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Der Seher

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Er schaut auf das noch sonnenbestrahlte UNO-Gebäu-de jenseits der Stadtpfanne am Horizont, das seinen Blipk über Wien begrenzt; noch nieTiat er es so, umrahmt von Föhrenwipfeln, gesehen. Auf den Fenstern des rotierenden Restaurants im sehe-- menhaft den Abenddunst durchstoßenden Donauturm blitzt für jeweils eine Sekunde die sich wiederholende Spiegelung der Abendsonne auf, die hinter ihm über der Kuppe des Hochbergs schon versunken ist. Gelten diese silbrigen Pfeile in seine Pupillen als Morsezeichen aus der letzten Finsternis, als Tod, der ihn scharf ins Auge faßt?

Drei Jahre hat er mit ihm um seine Frau gerungen und ist unterlegen. Während dieser Zeit hat er ihn, abgelenkt durch Zuwendung und Sorge, nie Aug in Aug gesehen, wie jetzt. Nur die Minuten am offenen Grab Ernestines vor sechs Jahren hatten seinen Widerstand so gebrochen, wie nun

die letzten zehn seiner unzähligen einsamen Wochen: Blutbrechen, Ohnmacht, Einlieferung, Transfusionen, Herzunterstützvmg, Magenresektion, gelähmte,

schmerzvolle Tage an den Uberlebensmaschinen, langsamer Aufbau zum Alleingehen rund ums Bett, schließlich Entlassung in diese Leere — eine bedrohliche Fremde, wieder ohne Ärzte und Schwestern, ohne das aufgetürmte chromblitzende Instrumentarium, ohne Dauerfürsorge.

Jetzt erst, seinen zerschnittenen, zerstochenen, vernähten Leib wie einen unverläßlichen Fremdkörper mit sich führend, an diesen Unzurechnungsfähigen gefesselt, überkommt ihn die ganze Angst!

Seine lärmenden, ausgelassenen Mitbewohner in dem Genesungsheim, aus dessen Park sein Blick über Wien schweift — hundert ebenfalls Schwer operierte, freilich wesentlich Jüngere — bedeuten jetzt eine Belastung für ihn durch ihre Enthemmung nach den Leiden, die sie eben überstanden habep: ihr Anblick, ihre Reden, ihr Übermut schmerzen ihn wie eine Entwendung, wie das mutwillige Versagen eines Anspruchs.

Essensnörgeleien am Heim, Freßwahn und Trinksucht in den umliegenden Weinschenken, Fernsehexzesse und plumpe Angeberei. Mehrere rekonvaleszente Ehefrauen lassen zur Besuchszeit ihre Märmer kommen und führen die in den einsamen Leidnächten der Spitalssäle beschlossenen und vorbereiteten Trennungsgespräche …

Aus der nun andrängenden Dämmerung klingen die ihm fremdartigen Glocken der Rodauner Bergkirche, auf deren Turm er von seiner Aussicbts-bank hinunterblickt. Zum Himmelfahrtstag saß er lang vor Beginn der Festmesse in den noch leeren Bankreihen und las aus dem Liederbuch die Abschnitte über Krankheit und Tod. Beim Lesen des dort ganz frei im Satzbild hingedruckten Gebets „Ich habe keinen Menschen!" begann er zu weinen.

Wieso wird der unverstellte, un-verblendete Mensch, der von sich selbst absieht, langfristig leiblich bestraft auf dem Umweg über die Unterlassung der üblichen selbstsüchtigen Vorkehrungen durch Vereinzelung, Abstoßung,

Krankheit, vorzeitige Schwächung? Ob aber eine enthobMie, selbstvergessene Position vielleicht ein Frevel ist, unerlaubtes Hindrängen zu verfrühter himmlischer Sichtweise?

