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Der letzte Tag

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Die Nacht auf den Freitag, 11. März 1938, war unruhig. Gruppen unserer wackeren Jugend, die zur Werbung für die Abstimmung am Sonntag unterwegs waren, riefen mich wiederholt an und berichteten Überfälle von Bewaffneten. In der Siebensterngasse malten Studenten eben große Ja auf die Trottoirs, um die Passanten an die große Frage zu erinnern, ob Österreich ein freies Land sein wolle. Plötzlich standen mehrere Männer vor ihnen, militärisch ausgerichtet, Pistolen in den Händen. Eine knarrende Stimme befahl: „Oberland! An — Feuer!“ Schüsse krachten. Mehrere der waffenlosen jungen Leute stürzen verwundet zusammen, die Banditen verschwinden im Laufschritt. Um die Ecke kommt ein Wachmann, stutzt und zieht sich zurück, auf die Rufe der Überfallenen nicht achtend. Nach dieser Schablone verliefen auch andere Angriffe, alle offenkundig wohl eingeübt. Woher kamen die Rowdies? In den letzten Tagen war gelegentlich gemeldet worden, daß nach dem Anlangen bayrischer Donauschiffe in Wien Abenteurergestalten auftauchten. Nun übten sie ihr übles Handwerk aus.

Am frühen Vormittag sagte ich mich beim Bundeskanzler an, um den Schutz der Volksbefragung gegen den drohenden Terror zu besprechen. Schuschnigg informierte mich über den stündlich wachsenden Druck Berlins, das diese Abstimmung des österreichischen Volkes unter allen Umständen verhindern wollte. Die auf dem Obersalzberg aufgenötigten „nationalen“ Elemente in der Regierung änderten fortwährend ihre Haltung, als hingen sie an unsichtbaren Drähten, die von ferne her gelenkt wurden. Bald verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, daß ein besonderer Bevollmächtigter Berlins in Aspern gelandet und sofort in die deutsche Gesandtschaft; gefahren sei, wo er den Hörigen des Dritten Reiches Befehle überbrachte. Dann erst begab er sich in das Bundeskanzleramt.

Die unruhige Sorge, die rasch um o sieli griff, führte mir viele Besudle zu, Freunde und Gegner, darunter zahlreiche Betriebsräte. In der Schicksalsstunde des Vaterlandes bildete sich eine Gemeinschaft der echten Österreicher. Manche meiner Besucher sandte ich zum Kanzler, damit er an diesem sdiweren Tage erfahre, daß die Vaterlandstreue den breiten und tiefen Graben überbrückte, den der unglückliche Bruderkrieg des Februar hinterlassen hatte.

Am Nachmittage dieses Freitags, letzten freien Tages für lange, wurde ich neuerdings zum Kanzler bestellt. Dort traf idi Kienböck, Ender, Reither uhd andere Freunde. Der Kanzler berichtete. Ich merkte ihm an, daß er seelisch schwer litt. Von Natur aus eher zur Verschlossenheit neigend, beherrsdite er sich und sprach scheinbar gleichmütig und sachlich wie sonst. Während die Aussprache im Gange war, rief mich der Bundespräsident zu sidi. Auch an ihm, den ich so gut kannte, waren die Merkmale stärkster seelisdier Spannung unverkennbar. Kaum hatte er zu sprechen begonnen, als Generalleutnant Muff, der deutsche Militärattache und Agitator, gemeldet wurde. Ich wollte gehen, Miklas hielt mich zurüdt. Muff blies zuerst eine Fanfare: die große historische Stunde sei gekommen, die alle Deutschen in einem tausendjährigen Reiche vereinige, und er beschwöre den Bundespräsidenten, jetzt nur daran und an nichts anderes zu denken. Drohend fügte er mit erhobener Stimme hinzu: „Ich habe von Marschall Göring den Auftrag erhalten, Ihnen zu eröffnen, daß 300.000 Mann aller Waffen im Raume Passaü — Reidienhall bereitsteheii, um Österreich zu besetzen, wenn nicht binnen einer Stunde die Regierung Seyß-Tnquart ernannt wird." Mit eindrucksvoller Würde lehnte Miklas die Erpressung ab, worauf der Agent im Generalsrange die Taktik änderte: Er wisse, daß Miklas als Katholik die Verfolgung der Kirche durch die NSDAP fürchte. Auch dieses Regime werde vorübergehen, das Reith aber bestehen bleiben. Mit einem haßvollen Blicke auf midi warnte er Miklas, Leuten meiner Gesinnung zu vertrauen. Idi gab Muff die ihm gebührende Antwort und verließ den Salon des Präsidenten, um Schuschnigg zu verständigen. Inzwischen hatte dieser bereits durch den Berliner Bevollmächtigten die Mitteilung des Ultimatums erhalten. Die deutsdie Regierung hatte also durch einen Doppelangriff auf Bundespräsident und Kanzler versucht, Verwirrung zu erzeugen.

