Anders als die Franzosen oder die Russen schildern die Engländer menschliche Abgründe, Nachtseiten und den Hang zum Bösen. Nicht F. Dostojewskis wilden Ausbrüchen der Laster, nicht H. de Balzacs grotesker Tragik noch A. Gidės lyrisch-einfühlender Da-stellung diffiziler innerer Problematik ist Graham Greenes Dichtung verwandt. Sie ist eigenständig. Dennoch entspringt sie aus einer Grundstimmung, die in den Jahrhunderten der englischen Geistesgeschichte immer wieder aufleuchtet: von Shakespeares Macbeth, Dickens’ Oliver Twist bis zu Chestertons hintergründigen Detektivgeschichten.
Greene ist Dramatiker. Seine Romane rollen in kurzen, realistisch-filmischen Szenen ab. Eisern schließt sich stets der Ring der Handlung. Die Darstellung ist exakt, nüchtern und scharf. Ein englischer Kritiker sagte: „Greenes Worte sind nur mathematische Zeichen für seine Gedanken.“ Schon die ersten Bücher des 1904 geborenen Autors haben Abenteurer- und Verbrecherschicksale zum Vorwurf. Mit seinen drei letzten Büchern, die aus der Zeit seiner Bekehrung und seines Bekenntnisses zur katholischen Kirche stammen, stieß Greene zu neuen Möglichkeiten vor, obwohl er an der alten Thematik festhielt. In „Brighton Rock“ (deutsch im P.-Zsolnay-Verlag, Wien 1948) wird hinter der hin jagenden Verbrecher, und Verfolgungsgeschichte und der Schilderung der getriebenen, lasterhaften Menschen erstmals deutlich eine dritte Dimension sichtbar: die religiöse. Es laufen aber nicht drei Handlungen gleichzeitig; die Gestaltungskraft Greenes vermag das umfassend geschaute Geschehen in eine Abfolge zu klammern.
Der Held des nächsten Romans, der zur Zeit der Christenverfolgung in Mexiko spielt (Greene wurde 1938 als Beobachter dorthin entsandt), ist ein von seiner eigenen Süchtigkeit und von den Schergen der Gottlosen gehetzter „Schnapspriester“, Vater eines in verzweifelter Einsamkeit gezeugten Kindes. Ohne alle „M acht und Herrlichkei t". wie der Titel des Buches lautet, irrt dieser Mensch durch Sumpf und Urwald. Plötzlich, unsichtbar gestärkt, erfüllt er mutig seine Priesterpflicht. Auf dem düsteren Hintergrund menschlicher Schwäche wird die Gnade sichtbar; sie reißt den Sünder empor; die bereute Schuld gereicht ihm zum Heil. „Felix culpa“, hatte Augustinus gesagt. „Ich bin kein Heiliger“, gesteht der Priester Graham Greenes „Ich bin nicht einmal tapfer.“ Aber er weiß, daß Gott die Liebe ist, und gibt sich dieser Liebe anheim. Dann nimmt er furchtlos den Tod auf sich …
In „The Heart of the Matter" (William Heinemann Ltd., London 1948) ist ein westafrikanischer Hafen während des letzten Krieges der Schauplatz. Dunstige Hitze, Schweiß und Schwarzwasserfieber, Ratten in den schachtelartigen Höfen, Geier, die auf den Firsten der Wellblechdächer hocken … Monatelang schlägt Regen an die schmutzigen Lehmhütten und an die erschöpften Gemüter der Menschen. Das eintönige, durch dauernden Chiningenuß ängstlich geschützte Leben betäubt, lähmt den Willen zum Guten. Die Gefahren des Krieges, die Angst vor Spionen spannen die Nerven Die Verfolgung der Schmuggler und deren Ränke züchten die Laster in Menschen, die am Ende ihrer Kräfte sind. Geschwätz, Verleumdung und Betrügereien reißen nicht ab. Westindische Neger, britische Kolonialbeamte, Polizeioffiziere und Pastoren, syrische Mohammedaner und englische Katholiken atmen die süßliche, sündige Luft der Hafenstadt. Einmal, „für vielleicht fünf Minuten am Abend … beginnen die häßlichen, lehmigen Straßen zu leuchten, in zartem, blumigem Rosa“.
Scobie, stellvertretender Polizeikommissär und Major, unbestechlich und pflichtbewußt, lebt seit 15 Jahren in dieser Stadt, die er liebt. Über seinem Schreibtisch hängt ein Paar Handschellen, in der Lade liegt ein zerrissener Rosenkranz. Er ist Katholik. Auch sein alternde, neurotische Frau Luise, deren krankhafter Ehrgeiz du ch die Übergehung ihres Mannes bei der letzten Beförderung verletzt wird, ist katholisch. Aber ihre Ehe — das einzige Kind starb früh — ist im tiefsten mißglückt. Mit den wunden Stellen ihrer durchschnittlichen Menschlichkeit reiben sie aneinander. „Er war an das Pathos ihrer Reizlosigkeit gefesselt … Ihm wurde nun klar, daß der Schmerz in jeder menschlichen Beziehung unvermeidbar ist — erlittener und zuge fügter Schmerz. Wie närrisch sind wir doch, wenn wir die Einsamkeit fliehen.“
Obwohl ein aus England neuangekommener Spitzel, welcher die Polizei- und Verwaltungsbeamten zu beobachten hat — da der Diamantenschmuggel überhand genommen —, für Luises Liebe zur Lyrik Verständnis aufbringt und sich innerlich um sie bemüht, strebt sie nach Südafrika, Ruhe und Erholung erhoffend. Scobie aber hat die für ihre Reise nötigen 200 Pfund nicht zur Verfügung. Yusef und Tallit, die beiden verbrecherischen syrischen Großkaufleute, die durch ihr Geld praktisch das gesamte Polizeikorps beherrschen, ringen miteinander um den Vorrang. Scobie, dem die Frau quäle- rich zusetzt, borgt schließlich Geld von Yusef. Luise reist ab. Sofort wird Scobie in Yusefs Pläne gegen Thallit verwickelt.
Die Überlebenden von einem torpedierten Schiff werden an Land gebracht. Den Major erfaßt Mitleid mit einer jungen Engländerin, die ihren Mann durch das Unglück verlor. „Das Wort .Mitleid’ wird ebenso locker gebraucht wie das Wort ,Liebe’: die furchtbare, vermischte Leidenschaft, die nur so wenige erleben und verstehen … Was sie für Sicherheit gehalten, erwies sich als Tarnung eines Feindes, der mit Freundschaft. Vertrauen und Mitleid arbeitet.“ Scobie erliegt — ohne die Gefahr zu ahnen — der Versuchung. Yusef erpreßt und zwingt ihn nun zu schwersten Vergehen gegen seinen Diensteid. Als Luise zurückkehrt, verharrt Scobie wie betäubt in der Sünde; er verwickelt sich immer tiefer in Verbrechen. Er trägt auch Schuld am Tode seines Dieners, den er verdächtigt, Informationen an den ihm immer näher rückenden Polize.spitzel zu geben. Schließlich nimmt Scobie Gift. Beide, Frauen erweisen s'ch seiner um ihretwillen gebrachten Opfer unwürdig.
Die eigentliche Problematik liegt hinter diesem Geschehen. Gegen das Ende des Buches wächst sie mit unheimlich drohender Deutlichkeit auf. Die zurückgekehrte Luise, die ihres Mannes Untreue ahnt, verlangt von ihm, gemeinsam mit ihr zum Tisch des Herrn zu gehen. Er glaubt, sich selbst belügend, jene junge Witwe nicht verlassen zu dürfen, um sie vor einem Zudringlichen zu beschützen. Er weiß, welche Folgerungen er aus der Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit ziehen sollte, weiß, „daß wir Katholiken alle Antworten kennen“. Schon kniet er im Beichtstuhl. Doch jenes seltsam schwelende Mitleid läßt in ihm keinen Vorsatz aufkommen. „O Gott“, sagt er, „ich habe dich verlassen, aber verlasse du mich nicht.“ In mehrfacher Todsünde tritt er neben seiner Frau an die Kommunionbank.
Obwohl sich Scobie zum Selbstmord entschließt, erfährt er in den letzten Augenblicken seines Lebens, da das Gift schon zu wirken beginnt, die unausmeßbaren, überwältigenden Tiefen göttlicher Gnade. „Irgend jemand wanderte, suchte hereinzukommen“ (in Scobies Herz), „nach ihm sich sehnend…" (uralter Gedanke der Mystiker von Eckhart und Angelus Silesius bis zu Kierkegaard und Francis Thompsons „Jagdhund des Himmels"). „Er sagte laut: ,Lieber Gott, ich liebe?’ “.
