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Die Tragödie eines Erfolgreichen

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EIN LEBEN IN BRENNPUNKTEN UNSERER ZEIT. Von Toni Stolper. Rainer- Wunderlich-Verlag Hermann Leins, Tübingen 1961. 2. Auflage (Dezember, nach einer 1. Auflage im Oktober 1960). 502 Seiten. Preis 28.50 DM.

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EIN LEBEN IN BRENNPUNKTEN UNSERER ZEIT. Von Toni Stolper. Rainer- Wunderlich-Verlag Hermann Leins, Tübingen 1961. 2. Auflage (Dezember, nach einer 1. Auflage im Oktober 1960). 502 Seiten. Preis 28.50 DM.

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Gustav Stolper, am 25. Juli 1888 in Wien geboren, hat einen ungewöhnlich schnellen Aufstieg genommen. Sohn eines verarmten, doch gebildeten kleinen Bankbeamten und einer sehr klugen, nicht minder unterrichteten Börsenmaklerstochter, die beide ihre erste Kindheit in Galizien zubrachten und dortigen jüdischen Familien entstammten, ist der frühreife, blitzgescheite Knabe anfangs zwar in einer fast rein jüdischen Umwelt aufgewachsen, denn auch das Sophiengymnasium’, das er besuchte, hatte eine Mehrheit israelitischer Schüler. Doch er wurde schon in dieser Schule völlig vom Geist der deutschen Kultur ergriffen: wie sich später zeigte, mehr als vom spezifisch österreichischen.

Achtzehnjährig, hat sich der kaum dem Gymnasium Entronnene verliebt und verlobt: mit einem um Jahre älteren Mädchen, das zwar wenig Geld, doch den Vorzug besaß, Privatsekretärin ihres Onkels, eines Großbankdirektors, zu sein. Die Braut verschaffte dem jungen Mann Zugang zu einem anderen Bankgewaltigen, und dieser bescherte Verbindung mit Zeitungen. Als Werkstudent — seine Werke waten Artikel für die Presse — hörte Stolper bei Carl Menget,, Böhm-Bawerk, Philippovich, Wieser. 1911 promovierte er zum Doktor der Rechte; er heiratet und sucht, findet alsbald eine die Existenzgrundlage gewährende Tätigkeit. Seine Hauptbeschäftigung aber war der Wochenschrift „Der österreichische Volkswirt” Vorbehalten, außerdem einem wertvollen Jahrbuch des Handels und der Industrie, dem „Kompaß”. Finanziell gut bedacht, verkehrte Stolper als Ebenbürtiger mit ehemaligen, amtierenden und künftigen Ministern, Hochbürokraten, Bankgouverneuren, berühmten Universitätsprofes- aoren. Seine Stimme wird gehört, seine Artikel werden gelesen. In seinem „Österreichischen Volkswirt” melden sich die bedeutendsten Sachkundigen zu Wort.

Seinem stürmischen Ehrgeiz, den das Bewußtsein seiner Fähigkeiten rastlos stachelte, genügten weder so frühe Erfolge noch ein häusliches Glück an der Seite einer zu ihm aufblickenden, klugen und hübschen, ob auch älteren Frau, noch endlich, und das wird ihm, während wir das rückschauend verspüren, erst später klar, der ihm zu eng dünkende österreichische Raum. Er begegnet der geistig und physisch hochbegnadeten Tochter des Wiener Universitätsprofessors Kassowitz, eines Kinderarztes und Erbforschers von Rang, die damals, 1912, Jus studierte. Jahrelang pendelte Gustav Stolper zwischen zwei Frauen hin und her. Dann siegte die Jüngere, Schönere und Glänzendere. Da war aber schon der Weltkrieg ausgebrochen, und damit, je länger das gigantische Ringen dauerte, auch Stolpers Verhältnis zum alten Österreich erschüttert worden. Bisher hatte er über dieses Problem, in dessen doppeltem allgemeinen und persönlichen Aspekt, wie die meisten seiner Generation, nur theoretisch nachgedacht. Nun wurde die Existenzfrage der Habsburgermonarchie und das, was nach ihr kommen würde, zur greifbaren Wirklichkeit.