Unsere Lage war sehr ernst geworden und die Meldungen von der Westgrenze unseres Staates steigerten die Sorge: von dort wurden umfangreiche militärische Bewegungen berichtet, deren Absichten immer deutlicher zu erkennen waren. Nur Bluff? Oder Beginn des Angriffes überlegener Kräfte? Was werden die beiden Führungsmächte des Völkerbundes tun, wenn Österreich, ein Mitglied des Völkerbundes, und durch diesen garantiert, mit Waffengewalt überfallen wird? Die Antworten der Gesandten lauten bisher entmutigend. Man holt mich zum Telephon. Paris ruft. Einer unserer dortigen Journalisten beschwört Wien, jetzt ja nicht die Nerven zu verlieren, in Paris bereite sich etwas ganz Großes vor. Ich antworte, Paris müsse sich sehr beeilen, wenn es nicht zu spät kommen wolle. Gerade damals war Frankreich ohne handlungsfähige Regierung und niemand konnte sagen, ob Delbos, der sich für Österreich erklärt hatte, im Amte bleiben werde. Und wenn, würde Frankreich das Wagnis mit Hitlerdeutschland auf sich nehmen — ohne England? Die Berichte aus London aber waren sdion seit längerer Zeit hoffnungslos, dort wollte man keinen Konflikt mit Hitler, sondern suchte die Verständigung...

Von Stunde zu Stunde wurde der Gewaltapparat des Deutschen Reiches und die mörderische Parteimaschine der NSDAP auf schnellere Touren gebracht. Von aller Welt verlassen, mußte Österreich eine tragische Entscheidung finden. Kämpfen, um in Ehren unterzugehen? Viele waren dazu bereit, sie hofften, daß dann die Großmächte eingreifen würden. Eine blutige Katastrophe an sich aber konnte niemand verantworten. Blaß vor Erregung, wenn auch äußerlich ruhig, saß Schusdinigg lange schweigend da und rang um einen Entschluß, der das kleinere der drohenden Übel wählte. Dann sah der Kanzler auf. Seine Augen waren umflort und die Stimme schwankte, als er zu sprechen begann: Er sehe keinen anderen Ausweg als seinen Rüdetritt. In dieser Verlassenheit wäre das Blutvergießen sinnlos und unverantwortlich, denn es würde die Besten des Volkes ausrotten, ohne dem Vaterlande einen Nutzen zu bringen. Wer die grausame Härte nationalsozialistischer Parteirache kannte, verstand, daß der bittere Entschluß die vaterlandstreuen Österreicher retten und für eine bessere Zukunft bewahren wollte.

Schwerfällig erhoben wir uns, denn jeder trug die furchtbare Last dieser Stunde. „Herr Kanzler“, bat ich noch, „sage du unserem Volke und der ganzen Welt wenigstens noch die Tatsachen, die dich zum Rüdetritt zwingen!" Er nickte und gab Auftrag, rasch die Vorbereitungen für seine Radioansprache zu treffen. Indessen wir in düsterem Schweigen darauf warteten, stürzte Hans Hammerstein-F.cquord herein und stieß in höchster Erregung heraus: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein. Soeben höre ich den deutschen Sender durchgeben, daß in Wien StraßenkKmpfe seien und das Blut in Strömen vergossen werde. So niederträchtig wird über uns von Berlin und München gelogen, und wir sind alldem wehrlos ausgeliefert!“

Keinem Österreicher und auch keinem redlichen Ausländer wird die letzte Ansprache Kurt Schuschniggs vom Abend des 11. März 1938 jemals aus dem Gedächtnisse entschwinden. Aus ihm redete die Stimme eines vom Untergang bedrohten Volkes zu der Welt, die Hitlers Panzern die Straße nach Wien freigegeben, einem Gewaltmenschen und seinem blutigen System ein kleines Land als Opfer hingeworfen hatte — in der törichten Hoffnung, damit den

Gefürchteten vom eigenen Hao& x0026;e femzu-

halten.

Ich nahm von Schuschnigg Abschied. Wir reichten uns die Hand und sahen uns an. Wer konnte sagen, ob und wie wir uns einmal Wiedersehen würden? Das geräumige Zimmer der Präsidialisten war vollgestopft von Beamten, Journalisten und Freunden, die herbeigeeilt waren. Als idi der Türe zusdiritt, trat Leopold Figl an mich heran: „Wohin gehst du, Richard?“ „Dorthin, wo in dieser Stunde mein Platz 1st: zu meiner Familie und an den Sitz meines Amtes“, antwortete ich dem Freunde, drückte seine Hand und verließ das Bundeskanzleramt.

