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Lev Nikolajevic Tolstoj

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DAS SCHICKSAL- WOLLTE, daß bereits Lev Tolstoj als Knabe von sehr starken und schmerzlichen Erlebnissen heimgesucht wurde. Die Mutter war gestorben, ehe das Kind sein zweites Jahr vollendet hatte, und sie hinterließ ihm nur ein hauchzartes Andenken, das aus den Erinnerungen älterer Geschwister sprach. Den Verlust des Vaters aber fühlte der Neunjährige sehr heftig. Vorzeitig reifend, wagte der Knabe schon damals seine ersten lyrischen Versuche. Eine Tante trachtete dem Verwaisten das Elternhaus zu ersetzen, ohne das zu können. Hin und her geworfen, ohne festen Halt, erfuhr der Elfjährige seine erste Glaubenskrise, die radikal sofort an der Existenz Gottes rüttelte. Mit 16 Jahren ging der Jüngling — zugleich seinem Alter voraus und nie abgeklärt, wie er das sein Leben lang bleiben sollte — an die Universität nach Kasan.-Das Studium orientalischer Sprachen vermochte ihn ebensowenig auf die Dauer anzuziehen wie das der Rechte. Er machte bald Schluß mit dem regelmäßigen Unterricht und stürzte, noch vor dem Eintritt ins dritte Dezennium seines Daseins, den unbeschränkten Genüssen entgegen, die ihm die Freiheit eines finanziell unabhängigen Gutsherrn bot. Das betrieb er so eifrig, daß die wirtschaftliche Basis dieses vergnüglichen Seins, das Familiengut Jasnaja Poljana, vom Ruin bedroht wurde. Tolstoj verließ das berauschende Petersburg samt dessen erlaubten und verbotenen Freuden und nahm Kriegsdienste, die ihn nach dem Kaukasus verschlugen. Dort bekämpften die Heere des Zaren den Aufstand des weltberühmten Samyl, der die knapp ein Halbjahrhundert zuvor eingebüßte Unabhängigkeit seiner Berge verteidigte. Die geheimsten Regungen des anarchischen, jeder Bindung widerstrebenden Triebs der russischen Seele wurden durch die Begegnung mit den tapferen und primitiven Widersachern wachgerüttelt; in Lev Nikolajevic aber nicht nur sie, sondern auch sein bis dahin noch halb schlummerndes Dichtertum.

Nach seinen Proben aus der Kindheit hatte er vermutlich noch öfter seiner schriftstellerischen Neigung gehuldigt, und in Petersburg hatte er in den dortigen literarischen Kreisen verkehrt. 23 Jahre alt, überraschte er nun mit kaum das Autobiographische verhüllenden, ja es unterstreichenden Erzählungen von wunderbarer Innigkeit, eindrücklicher Schilderungskraft und seelenkundlicher Tiefe. Ihnen folgen Impressionen aus dem Kaukasus und, schnell sich anreihend, Erzählungen vom Kriegsschauplatz auf der Krim, wo Tolstoj an der Verteidigung Sewastopols teilgenommen hatte. Durch seine Erzählungen berühmt geworden, wird er auf Befehl des neuen Zaren Alexander II. aus der Front zurückgezogen, um den strahlend emporsteigenden Stern am russischen Literaturhimmel vor allzu frühem Verlöschen zu bewahren. Er widmet sich fortan nur der Dichtung und der Bewirtschaftung seines Gutes, die er zugleich als soziale Verpflichtung und als kulturelle Sendung an seine Bauern betrachtet. Er knüpft enge Beziehungen zu den Repräsentanten einer westwärts blickenden liberalen Gruppe an, die sich um deren Organ, den „Sovremennik“ (Zeitgenosse), sammelt„zu Turgenjew, Gontscharov, Ostrovskij, Nekrasov. Dreimalige längere Aufenthalte in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Italien unterbrechen sein Apostolat in Jasnaja Poljana. Der Westen mit seinem Reichtum, seinem Komfort, seiner Verfeinerung und seiner übertünchten Höflichkeit übt auf Tolstoj, wie einst auf seinen Ahnherrn, den Begleiter Peters des Großen, eine verführerische Anziehungskraft und eine abstoßende Wirkung aus. Seht, wir Wilden — als die wir euch gelten —, scheint er den überheblichen Herren und Damen zuzurufen, wir sind doch die besseren Menschen; denn wir sondern uns nicht durch eine unübersteigbare Wand des ungerechtfertigten, unbilligen Hochmuts vom Niedervolk ab, dessen Herzensgüte und unverdorbene Kunst wir mit wenig Geld und viel Verachtung bezahlen: so tönt es aus jener schlüsselhaften Novelle „Luzern“ entgegen, die auch in anderer Hinsicht für Tolstoj typisch ist. Wie er da, beim Anblick der grandiosen Naturschönheit,

