Das schnelle Ende der Illusionen

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Nach dem 12. März 1938 ließ der Nationalsozialismus die Maske fallen und gab Sadisten, Räubern und größenwahnsinnigen Niemanden freie Bahn.

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Nach dem 12. März 1938 ließ der Nationalsozialismus die Maske fallen und gab Sadisten, Räubern und größenwahnsinnigen Niemanden freie Bahn.

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In den Tagen und Wochen nach dem 12. März 1938 mußten sich die Österreicher daran gewöhnen, "Großdeutsche" zu sein. Den von Hitler Begeisterten fiel dies leicht. Aber auch unter jenen, die Hitler mehr oder weniger vehement ablehnten, haben viele den Anschluß akzeptiert oder sogar begrüßt. Selbst Sozialistenführer Otto Bauer schrieb im Pariser Exil, Hitler werde vorbeigehen, Österreichs Anschluß an Deutschland bleiben. Andererseits kam, wie sie später bestätigten, vielen ursprünglich begeisterten Nazis bereits in den ersten Tagen und Wochen nach dem Einmarsch angesichts dessen, was sie nun sahen, der große Ekel. Und dann gab es noch die große Gruppe derer, die den Ereignissen überhaupt nichts Positives abgewinnen konnten - sowie die gewaltige Gruppe all jener, die sich gern oder ungern, besser oder schlechter, den neuen Verhältnissen anpaßten.

Alle Schätzungen, wieviele Menschen welcher Gruppe so oder so gedacht oder empfunden haben könnten, bleiben Mutmaßungen, denn es gab keine Meinungsumfragen, und mangels einer freien Presse auch schon vor dem 12. März keine öffentliche Meinung. Weshalb Sätze wie der vom "wohl eigenartigsten und abruptesten Umschwenken der öffentlichen Meinung in der modernen Geschichte Europas" seltsam anmuten. (Nachzulesen in "Der Widerstand in Österreich" von Radomir Luza, Wien 1985) Am 12. Februar war die Nachricht, Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg sei von einer Aussprache mit Adolf Hitler in Berchtesgaden nach Wien zurückgekehrt, mitten in die von der gegängelten Presse herbeigeschriebene "gespenstische Normalität" (Furche 51/52/1997) hereingeplatzt. Nun sei alles in Ordnung, hieß es, während Schuschnigg, Hitlers Diktat gehorchend, die Regierung umbildete und den Obernazi Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister machte. Vorschläge, sich um bessere Sicherheitspartner als Mussolini umzuschauen, hatte Schuschnigg ignoriert. Am 12. März ging nichts mehr. Selbst die Flucht und der Aufbau einer Exilregierung, die Österreich nach dem Krieg zugute gekommen wäre, wies Schuschnigg von sich. Psychologische Vermutung: Vielleicht kam das Exil schon allein deshalb nicht in Frage, weil die "Vaterländischen" die nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 ins Ausland geflohenen führenden Sozialisten so ungerecht als Feiglinge und Verräter ihrer eigenen Leute beschimpft hatten.

Aber mußte Österreichs Bundespräsident Wilhelm Miklas dem Nazi-Bundeskanzler Seyß-Inquart wirklich einen Weg zeigen, wie er den Anschluß Österreichs an Deutschland selbst unterschreiben konnte, ohne daß sich Miklas damit bekleckerte? Nachdem er von Miklas am 11. März nach Schuschniggs Rücktritt als Bundeskanzler angelobt worden war, brachte ihm Seyß-Inquart am 13. März das Gesetz über die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" in seine von SS und SA umstellte Wohnung mit der Bitte, es als seine "letzte Tat zu unterschreiben". Die Minister im "Anschlußkabinett", die das Gesetz mitbeschlossen hatten, wurden nach dem Krieg als Hochverräter verurteilt - je früher der Prozeß, desto schwerer die Strafe: Finanzminister Neumayer bekam im Jänner 1946 lebenslang, Justizminister Franz Hueber im Dezember 1948 18 Jahre, die später auf zehn herabgesetzt wurden, Landwirtschaftsminister Anton Reinthaler im Oktober 1950 nur noch drei Jahre.

Miklas schilderte den Vorgang mehrmals, unter anderem einer nach Wien gereisten Delegation des Nürnberger Internationalen Militärtribunals als Zeuge im "Wilhelmstraßen-Prozeß". Er sei nicht der Gewalt gewichen, sondern habe Seyß-Inquart nur eine Handhabe zur verfassungsmäßigen Übernahme der Macht geboten, indem er ihm erklärte, daß ein Artikel existiere, nach welchem, falls der Bundespräsident durch irgendwelche Umstände verhindert sei, automatisch die Gesamtheit der präsidialen Funktionen auf den Regierungschef übergehe. Miklas erklärte sich für verhindert, und der Nazi-Kanzler unterschrieb das Anschlußgesetz im Einklang mit der österreichischen Verfassung als sein Vertreter. Schuschnigg blieb bis Kriegsende eingesperrt (Furche 38/1997), Miklas bezog auf persönliche Anweisung Hitlers bis 1945 den vollen Aktivbezug eines österreichischen Bundespräsidenten.

