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Ein Egozentriker mit manischem Messianismus

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11. März 1938. Hitler hat den Ein-marschbefehl unterschrieben, Göring mit Seyß-Inquart telefoniert, um ihn zu veranlassen, in einem Telegramm um die Entsendung deutscher Truppen zu bitten. In der Reichskanzlei in Berlin erleben der frühere Vizekanzler Franz von Papen, der frühere Außenminister Konstantin von Neurath und Hitlers Adjutant Hauptmann Fritz Wiedemann die Szene mit „Besorgt wendete sich Papen an Wiedemann: ,Was soll denn dieser Einmarsch mit Militär?' sagte er. ,Das bringt ja doch nur die Welt gegen uns auf. Polizei genügt doch völlig.' Wiedemann stimmte ihm zu, aber Neurath meinte: ,Er träumt doch seit Jahren schon davon, an der Spitze seiner Divisionen in Österreich einziehen zu können. Lassen wir ihm doch das Vergnügen!' “

Diese Szene, die Wiedemann schon 1964 in seinen Memoiren erwähnt hat und die nun John Toland in sein 1200-Seiten-Werk „Adolf Hitler“ übernimmt, enthält eine Fülle von Elementen, die nicht nur für die Lage im März 1938 typisch waren, sondern für die ganze Entwicklung seit 1933, die im Inferno des April 1945 enden sollte: Hitler, der zwar den Einmarschbefehl nach längerem Zögern, unterschreibt, aber doch stark der Getriebene ist; Göring als Treibender, der viel systematischer als der „Führer“ weiß, was im Moment zu tun ist - und es mit aller Brutalität tut -, den Vizekanzler Papen, Helfershelfer und beinahe auch Mordopfer zugleich (vier Jahre vorher war er mit Mühe den Mordkommandos der SS entkommen), stört nicht der Völkerrechtsbruch, der Uberfall auf den Nachbarn, sondern nur der Eindruck, den dieser Akt im Ausland machen könnte; die sicherlich berechtigte Annahme, dieses Ausland werde kaum etwas dagegen sagen, solange man „in der Familie“ bleibe; der konservative Baron Neurath schließlich, späterer Reichsprotektor in Böhmen-Mähren, der immer noch mit ironischem Bück auf die ihm nur zu verständlichen Träume seines obersten Chefs sieht, das „Vergnügen“ schließlich, das ein Schritt auf dem Weg zur Weltkatastrophe werden solL

Das „Vergnügen“ nahm seinen Lauf, obwohl Arthur Seyß-Inquart, gerade neuernannter österreichischer Bundeskanzler von Hitlers Gnaden, gemeinsam mit Hitlers Sonderbeauftragtem Wilhelm Keppler bemüht war, den Einmarschbefehl rückgängig zu machen. Das Ersuchen erreichte Hitler in der Nacht, er lehnte ab. Aber noch ein-

einhalb Stunden später „flehte der Chef der Operationsabteilung des OKW, General von Viebahn, Keitel telefonisch an, beim Führer den“ Verzicht auf den Einmarsch zu erwirken. Keitel versprach, es zu tun, und rief kurz darauf- ohne es getan zu haben - zurück und sagte, Hitler habe sich geweigert. Später gestand Keitel: ,Der Führer hat hiervon nie etwas erfahren, sein Urteil über die Führung des Heeres wäre sonst vernichtend gewesen, und das wollte ich beiden ersparen!'“

Weitere Charakteristika der Situation: der österreichische Spitzenfunktionär der neuen Epoche, der wenigstens versucht, einen eigenen Weg zu erhalten; der Mann aus der Reichs-

kanzlei, der ihn dabei unterstützt weil auch er überzeugt ist, es müßte ohne Einmarsch besser gehen; die Militärs, die auf die ungenügende Vorbereitung der von Hitler angeordneten Maßnahmen hinweisen, ohne sich Gehör verschaffen zu können. Und vor allem ihr oberster Sprecher, dem man schon damals den Spottnamen ,J_,akeitel“ verliehen hatte und dessen Hörigkeit dem „Führer“ gegenüber Ursache für so manche Katastrophe im militärischen Bereich werden sollte.

„Hitler war nicht mit der Absicht in seine Heimat gekommen, den Anschluß Österreichs im eigentlichen Sinn des Wortes zu verwirklichen, sondern stellte sich eine eher lockere Verbindung vor, wie sie früher zwischen Österreich und Ungarn bestanden hatte. Doch mit der Begeisterung des Tages änderten sich seine Vorstellungen, und seinem Burschen sagte er im Vertrauen: ,Es ist Schicksal, Linge; ich bin dazu bestimmt, der Führer zu sein, der alle Deutschen im Großdeutschen Reich vereinigt.“' So Toland nach Linges Angaben.

