen äußere Umstände die Ausprägung einer Anlage des Menschen Hermann Hesse.

Hugo Ball, der Freund des Dichters, bezeugt, daß in Schwaben der Gegensatz von Glaube und Wissen, von Gesetz und Evangelium seit jeher heimisch war, und er spricht geradezu von einer „Stiftler-Neurose“ von Maulbronn, wo Hesse einige Zeit geweilt hat — einer Neurose, der Hölderlin, Waiblinger und Mörike gleichermaßen erlegen sind. Es sind jene bis zur Weißglut erhitzten Gegensätze zwischen Pietismus und Rationalismus, zwischen Entwicklungsphilosophie und protestantischer Orthodoxie, „eine Neurose, die teils mit der aufreizenden Lebenslust der klassischen Studien, teils mit jener tyrannischen Bußstimmung zusammenhängt, die dem mißtrauisch forschenden Studiosus von Staats wegen nahegebracht wird“. Und weiter: „Da aber Hesse die Quintessenz der Romantik zieht und seine Familie ebenso die Quintessenz der schwäbischen Frömmigkeit, erreicht die Stiftler-Neurose bei ihm eine Heftigkeit, die die seiner Vorgänger um einige Siedegrade überbietet.“

Dieser Dualismus erreicht im „Steppenwolf“, 1927, einen Höhepunkt und führt zur vollständigen Auflösung und Zerstörung des Ichs. Er ist versöhnlicher gestaltet in „Narziß und Goldmund“, wo in dem letzten Gespräch zwischen den beiden so verschiedenartigen Freunden zwar die Gegensätze bestehen bleiben, aber doch so etwas wie eine Verständigung, ein gegenseitiges Sichgeltenlassen dargestellt wird. Und der Dichter erstrebt eine Synthese — die zugleich allerdings auch einem leichten Abbiegen von der Linie und Ausweichen vor der letzten Entscheidung gleichkommt — in der „Morgenlandfahrt“.

Dies Werk scheint uns wie kein früheres in den innersten Kern des Menschen und Dichters Hesse zu führen. Die Fahrt nach dem Morgenland der Seele ist eine Vorstellung, die zuerst bei Jakob Böhme auftaucht und bei den Romantikern, insbesondere bei Novalis, von besonderer Bedeutung ist. Der Dichter tritt sie „unmittelbar'nach dem Ende des großen Krieges“ an, da das Land voll war „von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches“, als das Volk zugänglich war „manchen Hirngespinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele; es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen, es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder hinzuweisen schien; auch eine Hinneigung zu indischen, altpersischen und anderen östlichen Geheimnissen und Kulturen war damals weitverbreitet, und.all dies hat dazu geführt, daß auch unser Bund, der uralte, den meisten als eines der vielen hastig aufgeblühten Modegewächse erschien und daß er nach einigen Jahren mit ihnen teils in Vergessenheit, teils in Verachtung und Verruf geraten ist“.

Als das Ziel der Reise aber erkennt er:

„Wohl hatte ich mich einer Pilgerfahrt nach dem Morgenlande angeschlossen, einer bestimmten und einmaligen Pilger-fahrt allem Anschein nach — aber in Wirklichkeit, im höheren und eigentlichen Sinn — war dieser Zug zum Morgeii-lande nicht bloß der einzige und nicht bloß dieser gegenwärtige, sondern es strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts, unaufhörlich und ewig, er war immerdar durch alle Jahrhunderte unterwegs, dem Lichte und dem Wunder entgegen, und jeder von uns Brüdern, jede unserer Gruppen, ja unser ganzes Heer und seine große Heerfahrt war nur eine Welle im ewigen Strom der Seelen, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Strahl, und zugleich erwachte in meinem Herzen ein Wort, das ich während meines Novizenjahres gelernt und das mir immer wunderbar Wohlgefallen hatte, ohne daß ich es doch eigentlich verstanden hätte, das Wort des Dichters Novalis: Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“

