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Abschied von Rußland

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Am 30. Dezember 1920 bereits erließ der VIII. Alirussische Sowjetkongreß jenen ersten Demobilisierungsbefehl, c£er schon von Kalinin gezeichnet ist. Alle Gegner waren geschlagen.

Begreift jemand, das Geheimnis dieses Reichs? Freilich, man kann ursächliche Erklärungen finden, man kann Von der Korrumpierung der gegnerischen Truppen durch bolschewistische Agitatoren sprechen, von den, vielen, zugunsten der Roten.angezettelten Bauernaufständen, deren Freischärler den Weißen auf Schritt und Tritt größten Schaden taten, oder man kann auch auf die überlegene Persönlichkeit Lenins hinweisen und auf Leo . Trotzkis militärisches Ingenium. Am Ende könnte man noch, die Kriegsmüdigkeit der Entente-Staaten zur Erklärung heranziehen oder auch die parlamentarischen Schwierigkeiten in diesen Ländern anführen, die dadurch entstanden, daß die linken Flügel der Parlamente gegen die Bewilligung der für die Intervention in Rußand nötigen Geldmittel opponierten. Ist damit aber der Sieg der bittersten Armut und Not über die reichsten Machtmittel erklärt, der Sieg der in einen bestimmten Gedanken verrannten Einfalt gegen die überblickende westliche Weltklugheit — ist mit alledem dieser schlechthin wider jede vernünftige Erwartung, errungene Sieg hinreichend erklärt, der es für immer verhinderte, daß Rußland eine Provinz und ein Ableger des Westens werde? Begreift jemand das Geheimnis dieses Reichs? Was bedeutet es, daß die Roten wider jede vernünftige Erwartung siegten und die Fremden aus dem Lande jagten, was bedeutet es, daß . dieser Kommunismus, der doch von höchst westlicher geistiger Abkunft ist, am Ende gerade die Aufgabe erfüllte, Rußland für lange Zeit vom Westen abzuschließen — und was bedeutet es endlich, daß jene vielberufene „Weütrevolution“, von deren Kommen oder Ausbleiben ja die ganze kommunistische Sache letztlich abhängt, daß dieses Ziel der „Diktatur des Proletariates“ — ausblieb? War Lenin, der Internationalist, Freigeist und Gottesleugner, etwa nur der treueste Knecht des heiligen Rußland, so getreu, daß er selbst es nicht wissen konnte und erst spätere Zeiten dahinterkommen Werden? '*

Brauende Nebel entzogen jedoch den kraftvoll handelnden Führern gänzlich das Bild einer ferneren Zukunft, deren Anblick ihre t}berzeuT gung vielleicht gelähmt hätte; aber gerade all diese Überzeugungen waren ja die besten Mittel, um ihr zu dienen. Jetzt und in der hellen Gegenwart geschah zunächst das denkbar Unwahrscheinlichste: schön im Frühjahr 1919 begann sich die rote Front immer mehr und mehr gegen Sibirien vorzuschieben, von West nach Ost, ein finsteres Gebirge aus Trümmern, Flammen und Menschenleibern, das über die unermeßlichen Landbreiten hin voftfcanderte.

Der Sommer war da. Alwersik und Stangeier lungerten am Kai auf einer Bank, jener noch immer in der Uniform eines Rotarmisten mit dem Abzeichen, des Führers. Das Wasser plantschte ans Ufer, der Strom zog im Abend; die Inseln schienen zu schwimmen. Es war ein lauer Som-merabetnd, der ganze Kai wimmelte von Pärchen.

„Sage mir, Stangeier, warum du eigentlich noch immer hier bist?“ „Du weißt es“, sagte der Schief-äugige.

,,Ich will durchgehen“, sagte Jan trocken. Er hatte bisher noch niemals eine solche Absicht geäußert. „Ich weiß, daß mich dies das Leben kosten kann. ■ Aber gleichwohl, ich will. Ich kann in Rußland nicht mehr leben.“

;,Ich werde mit dir gehen.“ „Weißt du, was es bedeuten kann, mit mir zusammen erwischt zu werden?“

„Ja, das weiß, ich sehr gut.“ „Wollen wir also zusammen losgehen?“ - . „Ja.“

Sie begannen am selben Abend ihre ' Vorbereitungen. Am Bahnhof stand ein Lastzug mit beschädigten Automobilen, Flugzeugen und anderem Kriegsmaterial, zurück nach Moskau zur Ausbesserung bestimmt. Sie nisteten sich nach einigen Tagen im Rumpf eines Aeroplanes ein, mit viel Wasser und Proviant. Alwersik hatte vergebens versucht, irgendeinen dienstlichen Vorwand mit Reiseauftrag nach dem Westen zu finden, wobei er ja Stangeier irgendwie hätte mitnehmen können. Abwarten aber wollte Jan nicht mehr, er drängte; auch behagte ihm wohl diese ganze Art am meisten. Sie kamen recht gut bis Omsk. Dort aber wurde ihr Versteck unsicher, da man einen Teil der Militärgüter bereits zur Überstellung in die hiesigen Werkstätten ablud. Sie schwindelten sich ohne Fahrkarten — solche bekam man nUr gegen Reisebewilligungsschein — noch ein Stück auf der' Bahn weiter nach Westen, aber dies ging nicht gut, gerade auf diesem Teil der Strecke war die behördliche Überwachung unangenehm scharf. Jan verlor wieder die Geduld, drängte vorwärts und überhaupt fort von der Eisenbahn und den Städten — was in seiner Lage begreiflich war —, und so marschierten sie nach Süden in die Steppen hinein und dann westwärts, um zu Fuß ins europäische Rußland zu gelangen.