Auch hier wieder typisch: Hitlers zunächst verschwommene Vorstellungen von dem, was gerade durchgesetzt werden sollte; das zunächst zögernde Beginnen, um sich schließlich von den Ereignissen mitreißen zu lassen und jede Einzelheit als Beweis für den messianischen Auftrag zu werten,

als Untermauerung seiner Uberzeugung, das Schicksal Deutschlands, Europas, ja der Welt in diesem „Auftrag der Vorsehung“ gestalten zu müssen, nur nach eigenem Gutdünken.

Wer war dieser Adolf Hitler, der in Linz als Mittelschüler seine ersten Eindrücke empfängt und noch in den letzten Tagen vor dem endgültigen Zusammenbruch seiner Welt mit einem Architekten am Holzmodell des Linz der Zukunft spielt? Der vier Jahrelang in den Gräben der Westfront des Ersten Weltkriegs als Meldegänger eingesetzt war, nicht Unteroffizier wurde, weil seine Vorgesetzten keine Führungseigenschaften bei ihm entdek-kenkonnten—unddann25 Jahrespäter als oberster Kriegsherr der deutschen Armeen die Feldzüge nach eigenen Vorstellungen dirigieren wollte? Der vier Jahre lang alles miterlebte, was der Soldat eben mitzumachen pflegte, hoch dekoriert und vielfach belobigt wurde - und es später als „Führer“ scheute, Verwundete zu besuchen, weil ihn deren Aussehen bedrückt hätte? Der Millionen Menschen, auch durchaus kritische, in seinen Bann schlug und sie gefühllos machte für die Ungereimtheiten, die Ungehörigkeiten, die Ungeheuerlichkeiten seiner Thesen und seines Tuns?

Seit der Vorhang über der Götterdämmerung des Dritten Reichs niedergegangen ist, sind die Publikationen, die sich mit Hitler, seiner Zeit, seinen Mitkämpfern und Gegnern, seinen Aktionen befassen, Legion. Den frühen aus begreiflichen Gründen emotionellen und parteilichen Publikationen folgten mehr und mehr einwandfreie, objektive, historische Untersuchungen, für die die Sieger das Material aus eigenen wie deutschen Archiven bereitwillig zur Verfügung stellten (nur die sowjetischen Bestände sind für den westlichen Historiker kaum zugänglich). Ist nicht längst alles geklärt, was zur Zeit des Geschehens unklar, undurchsichtig schien?

Aber 33 Jahre nach Kriegsende leben noch viele jener Zeitgenossen, jener Akteure, ob einst in führender öder nur beobachtender Position. Nicht alle haben ihre Erinnerungen niedergelegt. Sie in seine Recherchen einbezogen zu haben, ist Tolands Verdienst-das Verzeichnis der von ihm interviewten Augenzeugen umfaßt 159 Namen, von Allan Dulles und Otto von Habsburg bis zu Sepp Dietrich, von Hitlers Schulkameraden bis zu seinen Sekretärinnen und Dienern.

Wer war dieser Hitler - und was ist Tolands Antwort? Im Vorwort zitiert er Graham Greene: „Die größten Heiligen besaßen eine das normale Maß übersteigende Fähigkeit zum Bösen, und die verworfensten Menschen kamen zuweilen heiliger Frömmigkeit sehr nahe.“ Und Toland folgert auf Hitler: „Da ihm der Himmel verschlossen war, wählte Adolf Hitler die Hölle -wenn ihm überhaupt je bewußt war, was beide unterscheidet. Getrieben von seinem furchtbaren Traum, Europa von den Juden zu .reinigen', wurde er zu einem Herrscher von luzi-ferischer Grausamkeit.“

Kann dies die ganze Antwort sein? Als im September 1944 Dr. Giesing Hitler wegen der Folgen des Attentats vom 20. Juli behandelte, führte er auch psychologische Tests durch. Seine Diagnose lautete: neurotischer Größenwahn. Das hätten die Männer seiner Umgebung schon seit Jahren feststellen können, jedesmal, wenn er sich auf die Vorsehung berief, die nur ihn ausersehen hätte, Deutschland zu retten; jedesmal, wenn er die Ratschläge der Fachleute in die Luft schlug, und sich nur auf seine Genialität verließ. Ein Egozentriker mit manischem Messianismus, ohne jede innere Bindung an Werte außerhalb seiner Willensvorstellungen, ohne Rücksicht auf sich und andere, dabei aber innerlich zerrissen, zeitweise schwach, entschlußlos. Auf „unabänderliche Entschlüsse“, die dieses oder jenes Problem „so oder so“ lösen sollten, folgten unmittelbar diametral entgegengesetzte Befehle. Von manchen Mitarbeitern läßt er sich stark beeinflussen, Widerspruch anderer wirkt in die entgegengesetzte Richtung.