DIE F URCHf

SEITE 22 / NUMMER 46 12. NOVEMBER 1960 auf dem Balkon des „Schweizer Hofs“ sich wie ein Wahnsinniger gebärdet, zum ratlosen Entsetzen des ihn geleitenden Hotelangestellten, das ist gewissermaßen ein Vorspiel zu dem erst mit Tolstojs Tod endenden erschütternden, doch manchmal unfreiwillig tragikomischen Drama, dem man den Titel geben könnte: der „Jurodivyj“, „der Narr in Christo und die schnöde Welt der Tatsachen“. In jene Epoche der ersten und wie vollgültigen Früchte seiner dichterischen Sendung und seiner denkerischen Irrfahrten fallen ferner ihrerseits programmatische und Entscheidendes über Tolstoj aussagende Erzählungen, wie „Polikuska“, darin das Geld, das Gold — sieht man von der Verschiedenheit des Rahmens der Dichtung ab — in ähnlicher Weise als das Urverhängnis, als das Übel aller Übel erscheint, wie im „Ring des Nibelungen“; wie „Familienglück“, das, ein Wunschbild des Autors, die Seligkeit am häusliehen Herd dialektisch den falschen Freuden und echten Leiden der verderbten, verruchten Mondänität gegenüberstellt. Hier lernen wir auch schon ein viertes Grundelement der Tol-stojschen Problematik kennen, sein Ringen um die Bewältigung der Sinnlichkeit, des ihn versuchenden Eros und des brutal peitschenden Sexus. Diese ihn lebenslang quälenden Fragen, zusammen mit dem Widerspruch zwischen seiner aristokratischen Sonderart und dem Verlangen, in der Volksgesamtheit aufzugehen, haben auch in den „Kosaken“, dem „Polikuska“ veran-konzipierten, im Kaukasus entworfenen frühesten Meisterwerk des Dichters, das Geschehen durchpulst.