Stundenlang ist er durch die ihm bisher unbekannten Wienerwald-Ortschaften gewandert. Er hat in jeden Garten und Hof geschaut, die Rasen, die Pfade, die windgeschützten Ruheplätze, die Schaukeln und Badebecken und Liegestühle beobachtet, mehr noch, er hat diese Idyllen in him-derten Variationen gierig in seine Seele gesaugt, über das trockene, staubige Gefels seiner siebzigjährigen Armut geschlürft, eine ihm unbekannte, von ihm nie genossene, heimelige Erde, Wohnstätte für glücklichere Menschen. Ohne Neid genießt er diese einladenden, nur durch wertvolle Einfriedungen erkennbare, selig auszumalende Plätze. Solche Blumen, ja sogar ganze Bäume besitzen …. ohne je fortgehen, abreisen, sie je verlassen zu müssen?

Er selbst hat die Opfer, die Ruir nen, das Chaos der Weltkriege, ja dieses ganzen Jahrhunderts bis heute nicht überwunden. Mit dem Hirn kommt er angesichts der Weltzustände zu Schlüssen, die so entsetzlich sind, daß man sie nicht weiterdenken kann. Das Herz freilich hofft immer.

Seine unbedrohte Stunde nun vor dem Abendwind aus dem Föhrenhain empfindet er als Wunder, befristet, unverdient, als einen ständig offen bleibenden Kredit, dessen Eintreiber täglich erscheinen kann. Mitleidig denkt er an seine für immer verlassenen Mitpatienten im Spital: eine kleine, magere Neunzigjährige, die tief gebückt täglich einige Minuten über den Gang wankte, von den Schwestern gestützt, ihr überheller, lebenskräftiger Blick, hellblau, wässrig, fragend.

Er selbst schlich stets gekrümmt wie ein Engerling durch die Stiegenhäuser, die brennenden Operationswunden zerrten sein Genick erdwärts. Eine uralte, immer laut aufweinende Epileptikerin schrie ständig nach ihrer Tochter, die aber hochbezahlt für die UNO unterwegs war und nur alle paar Wochen einmal erschien.

Unauflöslicher Widerspruch: es ist mir alles im Leben mißlungen, ich kann mein Schicksal nur als endlose Qual verstehen, oder bestenfalls als unablässige Prüfung, und in diesem Punkt keinen Schritt zurücktun - gleichzeitig kommt mir bei dem Gedanken an das baldige Ende Wasser in die Augen. Was schreckt daran? Der entsetzliche Betrug an so viel Anstrengung?

Sein Leben lang hat er als Setzer alle ihm vorgelegten Manuskripte vorschrif tsmäßig^uch mit dem Verstand verarbeitet. Hunderttausende Texte druckfehlerlos abgesetzt, eingerichtet, ausgelegt; später als Revisor stets kollegial das Äußerste getan für Beruf und Dienstgeber imd den betrieblichen Frieden.

Aber hat er jemals ein inniges Verhältnis, ein ihn ganz umschließendes Vertrauen zu irgend einem Menschen genossen? Einigkeit, Einheit, deren Wärme, Schönheit, Festigkeit, Glück über die Lebenszeit hinausgewiesen hätten? Quasi ein unabweisbares Vorzeichen für Unzerstörbares? Nie hat er eine solche Liebe erlebt als eine Verweisung in Haltbares, etwas so Glaubwürdiges, daß die lebensprägende Sorge vor der Illusion zurückgedrängt würde.

Vor einer Woche, am Tag seiner Spitalsentlassung und Uberführung in diese Heilstätte, ging die Nachricht von einem Erdbeben auf dem Semmering durch die Zeitungen. Und gestern ein Erdbeben in Neunkirchen! Es nähert sich. Es kündigt sich ihm an. Ein paar Jahrhunderte ohne große Schäden in diesem Gebiet beweisen nichts.

Heute früh hat sich die Serviererin geirrt und ihm verbotenen Kaffee aufgetischt! Er hat ihn schweigend ausgetrunken. Die benachbarte irre Greisin in seiner Fensternische, die ihren strengen Bück immer wieder durch regenverwaschene Scheiben auf die leeren Parkbänke hinausrichtete, fragte unablässig, wie lange dieses Kaffeehaus wohl noch existieren könne, wenn sie beide die einzigen Gäste seien.