Solche Diagnose aber erklärt noch nicht seine faszinierende Wirkung auf Millionenmassen wie auf einzelne in seiner Umgebung, Deutsche wie Ausländer. Es erklärt noch nicht die weiche, ja feige Haltung, die das ganze Ausland ihm gegenüber einnahm, bis er endlich den Bogen überspannt' hatte. An der Endbilanz des Zweiten Weltkrieges, an dessen Ausmaßen, trägt Hitler nicht allein die Schuld.

Auf über 1100 Seiten Text bietet John Toland, der selbst den Krieg als amerikanischer Luftwaffenoffizier miterlebt hat, ein faszinierendes Bild dieses Mannes und seiner Zeit, von den Vorfahren, deren Herkunft im Waldviertel im Nebel verschwindet, von den Jugendjahren bis zum Eintritt in die bayrische Armee, vom Schock der zeitweüigen Erblindung durch Giftgas

im Ersten Weltkrieg und des Zusammenbruchs über die Gründungsjahre der NSDAP, den 9. November 1923 und die Festungshaft in Landsberg (wo er „Mein Kampf schrieb), bis zur Ernennung zum Reichskanzler, vom Röhmputsch über Österreich und Böhmen bis zum Zweiten Weltkrieg und zum Inferno von Berlin. Neben den Direktinterviews verarbeitete Toland eine Vielfalt bekannter Publikationen, aber auch noch unbekannte Akten. Viele Ereignisse werden deutlicher, Zusammenhänge klarer, Einzelheiten runden das Bekannte ab.

Gerade aber im Detail leistet sich Toland mitunter zu viel .journalistische Großzügigkeit“ - etwa wenn er konstant schon vor 1923 Währungsangaben in „Reichsmark“ gibt, wenn er die bayrische Post -1920 in der Reichspost aufgegangen - noch 1921 als Beweis der bayrischen Sonderstellung aufführt, oder wenn er das nach der Abschiedsrede Schuschniggs am 12. März 1938 im Rundfunk abgespielte Kaiserquartett als „Nationalhymne“ bezeichnet, deren Mejodie -darin hat er wieder recht - der deutschen glich. Aus einem Dr. Huemer wird bei ihm ein Dr. Hümer, aus dem Morzinplatz - dem Zentrum der Gestapo in Wien - ein „Moritzplatz“!

Am 31. Jänner 1933 läßt er „Emmy Göring“ dem neuen Reichskanzler Hitler Glückwünsche überbringen - berichtet aber hundert Seiten später von der „Hollywood-Hochzeit“ Görings mit der Schauspielerin Emmy Sonnemann. Er spricht schon beim Parteitag 1934 von der „Wehrmacht“, die erst mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht aus der Reichswehr erwuchs. Er macht Franco schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs zum General, ebenso De Gaulle zum Zeitpunkt der französischen Kapitulation.

Daß Dollfuß durch zwei Schüsse (nicht nur einen) getötet wurde, konnte Toland bei Abfassung noch nicht bekannt sein - die Forschungen von Jag-schitz lagen noch nicht vor. Daß er auch auf die neuesten Versionen von Hitlers unehelichem Sohn in Frankreich nicht eingeht, ist ebenso erklärlich. Unkritisch übernimmt er die negative Beurteilung der Haltung Pius' XII. im Zweiten Weltkrieg, sein „Schweigen“ zu den Judenmassakem, seine Bevorzugung der Nazi gegenüber den Kommunisten.' Auch das ist längst widerlegt.

Trotz dieser Schlampereien, die wohl eher dem Lektorat als dem in deutschen und österreichischen Details nicht bewanderten Amerikaner anzulasten sind, ein Werk, das fasziniert, das Relationen zurechtrücken kann, das auch der Nachwelt vieles von dem klar macht, was die Väter erleben mußten.

ADOLF HITLER. Von John Toland, deutsch von Uwe Bahnsen. Gustav Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach, 1204 Seiten, Photos, öS 386,10

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