Die Straßen, die ich durchfuhr, waren um diese Stunde ruhig, fast mensdienleer. Und doch hatte ich das Gefühl, als lauerten überall verborgene Dämonen, um über dieses arme Volk und Land herzufallen.

Die Rathauswache verstärkte ihre Posten. Idi rechnete mit Gewaltstreidien der „Sieger“, deren Methoden der „Machtergreifung", saßen sie erst „legal“ in den Ämtern, schon vom Reidie her bekannt waren. Ich wollte nicht überrumpelt werden. Den leitenden Beamten, der midi erwartete, unterrichtete ich über die bedrohliche Lage und Rudolf Hießmanseder bewies in dieser Stunde wie in seinem ganzen Leben, daß er ein kluger, mutiger und treuer Mann war.

Sdiwerer fiel es mir, Frau und Kindern zu sagen, was nun voraussichtlich über uns kommen werde. Tapfer überwand meine Frau die Bangigkeit und wir überlegten, was in jedem Falle zu tun und wie yrir vor allem die jüngsten Kinder in eine ruhigere Umgebung bringen könnten. Als die familiären Sorgen durchbesprochen waren, ging idi in mein Arbeitszimmer und räumte mit Hilfe meines Sekretärs einen großen Sdiränk aus, der viele tausende Briefe und Berichte politischen und weltanschaulichen Inhalts barg. Mein täglicher Posteinlauf betrug damals an die siebenhundert Briefe, von denen ein erheblicher Teil den Schreibern verhängnisvoll werden mußte, wenn die Korrespondenz in die Hände der Gestapo fiel. Audi politisch harmlose Schreiben waren darunter, die ich als Sammler aufbewahrt hatte, weil es sich um Hand- sdiriften hervorragender Personen handelte. Jetzt fehlte mir aber die Zeit, zu siditen und zu sortieren, die Rücksicht auf die gefährdeten Gesinnungsfreunde war wichtiger und mußte vorangehen. So wanderte Korb um Korb voll beschriebenen Papiers in die

Zentralheizanlage, wo mein Sekretär die Einäscherung überwachte.

Während dies geschah, war es Nacht geworden. Drüben beim Kanzleramt hatten sidi Nationalsozialisten angesammelt und harrten der Verkündigung der neuen Regierung Seyß-Inquart. Idi hörte ihr Schreien durch das Fenster und zugleich im Radio. Als der Name Skubls fiel, riefen die Pgs. ihr Pfui. Miklas hatte darauf bestanden, Skubi in die Regierung als Staatssekretär für Sicherheit aufzunehmen, um so dem Mißbrauch der Amtsgewalt zur Verfolgung politischer Gegner zu steuern. Es war gut gemeint, die NSDAP dachte anders; sie stimmte schließlich zu, da sie jeden ihr un- erwünsditen Mann leicht stürzen und verhaften lassen konnte. Dann begannen die planmäßigen Umzüge. Audi zum Rathaus kamen lange Kolonnen, vornehmlidi HJ, BdM und SA. Ich stand am Fenster und sah auf den geräumigen Platz hinab. Mit Sprechchören und Sdiarliedern, lieblich mit Beschimpfungen meiner Person untermischt, zogen sie heran, hielten eine Weile und setzten dann den befohlenen Weg fort. Meine geübten Augen erkannten bald, daß immer wieder dieselben Trupps kamen — ein wohlbekanntes Mittelchen, größere Stärke vörzutäuschen.

Die Demonstrationen waren noch in vollem Gange, als der Kommandant der Rathauswadie mir meldete, daß eine Deputation der „Partei“ midi zu sprechen wünsche. Idi ließ sie vor. Ihr Führer war ein PolizeikommissHr. Ich verhielt ihn zur Legitimierung, und er wies die amtliche Ausweiskarte vor. Der Sprecher war ein früherer NS-Gemeinderat. Er begehrte nicht weniger als die Entwaffnung der Rathauswache und die Hissung einer Hakenkreuz- fahne. Beides lehnte ich ab und erinnerte die nächtlichen Besucher, daß wir noch auf dem Boden des österreichischen Staates standen und daß dessen Gesetze noch in Kraft waren. Enttäuscht verließen sie das Haus.

Dies war meine letzte Amtshandlung. Der letzte Tag des freien Österreich war zu Ende. Ich begab mich zu meiner Familie, um, mit ihr vereint, das harte Geschick zu erwarten, das nun über uns und viele her- einbrechen würde, bis die Sonne der Freiheit wieder über dem schwergeprüften Vaterland aufgehen konnte.

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