Noch im Juni 1918 winkte dem Dreißigjährigen Eintritt in eine österreichische Regierung unter Sektionschef Riedl, dem späteren Gesandten in Berlin und Vorkämpfer des Anschlusses. Stolper half ferner bei der Vorbereitung der sogenannten austropolnischen Lösung mit (und bewies dabei das übliche Verkennen außerwirtschaftlicher Imponderabilien in der Politik, das die vordringlich in den Kategorien der Nationalökonomen denkenden „Mitteleuropäer” kennzeichnete). Auch im kleinen Rumpfösterreich spielt Stolper zunächst eine wichtige Rolle. 1921 ist er Kandidat für das Finanzportefeuille. Allmählich aber wird es dem Sauberen und Ungeduldigen in Wien, wo damals die „Unüberwindlichen”, von den Finanzgroßgeiern Castiglioni und Bosel bis zum „Er-Presse-Magnaten” Bekessy, ihr Unwesen trieben, immer weniger erträglich.

Er verabscheut zudem ein wenig überheblich die ihn bodenrückständig dünkenden Politker aus den Alpenländern, und er stößt sich an der, wie er meint, österreichischen Spielart des Antisemitismus, die, wiederum nach seiner und noch nach Toni Stolpers Ansicht, „Deutschland, wohin sie importiert worden” sei, verdorben habe (S. 159).

So vollzieht sich — uns Späteren, nadh der Lektüre dieses Buches als seit jeher angebahnt, sonnenklar — die völlige „Loslösung” vom „Treueverhältnis zum Lande seiner Geburt”. „Hätte er von Wien aus ein Deutscher sein dürfen, so hätte ihm das wohl behagt”, meint Frau Stolper (S. 158).

In Berlin sind Stolper und seine zweite Gattin, die er 1921 geheiratet hatte, wie in einem Taumel der Seligkeit befangen. Ein Gastspiel als Mitleiter des „Berliner Börsen Couriers” ist zwar schnell vorbei, doch als Herausgeber und Miteigentümer des neugegründeten „Deutschen Volkswirts” hat Stolper eine Position, die seiner früheren, in Österreich eingenommenen, ähnlich, allein im Hinblick auf die - unvergleichbar größere Reichweite seines Einflusses seinem Ehrgeiz adäquater ,ist., Auch an dpr Spree pflegt er Umgang und häufig Freundschaft mit den Mächtigsten: Wirtschaftskapitänen, Bankherren, Politikern, Diplomaten, so mit Schacht. Er gelangt endlich, was ihm auf österreichischem Boden unmöglich war, in die gesetzgebende Körperschaft: 1930 als Kandidat der aus der Demokratischen Partei hervorgegangenen Staatspartei, gewählt in Hamburg und, wie es zunächst aussah, zu noch Höherem berufen.