Dies Wort hat bei Hesse einen doppelten Sinn: kehrt doch auch er mit der ..Morgenlandfahrt“ in eine heimatliche Sphäre zurück, in jene Welt, der seine Mutter entstammte und die auch in seinem Elternhaus lebendig und spürbar war. Die Reise der Morgenlandfahrer geht nicht nur durch Räume, sondern auch durch Zeiten; zu den Bundesbrüdern gesellen sich Gestalten alter und neuer Dichter: Almansor und Parzival, Witiko und Goldmund und Sancho Pansa. Die Morgenlandfahrer genießen das Glück der Träumenden, Außen und Innen spielend zu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben. Der Musikant und Morgenlandfahrer H. H, wie er in den Bundesregistern bezeichnet wird, hat einen Gegenspieler, der zugleich auch sein „besseres Ich“ — und das aller anderen Bundesbürger - verkörpert: Leo. Nachdem H. H. das Bundesgesetz verletzt hatte, ausgestoßen war und wieder in den Bund aufgenommen werden soll, wird ihm als Sühne auferlegt, das Archiv des Bundes über sich selbst zu befragen und damit das Wesen, das Geheimnis seiner eigenen Existenz zu erfahren, nämlich das Bipolare seiner Natur.

Der zweite Komplex, der dem Werk Hesses das Gepräge gibt, ist sein Verhältnis zur Mutter und Frau (Eva-Maria). Es hat seine tiefste Wurzel ebenfalls in einem Jugenderlebnis, und zwar in der unerwiderten Liebe zu seiner Mutter. Mit siebzehn Jahren bekehrt, lebte Hesses Mutter — nach dem Zeugnis des Freundes Hugo Ball — in einer unberührbaren, unbetretbaren Sphäre religiöser Inbrunst. Ihre Liebe galt Gott, dem Unbedingten — nicht ihren Kindern, über die sie ein kühles, fast unpersönliches Tagebuch führt. Wir wissen nicht, ob der Knabe, der Jüngling jemals den Versuch gemacht hat, ein Gefühl der Gegenliebe hervorzurufen, zu entzünden, oder ob er, von der Aussichtslosigkeit eines solchen Versuches überzeugt, frühzeitig resignierte. Die Vehemenz, mit der im „Demian“ (nachdem sich der Dichter von Juni 1916 bis November 1917 in die Behandlung eines psychoanalytisch geschulten Arztes begeben hatte und in etwa 60 Sitzungen mit dessen Hilfe bestrebt war, Ordnung in sein Inneres zu bringen) das Kindheitserlebnis durchbricht, lassen uns die erste Frage verneinen und auf einen verdrängten Komplex schließen. In diesem Werk — und das ist nicht nur dem Auge des Seelenarztes erkennbar — befreit sich der Dichter von einer Welt, von einer Last, die er viele Jahre in sich getragen und verschwiegen. In so kurzer Zeit ist dieses Buch niedergeschrieben worden, von so langer Hand her war es innerlich vorbereitet und ausgetragen. Seine eigentümliche Atmosphäre hat dies Werk nicht nur von den persönlichen Erlebnissen des Dichters empfangen, sondern zugleich auch von einer anarchischen Zeit, als „Freiheit“ in der Kunst auch Freiheit von nllen seelischen Banden und Hemmungen bedeutete und das Chaos bedenklich gegen jene immer dünner werdende Schutzhüllen brandete, die den Seelenkern des abendländischen Menschen umgaben.

Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter (1904) heiratet der Dichter die um neun Jahre ältere Maria B.. läßt sich in dem entlegenen Gaienhofen am Bodensee nieder und versucht, „ein natürliches, fleißiges und der Natur nahes Leben zu führen“. In dem kurzgefaßten Lebenslauf schreibt Hesse über diese Zeit:

„Jetzt also war unter so vielen Stürmen und Opfern mein Ziel erreicht: Ich war, so unmöglich es geschienen hatte, doch ein Dichter geworden und hatte, wie es schien, den langen, zähen Kampf mit der Welt gewonnen. Die Bitternis der Schul- und Werdejahre, in der ich oft sehr nahe am Untergang gewesen war, wurde nun vergessen und belächelt — auch die Angehörigen und Freunde, die bisher an mir verzweifelt waren, lächelten mir jetzt freundlich zu. Ich hatte gesiegt. Mein äußeres Leben verlief nun eine ganze Weile ruhig und angenehm. Ich hatte Frau, Kinder, Haus und Garten. Ich schrieb meine Bücher, ich galt für einen liebenswürdigen Dichter und lebte mit der Welt in Frieden . . . Alles schien in Ordnung zu sein.“

Aber diese neue Lebensform bringt keine Lösung. Im eigenen Haus haust er in einem Turmzimmer wie ein flüchtiger Gast. Überaus bezeichnend für die Stimmung jener Zeit ist die Skizze „Wenn es Abend wird“ (1904). Der Dichter sitzt unter der verhängten Messinglampe, ein Glas MeeTsburger vor sich. Im Nebenzimmer beginnt die Frau, leise Klavier zu spielen, Schumann, dann Chopin: „Wundersam geschlungene, elegante Figuren, und die Akkorde erregend wie verzerrt, Harmonie und Dissonanz nicht mehr zu unterscheiden. Alles auf der Grenze, alles ungewiß, nachtwandlerisch taumelnd, und mitten hindurch mit dünnem Fluß eine süße, milde, kinderselig reine Melodie,

Chopin.“ - .!ü,^t flj, )M {,XÄ;yj

Und der Freund Hugo Ball sagt, man könne für Chopin auch Hesse lesen: dieselbe Sehnsucht nach Festen und Dolchen; dieselbe Trauer, über dunkle beglänzte Wasser gebeugt, dasselbe Sichverschuldetfühlen und Hinwegverlangen: Die alte Hesse-Welt taucht auf mitten im Philisterland. Und da ist er auch wieder, der großäugige Traum, und das Suchen beginnt, zurück zum Anfang und zu jenem Punkt, mit dem alles Leid und Lied begonnen: zurück zur Mutter. Diese Stimmungen und Stimmen werden immer dringlicher; es ist nichts mit der bürgerlichen Ruhe und Behaglichkeit, der ewige Wanderer Knulp und der Steppenwolf (als Motiv zum erstenmal in der Gaienhofener Erzählung vom „Wolf“ angeschlagen) beginnen sich zu regen.

Ähnlich wie das Verhältnis zur Mutter gestaltete sich - nur auf einer anderen Ebene — das zum Vater und hatte ähnliche Folgen. Hesse hat es am reifsten in „Siddharta“ dargestellt. Dies Werk ist sowohl, was den äußeren Rahmen als auch was seinen innersten Kern und Gehalt betrifft, der väterlichen Welt verpflichtet. Neben dem indischen Lexikon des Großvaters und dessen Malajalam-Liederbuch waren es die wissenschaftlichen

Arbeiten des Vaters, des Missionars Johannes Hesse, die den Sohn wiederholt und nachdrücklich auf die östliche Welt verwiesen. Sosehr im „Demian“ die Welt des Vaters fehlte, so intensiv ist sie in „Siddharta“ gegenwärtig. Die drakonische, selbstgerechte Strenge des Vaters läßt den Dichter sich gegen jede Art Erziehung, gegen jeden Führungs- und Beeinflussungsversuch aufbäumen. Nur noch die Selbsterziehung kann er gelten lassen. Daß sie auf sehr absonderlichen Bahnen vor sich geht, nimmt nicht wunder, wenn man die tieferen Gründe erfaßt hat. Der junge Siddharta — Hesse verläßt das Vaterhaus, von keinem stärkeren Wunsche beseelt, als die Erstarrung zu durchbrechen. Nicht einmal dem Buddha will er nachfolgen, sondern begibt sich in die Schule eines Kaufmanns und einer Kurtisane — wie später ähnlich Harry, der Steppenwolf, bei einer Tänzerin und einem Saxophonbläser in die Lehre geht. „Siddharta“ bedeutet die endgültige Loslösung von der väterlichen Erziehung, von der Welt des Vaters — in der doppelten und schwerwiegenden Bedeutung des Wortes — eine Absage an das Geset?, an Staat und Schule, an Klassen- und Konfessionsgrenzen. Er schlägt zugleich eine Brücke zwischen Ost und West, eine Brücke freilich, so hoch und zart, daß sie dem Zugriff der Zerstörung zwar auf immer entzogen, aber wohl nicht für viele beschreitbar ist.