EINE WEILE DES TRÜGERISCHEN GLÜCKS mochte es den nun Vierunddreißigjährigen dünken, seine inneren Dämorten, seine Zweifel und Ängste überwunden zu haben. Ein schönes, hochbegabtes Mädchen nahm freudig seine Werbung an; mit schwärmerischer Liebe zu dem in jedem ungewöhnlichen Mann, der ihren regen Geist und ihre noch unerfahrenen Sinne betörte. Sophie Behrs, Tochter eines in die vornehme Gesellschaft aufgenommenen Arztes deutscher Abkunft, wurde 1862 Lev NikolajeviCs Gattin. In den ersten drei Lustren eines reinen, wenn auch von Anbeginn her, infolge der stürmischen Natur beider Eheleute, nicht ungetrübten Familienlebens, zumeist auf Jasnaja Poljana, erreichte Tolstoj nicht nur den Zenit seines Daseins, sondern auch den seines-Schaffens. Tolstojs Sippenkreis lieferte die strahlenden Helden von „Krieg und Frieden“ und von „Anna Karenina“, von denen jedoch auch die edelsten keine Heroen der übel-üblichen Schwarzweißmalerei sind. Je stärker sich die Gestalten dieser vielfigurigen Panoramen von dem unterscheiden, das dem Autor vertraute Züge trägt, und sei es in Verzerrung, um so mißwollendere Abneigung widmet ihnen der Schilderer. Napoleon, in der Epopöe aus der Epoche des Vaterländischen Krieges von 1812 und der diesem vorausgehenden Jahre, ist geradezu ein Satan: der Kriegsfürst dieser Welt, über dessen höllische Wesenheit ein glitzernder Firnis von Glanz und Triumph gebreitet wurde. Je russischer, je volksnäher die Menschen sind, um so teurer dem Herzen des Dichters; je einfacher sie sind, um so edler. Und über die Einfachheit erhebt sich nur die Einfalt: des weithin unbekannten Soldaten Piaton Karataev, der gegenüber der Vielfalt komplizierterer, „angewestelter“ Personen der Oberschicht das geduldige, brave, gute russische Niedervolk beispielhaft vertritt. „Krieg und Frieden“ ist — noch — ein Hohenlied auf die patriotische Begeisterung, mit der das heilige Rußland, einig in allen seinen Schichten, den fremden Angreifer verjagt. Man könnte als

Motto den Spruch hinsetzen, mit dem während des zweiten „Vaterländischen Krieges“ jedes Kommunique des sowjetischen Oberkommandos schloß: „Ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit und für die Unabhängigkeit des Vaterlandes im Kampfe gefallen sind. Tod den Landräubern.“ Und dazu die Ouvertüre „1812“ spielen, in der das „BoZe Carja chroni“ sieghaft unter Kanonendonner den Klang der „Marseillaise“ übertönt.

EINES MUSS FREILICH an „Krieg und Frieden“ entschieden beachtet werden, das gleichermaßen für „Anna Karenina“ gilt: An dieser wahren Enzyklopädie der russischen Seele, die zugleich eine flammende Anklage gegen den Krieg und das schönste patriotische Erbauungsbuch ist, das je geschrieben wurde, werden nicht nur der spätere und im Keim stets vorhandene Pazifismus Tolstojs, wie sein Kult des braven Muschiks, vorausgenommen, sondern die raffinierte und dennoch von ihren Trieben gelenkte, der Natur nahe vornehme Gesellschaft, der Lev Nikolajevic angehörte, erfährt bei aller mitschwingenden Kritik sozialer Zustände und mondäner Laster eine Darstellung, die als zweites, unterdrücktes Leitmotiv mitführt: „Pfui, wie reizend.“ Im Grunde erscheinen dem unbefangenen Leser die Bolkonskij-Volkonskij, die Rostov-Tolstoj und alle die unvergeßlichen, aus dem Ahnensaal des Dichters blutvoll heraustretenden Gestalten würdig der Bewunderung und der Liebe, die ihnen der Sohn, der Enkel, der Verwandte zollt. Nicht einmal der schönen, herzlosen Helene kann man ernstlich grollen, die ihrem ungebärdigen und doch so hochgesinnten Gatten Pierre mit Anmut Hörner aufsetzt. Und erst die positiven Helden, General Fürst Nikolaus samt dem Sohn Andrej und der Tochter Maria, die das Spiegel-Ich von Tolstojs Mutter ist, dann die entzückende Natasa! „Krieg und Frieden“ ist nicht zuletzt ein Hoheslied auf die russische Hochadelskultur des endenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts.

„Anna Karenina“ schlägt die Brücke von den Zeiten Katharinas II. und Alexanders I. zu denen Alexanders IL Weder an den Menschen noch an ihrer Problematik hat sich viel geändert, ob-zwar inzwischen die sogenannte Bauernbefreiung einen äußerlich umwälzend scheinenden Einschnitt vollzogen hat. Der leichtfertige und dabei schwerblütige, massive Lebensgenuß der Oberschicht dauert an. Der Hof als Sonne, an deren Strahlen sich gar manche versengen, der Kavaliergardeoffizier als mähnliches, die verführerische und unschwer verführbare Dame der obersten Society als weibliches Leitbild sind entthront. Sie sind beide um so viel anziehender, als die ihre Tugend und Tüchtigkeit für die Karriere und für den Staat nützlichen Ballast mitschleppenden, emporgestiegenen hohen Beamten aus dem Kleinadel oder gar aus dem Bürgertum. Madame Bovary, drüben im bourgeoisen Frankreich, weckt ja auch mehr Sympathie als ihr bedauernswerter, kläglicher, betrogener Gatte. Anna Karenina ist allerdings von anderem Kaliber als die romantische Gans in der nordwestfranzösischen Kleinstadt, und der rassige Gardeoffizier Vronskij ist von anderem Charme als der kümmerliche Don Juan im Miniaturformat, der Madame Emma den Kopf, die Moral und den Lebensweg verdreht. Sogar der hochanständige Ober-Cynovnik Karenin überragt um zahlreiche Werst den Landarzt Bovary.

EINE SCHWERE SEELISCHE KRISE, die mit einem immer stürmischeren Eheleben in engem Zusammenhang stand, brachte den großen Dichter dazu, sich in verhängnisvoller Selbsttäuschung von seiner eigentlichen künstlerischen Berufung abzukehren und dem ihm nicht gemäßen Beruf eines Propheten und Weltverbesserers zuzuwenden. Er hielt zunächst über sich selbst, über seine Jugend und sein Schaffen ein strenges Gericht. Lev Nikolajevic blickte auf seine Sturm- und Drangjahre durch ein schwarzes Vergrößerungsglas, doch auf Tatsachen, die man, je nachdem, milder oder strenger beurteilen mochte. Er leitete indessen aus ihnen Schlußfolgerungen ab. die mit einer gesunden Logik nichts zu schaffen hatten. Sein Bekenntnis, das ihn nochmals als echten Russen reigt, der, Hochadel hin und her, seelisch den Bauern eher glich als westlichen Angehörigen feiner Klasse, gemahnt durchaus an die Schuld-geständndsse, die der reuige Sünder vor der Gemeinde weinend stammelt, an — die Selbstkritik, die in der heutigen Sowjetunion gefordert und, mehr oder minder aufrichtig, vorgenommen wird. Es war aber keineswegs selbstverständlich, daß er, nach einem Schock, der — was psychoanalytisch leicht zu beweisen ist — im Tiefsten auf sexuellen Erschütterungen beruhte, nun ein großes Vermögen den Seinen entziehen wollte, daß er durch närrische Wunderlichkeiten die arme Ehefrau und die Kinder marterte, als Bauer verkleidet umherlief, sich nur in kahlen Wänden wohl fühlte und, seine Bildung wie seine geniale Künstlerschaft verdammend und ihnen untreu, unsinniges Zeug über die mannigfachsten Themen zu Papier brachte, zu deren Verständnis ihm die fachlichen Kenntnisse mangelten oder die er durch einen Zerrspiegel betrachtete. Wenn man der weltkundige, kluge, mit allen Schätzen der Kultur und des Wissens bedachte Graf Lev Niko-lajevic“ Tolstoj war, dann hätte man nicht Weisheiten predigen dürfen, die einem Autodidakten, wie etwa dem Bauernphilosophen Konrad Deub-ler, und dem Steinklopferhans anstanden. Tolstoj s Philosophie, seine staatsfeindliche Staatslehre reizen dazu, auch auf ihn den Satz anzuwenden, der über Rousseau geprägt wurde: Der habe uns gelehrt, wieder auf allen vieren zu gehen und auf die Bäume hinaufzusteigen.