Unterdessen zeigte der Nationalsozialismus allenthalben sofort sein wahres Gesicht - und zwar ganz öffentlich und auf jedem sozialen Niveau. Hier einige typische Episoden aus der Zeit unmittelbar nach dem "Anschluß", die nach dem Krieg in Prozessen gegen NS-Straftäter zur Sprache kamen: In der Brigittenau trieben SA-Männer 300 Juden aus ihren Wohnungen in das Polizeigebäude in der Pappenheimgasse. Dort "amtierte" der Friseur N. als Kreisleiter, unterstützt vom Nazi-Schuldirektor B. als "Stellvertreter" und dem Spenglermeister O., der als "Protokollführer" fungierte und wenig später Obermeister der Installateurinnung und Besitzer einer jüdischen Villa in Pötzleinsdorf (und nach dem Krieg zu zehn Jahren verurteilt) wurde. Novacek erpreßte die Verhafteten unter Beschimpfungen und Mißhandlungen. Wer zahlen konnte, wurde freigelassen, Zahlungsunfähige wurden nackt ausgezogen und geprügelt. "Ertrag" der "Aktion": Schmuck und Geld für rund 200.000 Schilling - damalige. Heute ein Millionenbetrag.

Der Maurer O., einst Mitglied des sozialistischen Schutzbundes, später Vertrauensmann der Vaterländischen Front und Tempeldiener, wurde über Nacht Radikalnazi, holte im zweiten Bezirk Juden aus ihren Wohnungen, beschmierte ihre Gesichter mit Schuhpaste und führte den "Maskenumzug" in den Wurstelprater, wo die Gequälten zuerst ringelspielfahren und sodann wippen und froschhüpfen mußten, wozu O. Straßenstellen aussuchte, auf denen Pferdemist lag. Auf dem Sterneckplatz zwang er eine Sechzigjährige zu Kniebeugen mit einem wassergefüllten Lavoir und zum Dauerlauf.

Der Universitätsassistent S. ernannte sich sofort selbst zum kommissarischen Leiter der Hochschule für Bodenkultur, suspendierte Professoren und erließ Rundschreiben, die alle mit "Ich verfüge ..." begannen. Rektor Zederbauer wurde noch am gleichen Abend festgenommen, Professor Zeßner-Spitzenberg wenige Tage später. Zeßner starb bereits im August in Dachau, nachdem man ihn mit 41 Grad Fieber zu stundenlangem Appellstehen gezwungen hatte.

Die Nazi-Ortsgruppe Hainburg machte sich am 23. April 1938 eine besondere Hetz. 16 Mitglieder der Vaterländischen Front wurden gezwungen, das 1934 nach dem Juliputsch errichtete Dollfuß-Kreuz zu zersägen und damit in Hainburg an zwölf Stationen haltzumachen. Bei jeder Station wurden sie von den Nazis bespuckt und mißhandelt.

In Erdberg stürzten sich die Rabauken des berüchtigten SA-Sturms 7/24 unmittelbar nach dem Einmarsch mit dem Ruf ,Juden heraus!' in die Wohnungen von Juden, zerrten diese, ob Frau, Kind oder Greis, auf die Straßen und zwangen sie unter brutalen Verhöhnungen zum Straßenreiben. Jüdische Geschäfte wurden mit Wagenhebern aufgesprengt, vorgefundenes Geld wurde gestohlen, ein jüdischer Arzt, Dr. Kavar, wiederholt aus seiner Wohnung in der Schlachthausgasse geholt und blutiggeschlagen - solange, bis er Selbstmord beging.

In der Enenkelstraße in Ottakring geriet der Hifsarbeiter F. in einen Autoritätstaumel. Er schrieb mit Kreide groß das Wort ,Jude' auf die Mauer neben dem Lebensmittelgeschäft des Ehepaares Feldmar, in dem noch vor wenigen Tagen seine Frau auf Pump eingekauft hatte, stand in SA-Uniform stundenlang Wache und notierte die Namen der Kunden, die sich nicht davon abhalten ließen, im Geschäft einzukaufen. So geschehen aber an Hunderten Stellen überall in Wien.

Der Herr Nazi-Friseurmeister W. begab sich zu seinem ehemaligen jüdischen Kunden Dr. Kriegel und erpreßte von ihm mit der Drohung, ihn wegen "Beleidigung des Führers" nach Dachau zu bringen, eine "Parteispende" von tausend Schilling. Er hatte ihm 1936 eine Zeitung mit einem großen Hitlerbild auf der Titelseite in die Hand gedrückt, Dr. Kriegel aber hatte das Blatt wütend auf den Boden geworfen, das Geschäft verlassen und nie wieder betreten.