Sein letztes Wort sprach Hermann Hesse, der große Einzelgänger, in dem vor genau 20 Jahren erschienenen zweibändigen Alterswerk, „Das Glasperlenspiel“, mit dem Untertitel „Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften“. Man hat das „Glasperlenspiel“ als Utopie bezeichnet. Allenfalls handelt es sich um keine phantastische, sondern um eine sehr „reale“ Utopie: In der Zeit nach den großen Kriegen und Revolutionen wird zur Rettung der geistigen Werte und zur Erhaltung der Kultur der Orden der Glasperlenspieler gegründet, dessen Zentrum Kastalien, die pädagogische Provinz, ist. Von der Außenwelt abgesondert, aber durch viele Fäden mit ihr verbunden und auf sie einwirkend, ist es die selbstgestellte Aufgabe Kastaliens, eine geistige Elite heranzubilden, die nicht nur im Glasperlenspiel unterwiesen, sondern auch für andere weltliche Berufe vorbereitet wird.

Das Glasperlenspiel selbst, bei großen öffentlichen Feiern demonstriert, zu denen Besucher aus aller Welt kommen und sich in einer internationalen Sprache verständigen, ist ein Spiel mit allen Formen und Inhalten der Kultur. Wie ein Musikwerk mit einem Thema beginnend, wird dieses durch immer neue Assoziationen, Analogien, Konkordanzen, und Varianten bereichert, fortgesetzt und „instrumentiert“. Die Grundwissenschaften bei der Ausbildung der Spieler und die Fundamente des Glasperlenspieles sind die Mathematik und die Musik. Das Schöpferische hat keine Bedeutung mehr, wir befinden uns in einem „alexandrinischen Zeitalter“ (dem das „feuilletonistische“, das unsere, vorausgegangen war). Der Magister Ludi ist eben dieser Josef Knecht, dessen Geschichte Hesse erzählt und dessen nachgelassene Schriften er herauszugeben fingiert.

Eine besondere Mission führt Knecht aus der dünnen, ästhetischen Luft von Waldzell, dessen Landschaft der des oberen Engadin ähnelt, nach Mariafels, dem ältesten Benediktinerstift. Hier hält sich Knecht jahrelang auf, und aus dem Lehrer, der die Patres im Glasperlenspiel unterweisen sollte, wird ein Lernender. Der inoffizielle Zweck seiner Mission ist, gute Beziehungen zum Orden der Benediktiner herzustellen und ein Zusammenwirken des weltlichen mit dem geistlichen Orden für Zeiten höchster Gefährdung des Menschengeschlechts vorzubereiten. Das Nahziel ist die Errichtung einer ständigen Vertretung Kastaliens beim Heiligen Stuhl. Knecht ist für diese Aufgabe dank seiner „hieratischen“ Natur prädisponiert, denn er weiß: „Es gibt kein adeliges und erhöhtes Leben ohne das Wissen um die Teufel und Dämonen und ohne den beständigen Kampf gegen sie.“ Darin unterscheidet sich Knecht von seinen „Ordensbrüdern“. Dieses Wissen bedingt die Zweiheit und Gespaltenheit setner Natur,-die-in Mariatels noeh vertieft wird.