Ein Einsiedler hat sich, um heilig zu werden, an einen Baum gekettet. Der Baum, an den er sich befestigt hatte, um vollkommen zu werden, ist längst verdorrt; die Kette ist verrostet. Aber er sitzt immer noch in Ergebenheitshaltung auf der einmal gewählten Bußstätte.

Er hat das imtrügliche Gefühl, eine wohltuende Eingebung, als ob sein inneres Leben, das geistige Drama, der durchaus immer noch reizvolle, ja beglückende seelische Pfad einfach weiterginge, gänzlich unabhängig von dem fremd gewordenen, hinfälligen eigenen Körper, der da noch eine Nebenrolle spielt mit seinen ab-|seitigen, äußerlichen, sichtbaren Verstrickungen. Ich .werde ganz ohne Aufregung sterben.

Die packenden, ja berauschenden, erleuchtenden, unvergeßlichen Fernsehbilder abhebender Weltraumraketen sind Inbegriff für Stromlinie, Vorbild für die letzte Schlankheit des Willens vor dem hauchenden Widerstand Gottes: Haltegerüste, Kabeln, Versorgungsleitungen, kippen seitwärts ab, dann stemmt sich der mächtige, überschlanke Himmelskörper wie in überwältigendem, heiligem Eigensinn aus dem Anziehungsbereich der Welt hinaus.

Die Unangemessenheit dieses angestrengten Denkens und Vergleichens ist ihm klar. Abermillionen sind vor ihm gestorben, deren Bedeutung die seine weit übertrifft, aber er kann sich nicht künstlich in das Stadium angstlosen, wortlosen Einverständnissees versetzen. Kinderzeit, Jugenderinnerungen, einige Stationen seines Lebens drängen heran. „Selig die Trauernden!" erinnert er sich und erwägt halbgläubig diese so befremdende Preisung.

Jenseits dieses gänzlich un-diu-chdringlichen, unerreichbaren, unbesitzbaren Föhrenparks, dessen Kühle jetzt schneidend andrängt und das breite, hohe Gewölk schwärzlich einfärbt, flimmern die Nachtlichter Wiens auf. Er versenkt sich in Beobachtungen und deren Verknüpfung mit einem selbstlosen Interesse, er vertieft sich in deren Herkunft und mögliche Entwicklung ohne Ansehen seiner Person. Diese Erkenntnisse genießen ein Eigenleben von starker, lang andauernder Tragkraft. Aufschreckend entsinnt er sich seiner selbst, erinnert sich der ihm schon ganz unglaubwürdig erscheinenden Bindung dieses Sehens an die zufällige fleischliche Gestalt, die ihn ausmacht, die hier auf einer völlig unvertrauten Holzbank ruht und die zu ihm gehört, wie gemäß einer unverbindlichen, weitzurückliegenden Ubereinkunft, deren Anlaß und Gültigkeit längst überholt sind…

Immer wieder die im fernen Bildrand aufgerichtete Hand des Donauturms: er erirmert sich der beiden Ballonfahrer, die, vom Wind gegen den gewaltigen Betonschaft getrieben, sich noch an seine glatte Wölbung klanunern wollten, ehe sie in Gegenrichtung der Verjüngung, von der schmalen Krönung abwärts ans Fundament zu Tod stürzten.

Die ihn immer noch fixierende, fesselnde Spiegelung aus dem fernen Drehrestaurant ist in untrügliches, strahlkräftiges Eigenlicht übergegangen, dessen Vibrieren quer über die prasselnde Stadtmulde bis zu seinem Waldrand funkelt. Die Drehung der riesigen, gewölbten, leuchtenden Glasflächen wirkt auf ihn wie ein Sog.

Die in der unirdischen Schwingung einer gotischen Heiligengestalt seinen Leib überziehenden roten Schnittnarben richten sich nach diesem Sog, klären sich zu ihrer vollendeten, bald nicht mehr bewegten Linie.

Es ist kein Leibschmerz, der seine kalten Hände kräftig gegen die Kleider drücken läßt.

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