Viele nahmen damals In ähnlicher Weise Abschied, bevor noch die ersten Transportzüge, von denen vorläufig nur geredet wurde, wirklich zu rollen begannen. Vor vielen schlug sich so noch einmal, für Wochen und Monate ihres Wanderns, die Landschaft auf wie ein mächtiger Foliant, und viele krochen über dessen breite Wölbung und verließen ihn schließlich, die meisten wohl wie Bücherläuse, die nur gefressen, aber nicht gelesen haben. Und so entließ Rußland mit der Zeit auch seine letzten westlichen Fremdlinge. Den Abwandernden bot vieltausendfach noch der Bauer am Weg das gastliche Dach, das freundliche Wort, teilte sein Brot und seinen Milchtopf mit ihnen, fragte, ob wohl die Mutter daheim noch lebe, ob etwa eine Braut oder Frau oder gar Kinderchen dort drüben in Deutschland den Heimkehrenden erwarteten? Und wann man denn die letzte Nachricht von ihnen erhalten habe? Da wurden auch jene letzten denkwürdigen Gespräche geführt über die Sünde der Teilnahme an den Kriegen und die Erlösung davon durch unseren Herrn Jesus Christus. So erteilte der Bauer noch rasch, gleichsam im letzten Augenblick, den Abwandernden den notwendigen' Unterricht, der auch so manchem Gottlosen auf solche Weise treuherzig geboten ward.

Auch Stangeier und Alwersik empfanden des Bauern milde Hand und .wurden ein großes. Stück ihres Weges von ihr gesegnet. Nur in den Kirgisengebieten fehlte ihnen dieser Beschützer und Gastfreund, und sie zagen der Nächtigung in den von üblem Geruch erfüllten Jurten das Schlafen am Lagerfeuer in' der Steppe draußen weitaus vor. Und (wehmütig-erheiternd!) der Soldat kam nun bei beiden wieder zum Vorschein, sei es in den raschen, zweckmäßigen und korrekten Griffen, mit denen sie morgens ihre Rucksäcke aufpackten, oder sei es in der Art des Marschieren, wie sie da stundenlang schweigend nebeneinander her-kofferten. Abends zogen sie dann das Los zur Verteilung der Wache: Vor-Mittemacht, Nach-Mittemacht.

Da saß man denn neben dem flakkern den und glimmernden Haufen aus trockenem Pferde- und Kamel-moist, dem Kochmittel fo baumloser Gegend, sah in die leere Weite hinaus, die an trüben Taigen wie durch einen grauen eisernen Vorhang abgeschlossen schien, betrachtete wohl auch einmal die von den Flammen belichterten Züge des schlafenden Kameraden.

Dein Gesicht, nah und frei gegen mich heranstehend, du, ein einzelner für dich in der Landschaft, frei wie ich oder Baum und Stein; der Handschlag, der nicht binden will und der doch bindet und schafft ein Band, so unabhängig von allen Stößen und Zwängen, denen wir Sklaven pflich-tig sind; nur solche Hände, von Käfig zu Käfig gestreckt, in denen wir Bestien sitzen, nur solche Hände sind frei, und -wir, die Gehetzten, erschauen das erhabene Reich, an dem wir unser unverbrüchlich Ziel behalten, öffnet sich aber dieses Tor, ja danin kann freilich auch der östliche Pflüger mit seinem Gerät aus weiter Feme knapp neben den traurigen Knaben treten, der deutsche Bauer neben das weiße Staket, der Wartende neben den Tempeldiener, und dieses ganze Gewölle, dieser ganze Ballten, den wir da ausgespden haben, diese ganze Kugel rinnt kreisend in eins zusammen und ist groß, wenn auch überschaubar, so daß wir etwas das aus Trümmern und Menschenleibern aufgetürmte Gebirg eines Krieges deutlich sehen können, das finster darauf von Westen nach Osten wandert und den ganzen Horizont dunkelrot aufbrennen läßt: ja, auch das geht drein, wenn wir's auch nur noch durch die sich schon wieder verengenden Spalten seihen können, wie sie eben noch verbleiben zwischen der einzelnen Geliebten, dem einzelnen örtlichen Pflüger, dem einzelnen Peitschenstiel und der jetzt wieder geschlossenen Tür zum Nebenzimmer. Denn jene feine, am gegenüberliegenden Stadtrand überall verteilte Sehnsucht ist ja doch wollend, steht doch gedrängt schon wieder knapp vor der Grenze, wo alles zu einzelner Gestalt gerinnen muß — formt sie nicht da und dort schon ein dir, ein mir vorbestimmtes Antlitz? Fließt es aus ihrem Nebel nicht zusammen? Welchem Glanz und zugleich weiterhin welch einen Sturz aus dem Himmel wird es bedeuten, wenn solch ein Antlitz wieder einmal wirklich gestaltet vorspringt, allsogleich seitwärts in Zeit und Fleisch abfallend! Jetzt aber wittern seine Züge noch geisterhaft im Westen dort am fernen Horizont; während hier ein unverstellter Sternenhimmel die Steppe und die beiden Männer überwölbt. Lebt wohl, Kameraden.

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