„Auch bemerkte Knecht im Gehaben, Lebensstil und Verkehrston der geistlichen Herren ein ihm bisher unbekanntes Tempo, eine gewisse ehrwürdige Langsamkeit, eine langatmige und gutmütige Geduld, an welcher alle diese Väter, auch die persönlich keineswegs temperamentlosen, teilzuhaben schie nen. Es war der Geist ihres Ordens, es war der tausendjährige Atem einer uralten, privilegierten, in Glück und Not hundertmal bewährten Ordnung und Gemeinschaft, an welcher sie teilhatten, so wie jede Biene am Schicksal und Ergehen ihres Stockes teilhat, seinen Schlaf schläft, sein Leiden mitleidet, sein Zittern mitzittert. Verglichen mit dem Lebensstil Kasta-' liens schien dieser benediktinische beim ersten Zusehen weniger geistig, weniger agil und zugespitzt, weniger aktiv, dafür aber gelassener, unbeeinflußbarer, älter, bewährter, es schien hier ein schon längst wieder zur Natur gewordener Geist und Sinn zu walten. Mit Neugierde und großem Interesse, auch mit großer Bewunderung ließ Knecht dies Klosterleben auf sich wirken, das zu einer Zeit, da es noch kein Kastalien gab, schon beinahe gleich wie heute und schon eineinhalbtausend Jahre alt gewesen war, und das der beschaulichen Seite seiner Natur so sehr entgegenkam. Er war Gast, wurde geehrt, wurde weit über Erwarten und Gebühr geehrt, aber er fühlte deutlich: dies war Form und Usus und galt weder seiner Person, noch galt es dem Geist Kastaliens oder des Glasperlenspiels, es war die majestätische Höflichkeit einer alten Großmacht gegen eine jüngere.“

Der rein ästhetischen Welt der Glasperlenspieler begegnet man mit wohlwollender Ironie. Knecht lernt, daß das freie Schalten mit den Dingen und Mächten unerlaubt ist, er muß sich sagen lassen, daß es den Glasperlenspielern — von einer mangelnden religiösen Grundlage ganz zu schweigen — auch an einer gültigen Anthropologie und an lebendigem Geschichtsbewußtsein fehlt.

Seither kommt Josef Knecht nicht mehr zur inneren Ruhe. Nach Kastalien zurückgekehrt, legt er sein hohes Amt nieder. Die Vertiefung und Bereicherung, die sein Wesen in Mariafels erfahren hat, bestimmen ihn, zu einem bescheideneren Amt als Erzieher eines Knaben (des Sohnes seines weltlichen Gegenspielers Designori), zurückzukehren. Hierbei stirbt er, als er sich anschickt, seinem jungen Schüler beim Wettschwimmen zu folgen, eines plötzlichen und zunächst sinnlos scheinenden Todes: Er ertrinkt im eiskalten Gletscherwasser eines Bergsees.

Was wollte Hesse mit diesem abrupten Schluß, der ihm von zahlreichen Kritikern seines letzten großen Werkes vorgehalten wurde, andeuten? Mit diesem Tod büßt Kastalien seinen geistigen Hochmut, sein Spielen und Operieren mit Abstraktionen (als wären es Realitäten): es büßt für das Glasperlenspiel. So erweist sich auch dieser letzte von Hesse geschaffene „Held“ als ein Einzelgänger, ein Außenseiter, und durch seinen Entschluß, Kastalien zu verlassen, stellt der Dichter selbst die von ihm so liebevoll erdachte und so kunstvoll ausgeformte Welt eines rein geistigen und ästhetischen Lebens in Frage. Diese Frage, diese „Zurücknahme“, ist Hesses letztes Wort.

Die Illustrationen aul diesen beiden Seilen wurden dem im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buch „Hermann Hesse — Eine Chronik in Bildern“ entnommen

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung