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Der AAensdi ist gut

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Was ist nicht schon alles über AIja Rach-manowa geschrieben worden 1 Tausende Rezensionen wiesen eine unübersehbare Lesergemeinde aller fünf Weltteile auf ihre Werke hin, und die Zahl umfassenderer Würdigungen ihres Wirkens, die in in- und ausländischen Blättern und Zeitschriften erschienen, ist groß. AIja — wie wir die gefeierte Dichterin bei der Koseform ihres Vornamens nennen wollen — hat selbst über sich und ihre Familie in ihren ersten Tagebüchern, die drei dicke Druckbände füllen (angefangen von „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod“, 1931, über die „Ehen im Roten Sturm“, 1932, bis zur „Milchfrau in Ottakring“, 1933) schlicht und wahrheitsgetreu berichtet, ja Rechenschaft abgelegt, ich glaube, kaum von dem Gedanken getrieben, ihre Aufzeichnungen je der Oeffentlich-keit zu übergeben. Oft ergeht an mich die Frage, ob denn die von AIja festgehaltenen Berichte, Ereignisse und Menschenschicksale, die in ihrem Glanz, aber auch in ihrer Härte und Tragik dem europäischen Leser schier unglaubhaft erscheinen, den Tatsachen entsprechen. Auf Grund von Aufzeichnungen, die ich zur selben Zeit und am selben Ort, ohne von Aljas Tätigkeit als Chro-nistin das geringste zu ahnen, für mich in Sibirien gemacht habe; kannicJrnHirTlienYdiriieiii* und Echtheit ihrer Mitteilungen bestätigen. Trotzdem seither fast vier Jahrzehnte dahingegangen sind, bewahre ich noch immer die gute und kostbare Erinnerung an das ernste, stille, wissenshungrige Mädchen mit dem nach innen gekehrten Blick und dem pechschwarzen Haar, dessen Schnitt heute aller Welt von Aljas Bildern her wohlvertraut ist.

Diese ersten Tagebücher Aljas beginnen bekanntlich knapp vor dem Sturm des Bolschewismus 1917 und schildern vor allem (bis Herbst 1921) ihre sibirische Zeit, da die Verfasserin, aus dem schützenden Elternhause im Ural als Flüchtling nach dem Osten verschlagen, unmittelbar vor dem Baikalsee in Irkutsk Hörerin der Philosophischen Fakultät der dortigen Universität geworden war. An dieser Universität von durchaus europäischem Format vertrat ich damals die Lehrfächer der Deutschen und der Russischen Literaturgeschichte.

Schon damals rückte das Interesse der 19jäh-rigen für Psychologie und Literaturwissenschaft in den Vordergrund ihres Wissensdranges, der so mächtig war, daß sie zur Vorbereitung auf die Dozentur nach Beendigung des Studiums an der Universität belassen wurde und Vorlesungen über Psychologie halten konnte. Die Ausweisung aus Sowjetrußland machte sowohl ihrer sowie der wissenschaftlichen Laufbahn ihres Mannes, der Dozent für Sprachwissenschaft war, ein frühes Ende.

Trotz jener sturmgepeitschten Zeit mit allen ihren aufwühlenden und urplötzlich hereinbrechenden Wechselfällen ließ AIja kaum einen Tag vergehen, ohne ihre dokumentarisch-großen und charakteristisch-kleinen Erlebnisse und Beobachtungen niederzuschreiben, in denen sie sich mit dem erlebten — besser gesagt: erlittenen — Bolschewismus auseinandersetzte. Die Quintessenz dieses Teiles ihrer Tagebücher faßte AIja später in der von der Academie d'Education der d'Entr'aide Sociales in Paris preisgekrönten „Fabrik der Neuen Menschen“ (1935) zusammen.

In die Heimat ihres Mannes, nach Salzburg und Wien, verpflanzt, hat AIja trotz des auch hier aufreibenden mühevollen Aufbaus einer neuen Existenz und der ständigen Obsorge um ihr einziges Kind unentwegt Seite auf Seite ihrer Tagebücher mit den Alltagserlebnissen als Besitzerin eines keinen Milchladens in der Wiener Vorstadt Ottakring und mit Schilderungen zarter psychologischer Kunst erfüllt. „Tagebücher“ sagte ich, denn neben dem einen über ihre Tätigkeit und die große Welt ihres kleinen Ladens führte sie als Mutter ein womöglich noch sorgsameres und liebevolleres über jeden Tag der wachsenden körperlichen und geistigen Entwicklung ihres Sohnes („Jurka, Tagebuch einer Mutter“, 193 8). Die Fortsetzung dieses mit feinem Silberstift gezeichneten Tagebuchs über das erste Lebensjahr Jurkas übergab AIja erst der Oeffentlichkeit, nachdem ihr Sohn als einer der Allerletzten zu Ende des zweiten Weltkrieges am Ostersonntag 1945 bei Wiener Neustadt das Opfer einer russischen Kugel geworden war („Jurka erlebt Wien“, 1951). Unmittelbar nach diesem erbarmungslosen Schlag faßte AIja' mit milder Hand die Lebensgeschichte ihres Einzigen, der mit 23 Jahren hatte von ihr gehen müssen, unter dem Motto „Herr, Dein Wille geschehe“ -zusammen und gab diesem Denkmal für den Dahingerafften den in seiner entsagenden und unüberbietbaren Schlichtheit großen Titel: „Einer von vielen“ (1945). Mutterhände haben dieses: Werk - in tausenden von lichten scWerstea SturiderF geschaffen, aiehfipleltet'* von der Absicht, ein Denkmal zu errichten, sondern beseelt von dem Wunsch, am Beispiel des eigenen, seelenzermürbenden Leides den Schmerz der blutenden Wunden im Herzen jener vielen verwaisten Mütter lindern zu helfen, die das gleiche gramvolle Schicksal zu Boden gebeugt hatte.

Was bliebe also noch hinzuzufügen zu dem, geschichteten Berg von Einzelerkenntnissen über AIja und ihre Familie? Sogar die mitunter abenteuerlichen Erlebnisse aus ihrer hinreißenden Jungmädchenzeit, die sie in der Traum- und Zauberwelt des Ural verbrachte, hat sie, das leidenschaftliche, kluge und warmherzige, durch alle Gefahren von einem Schutzengel geleitete Wesen, mit einem ganzen poetischen Reiz der Ursprünglichkeit dargestellt' („Geheimnisse um Tataren und Götzen“, 1933) und ihrer Leserschaft nicht vorenthalten.

Die subjektive Persönlichkeit Aljas steht also vom Großen bis zur kleinsten Kleinigkeit in reiner Klarheit vor uns: AIja vermag aber auch ihre Persönlichkeit zu objektivieren und sich in Themen zu offenbaren, die die bedeutendsten Männer und Frauen der russischen Kultur zu greifbaren, weil feinst erfühltem Leben wiedererwecken. Eine Gefühlskultur, die die russische im Grunde ist, muß eine begnadete Frau besser erfühlen als der verstandesbeherrschte Mann.

Nachdem AIja ihre Tagebücher veröffentlicht hatte, die sie übrigens von ihrem sechsten Lebensjahr bis heute führt, enträtselte sie das schwere Problem von Leo Tolstojs Ehe („Tragödie einer Liebe“, 1937), schrieb den besten Kommentar zum Makrokosmos von Dostojewskys Gedankenflut („Das Leben eines großen Sünders“, 1947/48, 2 Bände) und erschütterte den Leser durch die erstmalige Gestaltung des alltr-seltsamsten Liebesverhältnisses der gesamten Weltliteratur, das Turgenjews („Die Liebe eines Lebens“, 1952) zu Pauline Viardot.

Immer höher wuchs AIja zu einer der hervorragendsten Künderinnen der dem Nichtrussen meist hoffnungslos schwer zugänglichen russischen Wesensart empor. Nach der von jedermann vergötterten größten Tragödin Rußlands, einer der größten russischen Schauspielerinnen überhaupt, die, in ihrem Leben einsam, in ihrem Frausein tief verletzt, alle Theaterbesucher in den Bann ihres Zaubers geschlagen hatte („Wera Fedorowna“, 1939), wandte sich AIja der bedeutendsten Wissenschaftlerin Rußlands zu, der ersten preisgekrönten Frau auf unserem Erdball, die eines Universitätskatheders würdig befunden wurde, der fanatischen und genialen Mathema-tibwinpsrorsfle surft die gesamte- Maririenweh*tow Staunen beagtev5*„Sonja Kowalewski (tvföfß *

Obwohl Aljas Werke Romanform haben, die des gesellschaftlich-historischen Romans, sind sie keine Romane im landläufigen Sinn, in denen der Verfasser seiner Fabulierlust die Zügel schießen läßt. AIja setzt nicht eher die Feder an, bevor sie auf Grund eines Quellenstudiums, um dessen Weite sie sogar der Fachhistoriker beneiden muß, nicht alles über ihr Thema nur irgendwie aus entlegenen Bibliotheken Europas, mag es auch das schwierigst Erreichbare sein, herangeholt, in sich aufgenommen und... erlebt hat. Ihr Erlebnis strahlt auf den aufhorchenden Leser über und wird zu seinem Erlebnis. Die künstlerische Formung ergibt keinen Roman, sondern immer wieder lebendiges Leben, sei es auch geschichtliches Leben. „Erlebte Geschichte“ — schrieb ich über ihr tragisch-schönes Frauenbild „Die falsctie Zarin“ (1954) —, „wahrheitsgemäß und mit hohem Können geformt, aber nie verfälscht: was kann der Lesende mehr verlangen?“ Dem ist auch heute nichts hinzuzusetzen.

Jedermann, der sie betrachtet, ziehen Aljas trotz aller Schlichtheit und Unaufdringlichkeit unter tausenden sofort auffallenden, klaren und wie gestochen anmutenden Schriftzüge an. Ich kenne Dichter, die stenographieren, damit ihnen die jagenden Gedanken unter der Feder nicht entgleiten. Beim Anblick von Aljas perlenden Schriftzügen, die so regelmäßig, voll der in sich ruhenden Kraft und Schönheit sind, daß sie fast Selbstzweck scheinen könnten, ob sie nun eine kurze flüchtige Mitteilung gestalten — das V/ort „flüchtig“ widerspricht übrigens in jeder Weise Aljas innerster Gewissenhaftigkeit sich, wie ihren Mitmenschen gegenüber — oder zur Wiedergabe in einem ihrer Büchels bestimmt sind (als Vorwort seit „Jurka“, 1938), beim Anblick dieser einziggearteten Züge, die wie eine goldene Schale den Nektartrank umfangen, kommt mir oft die Gewißheit, daß bei der tieffreudigen Genugtuung, die die Schreiberin während des Schöpfungsprozesses vielleicht unterbewußt bewegt, ihre Gedanken nicht hetzen können, sondern sich ebenso rund und schlechthin vollkommen einer an den anderen fügen wie die Perlen auf einer von ihnen verborgenen Schnur. Die edle Ruhe und stille Größe dieser Schrift wirkt auf mich wie eine Antwort auf die brennende Frage, wessen der Mensch von heute mehr bedarf als dieser Mütter alles Großen: der Ruhe und der Stille, die ihm in gleicher Weise not tun wie die leibliche Nahrung. Die Betrachtung dieser Schrift, die wie jede andere ein Spiegelbild der Seele ist, weckt überdies die Erinnerung, daß die in europäischen Sprachen schon weit auseinander-stee;bnd£ii., Begriffe- von ...„Schreiben“, .und, „Malen“ noch im heutigen Russisch durch ein und dasselbe Wort wiedergegeben werden wie einst in unserer germanischen Frühzeit, da das Schreiben noch zu den Künsten gehörte.

AIja wäre keine Russin, wenn ihren Lebensweg nicht ein Uebermaß an Leid gekreuzt hätte und ein ebenso reiches Maß an warmherzigem Mitleid mit allen Menschen, ja mit der Kreatur ihre Seele füllte. Nicht zufällig, sondern aus innerer Berufung hat sie in meisterhaften Bildern das Wesen jenes Dichters dargestellt, der das Leid als unumgängliche Quelle innerer Vertiefung erlebt und erkannt hatte, Dostojewsky. Wie viele Künder des Hohen, Schönen und Wahren sind erst durch Leid und Todesnähe gegangen, bevor sie der Menschheit etwas zu sagen hatten! AIja zeigt immer wieder auf, daß nicht nur jeder von uns ein Kreuz trägt, sondern: wie er es tragen kann und tragen soll, auf daß er von ihm nicht zur Erde gedrückt werde, sondern sich unter ihm bewähre, an Kräften des Lichtes wachse und bestehen könne.

Es ist gewiß: Etwas von einer Glücksgöttin hat AIja an sich. Ich glaube, daß es keinen Mühseligen und Beladenen gibt, der nicht innerlich bereichert und ausgewogen aus dem Bann ihrer Schilderungen heimkehre, gedankenvoller die Stufen der Vortreppe ihres bescheidenen, sonnendurchfluteten Hauses hinunterschritte, als er sie hinaufstieg,

Und noch eines: Die ratlos emsige Gestalterin von Gegenwart und Vergangenheit findet, weil von unendlicher Liebe erfüllt, neben ihrer unermüdlichen Arbeit als Dichterin noch immer — was den meisten heute abhanden gekommen ist —, sie findet Zeit, Zeit zu karitativem Wirken, mit dem sie manches Leid gemildert und tatkräftig mitgeholfen hat, Argbedrängten Zuversicht in die Güte des Nächsten zurückzugeben und sinkenden Lebensmut wiederaufzurichten. Diese einer breiteren Oeffentlichkeit verborgene Seite von Aljas Wesen vermag ich nicht anders auszudrücken als mit den Worten des großen österreichischen Dichters Franz Grillparzer:

„Gefühl, das sich in Herzenswärme sonnte, Verstand, wenngleich von Güte überragt, Ans Märchen grenzt, was sie für andre konnte, An Heilgenschein, was sie sich selbst versagt. Der Zweifel, der mir schwarz oft nachgestrebet: Ob Güte sei? Durch sie ward er erhellt; Der Mensch ist gut, ich weiß es, denn sie lebet, Ihr Herz ist Bürge mir für eine Welt.“

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