Fred Hennings ist einer der Nationalsozialisten, denen bereits graut. Er sieht den Burgschauspieler H. wenige Stunden nach der Okkupation Am Hof, in einem Haus, in dem er noch vor wenigen Tagen als braver "Vaterländischer" ein- und ausgegangen ist, mit Hakenkreuzbinde Dienst tun. Bald wird sich H. im Dienst der Gestapo in den konservativen Widerstand einschleichen und ein Dutzend Menschen aufs Schafott und über 100 in Lager und Gefängnisse bringen.

In Waidhofen an der Thaya läßt der neue Nazi-Primarius H. seinen mißliebigen Vorgänger so rabiat von Gendarmen aus dem Spital entfernen, daß er nicht einmal die Notoperation, für die er sich gerade bereitmacht, durchführen darf. Der Patient, ein Lehrer aus Eisgarn, stirbt an einem Blinddarm-Durchbruch.

Der sozialistische Journalist P. wird von der Gestapo verhaftet, aber kurz darauf wieder freigelassen. Bald wird er sich als bezahlter Spitzel in den RS-Widerstand (Revolutionäre Sozialisten) einschleichen und noch im Frühjahr den Fluchtplan von Käthe Leichter verraten. Käthe Leichter vor ihrem Tod im KZ Ravensbrück zu Rosa Jochmann: "Daß ich eingesperrt wurde, kann ich verstehen, daß aber ein Mensch, der Sozialist ist, ein Mensch, den ich wie einen Bruder geliebt habe, ein Verräter ist, das kann ich nicht verstehen."

In der Stadlergasse in Lainz befehligte der Chauffeur K. SA-Männer, die "Ariern", die noch bei Juden einkauften, Schilder mit der Aufschrift "Ich bin ehrlos und gemein und kaufe bei Juden ein" umhängten. Sie wurden fotografiert, das Bild erschien im "Völkischen Beobachter". Der Pharmazeut Magister G. betrat die Biber-Apotheke in der Porzellangasse und befahl dem jüdischen Inhaber, den Hut aufzusetzen und zu gehen, sonst werde er die Gestapo rufen. (Er bezahlte sodann weniger als die Hälfte des Wertes an die "Vermögensverkehrsstelle".) In der Polizeidirektion, in Kommissariaten und Wachstuben begannen geeichte Illegale, die alten Akten zu filzen. Viele österreichtreue Polizeibeamte, die in den letzten Jahren pflichtgemäß gegen die Nazis vorgegangen waren, wurden nun zurückgestuft oder zwangspensioniert.

Ein Herr Dr. P. arisierte die jüdische Handelsfirma "Saphir". Außerdem setzte er, um den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren, eine Jüdin namens Bial so unter Druck, daß sie sich aus dem 5. Stock ihres Hauses stürzte. Sie war eine von vielen. Überall in Wien drehten Juden den Gashahn auf, nahmen Gift, stürzten sich aus dem Fenster. Egon Friedell stieß einen Warnruf an die Passanten aus, bevor er sprang. Man braucht nur durch die Gräberreihen im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs zu gehen und die Todesdaten zu lesen, um eine Menge über den März 1938 in Wien zu erfahren.

Bis zum 12. März mag es möglich gewesen sein, sich Illusionen über den Nationalsozialismus zu machen. Wer Augen im Kopf hatte und die in diesen Wochen und Monaten benützte, war seine Illusionen los. Darunter viele überzeugte Nazis, die sich nun zumindest innerlich von ihrer Überzeugung lösten und in manchen Fällen gegen die Nazis zu agieren begannen.

Es gab eine breite Schicht von NS-Gegnern. Trotzdem standen die Chancen für einen wirkungsvollen Widerstand von Anfang an schlecht. Die Tatsache, daß das Land von den Nazis unterwandert war und ihre Gegner dieselbe Sprache sprachen, machte die Kontaktaufnahme zwischen mutmaßlichen Gesinnungsfreunden riskanter als in anderen besetzten Ländern. Die Kluft zwischen den weltanschaulichen Lagern, den Anhängern des christlichsozialen Diktaturls und den verbotenen und eingesperrten Linken, war auch nicht gerade ein Plus. Außerdem wartete die Gestapo nicht, bis jemand zur Tat schritt oder sich verdächtig machte.

Das Zentralkomitee der Revolutionären Sozialisten gab - nachzulesen in "Widerstand und Verfolgung in Wien 1934 - 1945", Band 2, Wien 1975 - als eine seiner letzten Handlungen in Österreich die Weisung aus, alle Aktivitäten für drei Monate einzustellen. Doch es bedurfte nicht der erst im September ausgegebenen Erinnerung des Chefs der Sicherheitspolizei Heydrich, "der präventiven Bekämpfung des Kommunismus und Marxismus ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden". Die Massenverhaftungen hatten bereits in der Nacht auf den 12. März begonnen.

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