In den Schlußseiten des Buches meint Scobies ehemaliger Beichtvater im Gespräch: „Die Ki-che kennt alle Regeln. Aber sie weiß nicht, was in einem einzigen menschlichen Herzen vorgeht… Bilden Sie sich nicht ein, daß entweder Sie oder ich nur das geringtse von der Gnade Gottes wissen.“
Erschüttert legt der Leser dos Buch, Zeichen neuer christlicher Tiefe und Kraft, die von der Kirche gespeist wird, aus der Hand. In den Vereinigten Staaten wurde „The Heart of the Matter“ zu dem katholischen Buch des Monats erwählt. Die Vierteljahresschrift der belgischen Benedikterabteil Maredsous „Esprit et Vie“ brachte die Übersetzung einiger Kapitel. Die englischen Dominikaner und Jesuiten bekannten sich gemeinsam zu Graham Greenes Werk. Father C. C. Martindale S. J. schreibt: „Daß er (Scobie) in einer furchtbaren Umgebung, in ent. setzlichen Verstrickungen und im offensichtlichen Widerstreit von Pflichten mit bis zur Verzweiflung abgenutzten Nerven unrecht tat, wer kann es bezweifeln? Daß er gegen Ende unfähig war, eine freie Wahl zu treffen, halte ich für höchstwahrscheinlich. Daß er aber knapp vor dem Ende die richtige traf und tatsächlich bereute und wirklich liebte, will uns der Autor zeigen.“ Graham Greenes Buch ist in der Welt weder als
„quietistisch“ noch als „gefährliches Beispiel, das den Laxismus entschuldigen könnte“, mißverstanden worden.
Der Leser also, dem die Gestalten des Buches in den Alltag nachfolgen und ihm dort immer wieder begegnen, weiß sich mit ihnen eingereiht in jene Kette, in der Heilige und Sünder mit verschränkten Fingern einander hinauf zu Jesus ziehen — ein Bild Peguys für die Kirche.
Leopold Rosenmayr
Heimat des Herzens. Von Josef Weingartner. Tyrolia, Innsbruck. 255 Seiten.
Von eigenartigem Reiz sind diese fünf Skizzen, in denen der Innsbrucker Propst, Kunsthistoriker und Schriftsteller mit großer Sachkenntnis und der Liebe der Tradition und Gegenwart Verpflichteten jene geistigen Orte zeichnet, die in seinem Werden die Heimat des Herzens bedeuten. Da ist Brixen mit dem Priesterseminar Kassianeum; es bringt das Erwachen der Freude an der humanistischen Bildung, das Anknüpfen dauerhafter menschlicher Beziehungen und ein inniges Vertraut werden mit Natur und Kultur. Der Abschnitt über das Burggrafenamt zeigt dieses in seiner geschichtlichen und kulturellen Entwicklung und in der Eigenart seiner Landschaft und seiner Bewohner. Hier erfreut nebenher eine elegante Auseinandersetzung mit der kritischen Leidenschaft des Innsbrucker Historikers Heuberger. Die Skizze über Windisch- Matrei ist die liebevolle Schilderung der eigenen Heimat, einer geschichtsträchtigen Landschaft mit kraftvollen und eigenständigen Bewohnern. Ein völlig neues Bild bietet das Salzburger Tagebuch aus dem Jahre 1936. Eng vermischt mit persönlichsten Erinnerungen erweckt die Liebe zu dieser uralten Kulturstätte eine gleiche Zuneigung im Leser. Das Buch beschließen die tagebuchartigen Aufzeichnungen „Ausflug nach Rom“. Auch hier gewinnen wir ein plastisches Bild, vor- geschaut von einem Kennet römischer Geschichte und Kultur. — Der Vorzug des sehr gut ausgestatteten Buches ist, daß Kunst und Wissenschaft sichtbar in einem Menschen Lebenswert, jia Leben gewinnen. Dr. Margarethe Schmid
Sebastian und Leidlieb. Roman. Von Joseph Georg Oberkofler. Verlagsanstalt Tyrolia AG, Innsbruck 1947. 16. bis 20. Tausend, 436 Seiten.
Seit dem ersten Erscheinen dieses Romans sind mehr als zwei Jahrzehnte vergangen. Der geistige Wandel, der sich in dieser Zeitspanne vollzog, hat uns in einen Abstand zu so manchen Büchern gebracht, die unserer Forderung nach realistischer Gestaltung nicht mehr ganz genügen können. Auch für die vorliegende Dichtung gilt dies hinsichtlich ihrer sprachlichen Form. Der Roman, der im mittelalterlichen Tirol spielt, hat den Ton der Legende und ist in einem altertümlich und chronikartig gefärbten Stil geschrieben. Wenn auch diese Form heute nicht jedem entsprechen wird, so ist sie doch des Dichters persönliche, seiner Zielsetzung gemäße Ausdrucksweise. Gleichgeblieben in seiner Bedeutsamkeit ist aber der geistige Gehalt des Werkes. Es ist trotz der historischen Einkleidung kein historischer Roman, sondern ein Bekenntnisbuch, ein Seelen- und Entwicklungsroman, der ein sinnbildliches Geschehen von immer gültiger Problematik in den Raum der Legende erhebt.