In betrüblicher Gezweiung schleppte Tolstoj ein Doppelleben weiter, bei dem ihm, wie seiner Familie, gar grauslich zumute war. Er hauste in einem Schloß, dessen von ihm bewohnte Räume jedes Schmuckes beraubt waren. Er lief im groben Kittel und in Stiefeln umher, verkehrte nur noch mit ihm gleichgesinnten Jüngern, die ihm zuströmten und unter denen sich Aristokraten, wie Certkov, ebenso befanden wie Proletariersprossen, und mit seinen Bauern; die ihm mißtrauische Scheu und die Ehrerbietung weihten, die man einem „Jurodivyj“ schuldet. In einer Ehe, die gar bald eine Strindbergsche Hölle geworden war, in der aber sinnliche und im Geistigen wurzelnde Liebe immer wieder zusammengeleitete, zeugte er 13 Kinder innerhalb einer Spanne von 26 Jahren. Das war weniger .paradox als das Nebeneinander eines unzerstörbaren aristokratischen Rahmens mit einem Genrebild der gemimten Primitivität und Entbehrung, und als das Fortknistern eines göttlichen Funkens, den Tolstoj, trotz aller Sehnsucht nach beseligender Verdummung und Ent-bildung, in sieh nicht erstickte. So veröffentlicht er, parallel zu den unübersehbaren ' Streitschriften und Traktätchen — wie „Das Nichtstun“, „Meine Beichte“, „Widersprüche der Moral“, „Was ist Kunst?“, „Die Sklaverei unserer Zeit“, „Über Gott und Christentum“, „Über Krieg und Staat“, „Über den Sinn des Daseins“, „Die sexuelle Frage“, „Was sollen wir also tun?“, „Über das Lehen“, „Mein Glaube“, „Das einzige Mittel“, „Wofür?“, „Ich kann nicht schweigen“ —, eine Reihe von Dichtungen, die seine durch die dick aufgetragene Tendenz nicht beeinträchtigte Kiinstlerschaft bezeigen.

VON DREI DRAMEN, „Die Macht der Finsternis“, „Der lebende Leichnam“, „Und das Licht leuchtet in der Finsternis“, ist das erste ein sehr wirksames Thesenstück, das grauenhafte Einsichten in die russische Bauernexistenz eröffnet, damit aber eindringlicher überzeugt als durch die darin und in den beiden anderen Bühnenwerken dargebotenen Auswegmöglichkeiten im Sinne der Tolstojschen Selbstkritik' und der nur irdisch bedingten Askese. Höher und sehr hoch stellen wir die Erzählungen: vom „Tod des Ivan Hjic““ und der „Kreuzersonate“ über „Pater Sergej“ bis zur letzten bei Tolstojs Lebzeiten veröffentlichten „Hadzi Murat“. In ihnen dreht es sich um je ein dominantes Anliegen, von dem der Autor unablässig besessen war: um die Verantwortung im Angesicht des Todes; um den Sexualtrieb, den er, radikal, auch in dessen ehelicher Befriedigung, verflucht und der den Heiligsten, einen russischen Antonius, aus der Bahn wirft; um das Kampf und Vernichtung werte, kostbare Gut der gegen den staatlichen Unterdrücker zu schirmenden Freiheit. Auch der Roman „Auferstehung“, der einzige aus der Altersperiode Lev Nikolajevics, ist große Dichtung. Doch ein Übersteigern des Lehrhaften und des Anklägerischen verhindert, daß diese romancierte Kampfansage an die Orthodoxe Kirche, an die weltliche Gerichtsbarkeit, an die heuchlerische und grausame Geschlechtsmoral einer skrupellos ihren Herreninstinkten lebenden Ausbeuterschicht als Kunstwerk den gleichen Widerhall im mit Tolstoj nicht übereinstimmenden unpolitischen Leser errege, wie „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“. Die Erschütterung und die aktive Reue des geläuterten Verführers aus fürstlichem Geschlecht rühren uns, das Los seines Opfers, einer von allzu vielen, greift uns ans Herz. Wir neigen uns vor dem aufstachelnden Pathos des

Dichters, der für eine ihn ganz erfüllende Sache streitet, vor seiner Gewalt des zum zerschmetternden Urteil werdenden Berichts. Allein weder Lösung noch Deutung des tragisch endenden Konflikts vermögen zu überzeugen. Der junge Tolstoj hat in seinen kaukasischen Geschichten klarer gesehen. Des hohen Herrn Abstieg zu dem Mädchen, mit dem ihn nichts als der Sinnenrausch eines Moments verbunden hatte, wäre nicht nur für ihn, sondern auch für sie eine lebenslange Strafe, keine Wiedergutmachung.

MIT DEM IN GREISENHAFTER VERSTOCKTHEIT immer hartnäckiger sich in seine utopischen Lehren verbohrenden Dichter darüber zu diskutieren, wie das überreichlich geschehen ist, war ebenso zwecklos, wie die Strafmaßnahmen es gewesen sind, zu denen der Heilige Synod der Orthodoxen Kirche griff. Tolstoj war völlig davon durchdrungen, den rechten Weg zu Gott zu schreiten, die einzig treffende Auslegung des Neuen Testaments zu geben, die er 1879 mit einer eigenwilligen Evangelienharmonie angefangen und in seinen nachgelassenen Schriften abgeschlossen hatte. Es verlangte ihn darnach, die äußersten Konsequenzen aus seiner Doktrin zu ziehen und sich, wie er meinte, durch die Tat vom zermürbenden Widerspruch zu befreien, den er nach wie vor zwischen seinem Leben und seiner Lehre verspürte. 82 Jahre war er alt; da packte ihn ein rätselvoller Dämon, und er flüchtete heimlich aus Jasnaja Poljana hinaus in eine freie Welt der Armut und der Erniedrigung. Das war wenigstens seine Absicht. Er kam nicht weit. Nachdem er schon vorher einen argen Herzanfall knapp überwunden hatte, erkrankte er im kleinen Ort Astapovo, dessen Bahnhofsvorstand, ein Jünger des Grafen, ihm Gastfreundschaft bot. Dort hat Lev Nikolajevics

Erdenwallen würdig geendet. „Sergiej“, sagte er zu einem seiner Söhne mit verlöschender Stimme, „ich liebe die Wahrheit ... Sehr ... Ich liebe die Wahrheit.“ Damit ist er in die Ewigkeit hinübergegangen. Und er ist schließlich seines Todes gestorben. Subjektiv war er von bestem Wollen geleitet gewesen, wenn auch die „Früchte der Entbildung“, wie man frei nach dem Titel seines einzigen heiteren Theaterstücks schreiben möchte, unendliches Gift verbreitet haben.

VOR DEM WILLEN zur ungeschminkten Wahrheit, zur Gerechtigkeit aber schweigt jede Kritik, die sich gegen den Inhalt der Irrungen kehren muß. Und wir entsinnen uns, hinaus über Zeit und Raum, zweier anderer großer Todgeweihter. Des Papstes Gregor VII., der im Exil verröchelnd ausrief: „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt; darum sterbe ich in der Verbannung“; Karl Kraus', der, da man ihn, ob auch zärtlich, mahnte, er habe jemandem, dem er bis zuletzt gram blieb, Unrecht getan, mit aufflackernder Leidenschaft, sich aufsetzend, donnerte: „Ich habe nie jemand Unrecht zugefügt.“

Was immer gegen den objektiven Gehalt und gegen die zumeist unbeabsichtigten und zu seiner Ideologie in krassem Widerspruch beharrenden Ergebnisse der Lehren Tolstojs vorzubringen ist: an seiner dichterischen, wortkünstlerischen Bedeutung für die russische und für die Weltliteratair ist nicht zu mäkeln. Form und Geschehen seiner erzählenden Prosa erhärten ihn, neben Puschkin und Turgenjew, als einen des leuchtenden und auch in dunkelster Geistesnacht den Weg weisenden Dreigestirns der Dichtung seiner Nation und als den unüber-treffbaren Vollender einer der neueren Zeit am meisten gemäßen Gattung des Schrifttums, des Romans, auch für den Bereich des gesamten Erdenrunds.

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