In diesem Reichstag aber sitzen nicht nur Stolper und sein Dutzend politischer Freunde, sondern auch 107 Nationalsozialisten, die ihn bei seiner Jungfernrede mit schmähenden Zurufen begrüßen. Das beirrt ihn keineswegs. Er bleibt in seiner Liebe zu Deutschland fest, betrachtet den Nationalsozialismus als zeitweilige Krankheit, die man mit Erfolg bekämpfen soll und kann; er beschäftigt r l) in unerschütterlicher nationalliberaler Gesinnung mit der Weltpolitik und mit Deutschlands Wiedererstarken, bejaht im Wehrausschuß die geheime Wiederaufrüstung, verkehrt aufs harmonischste mit Stegerwald, schätzt und unterstützt Brüning, wird im Juli 1932 in den Reichstag als Abgeordneter Hamburgs wiedergewählt — diesmal neben 230 Nationalsozialisten —, und weigert sich noch immer, mit dem Gefühl d a s zu beiahen, was sein scharfer Verstand unaufhaltsam heraufziehen wissen mußte: die Machtergreifung durch Hitler. Papen wird Reichskanzler, erhält ein Mißtrauensvotum des Reichstags, dem bereits Göring präsidiert. Das Parlament wird nach wenigen Tagen aufgelöst. Stolper gehört ihm diesmal nicht mehr an. Dafür büßt die NSDAP 15 Prozent ihrer Stimmen ein. Papen geht ab. Schleicher folgt ihm. Stolper hat auch dessen Ohr. und er schmiedet neue politische Pläne, die er sogar zu verwirklichen wähnt. Er begründet einen „Bund für wirtschaftliche und politische Bildung”, schreibt im „Deutschen Volkswirt” tapfer gegen die Nazi, „dieses Sammelbecken von Verbrechertum und Idealismus”, weissagt, „die nächsten Wahlen werden auch dieses große Parteigebilde in Auflösung zeigen”, und beteuert in einem Rückblick aufs Jahr 1932: „Wir können zufrieden sein mit dem Weg, den Deutschland in diesem Jahre genommen hat.” Hindenburg beruft den „böhmischen Gefreiten” zu Schleichers Nachfolger.

Jetzt gehen Stolper endlich die Augen auf. Es gilt, einen Rest der Vermögens- Substanz und die Freiheit der eigenen Meinungsäußerung zu retten, meint der Herausgeber des „Deutschen Volkswirts”, und er verkauft diese seine Schöpfung um ein Viertel des Gründungskapitals. Er läßt Haus und Möbel im Stich und reist mit seiner Familie in die Schweiz, dann nach Amerika. Mit erstaunlicher Schnelligkeit und dank einer außergewöhnlichen

Willenskraft, der ein ebenso großes Adap- tationsvermögen zu Hilfe kommt, nicht zuletzt aber unter dem Beistand amerikanischer Freunde, erringt Stolper auch in den USA Ansehen und Wohlstand. Er berichtet aus den USA regelmäßig an europäische Finanzpotentaten und informiert in Amerika dessen Wirtschaftskoryphäen über Europa. Daneben berät er vornehme Kapitalisten, die von Geldsachen wenig verstehen, über gute Vermögensanlagen und bewährt sich dabei so sehr, daß ihm die Erfolgshonorare bedeutende Summen bringen. Öfter kommt er., nach Europa, um an, Ort und feile die Lage zu überprüfen und um . mit seinen Auftraggebern Fühlung zu bewahren. Um Deutschland macht er begreiflicherweise einen Bogen; in Österreich ist er letztmals vor dem zweiten Weltkrieg, Ende Februar 193 8, gewesen. Frau Stolper berichtet Einzelheiten über den törichten Optimismus, insbesondere in betreff der Haltung Italiens, dem sich am Vorabend der Katastrophe führende österreichische Kreise hingaben.

Der Krieg bricht aus. Stolper harrt in Amerika darauf, daß der Nationalsozialismus zusammenbricht. Hernach will er beim Wiederaufbau eines neuen Deutschlands mithelfen und vor allem in den USA Verständnis für ein verirrtes, getäuschtes Volk wecken. Diesem Zweck haben im Grunde schon seine englisch veröffentlichten Bücher aus den Jahren 1940 — „German Economy 1870—1940” — und 1941 — „This Age of Fable” — gegolten. Nach dem Waffenstillstand begibt sich eine amerikanische Hilfsmission unter Expräsident Hoover ins ausgehungerte Mitteleuropa. Stolper ist, nun Bürger des mächtigsten Siegerstaates, Mitglied dieses Teams. Nichts von Ressentiment gegen Deutschland ist bei ihm zu verspüren. Er ist unermüdlich im Bemühen, zu lindem und den Berichten Hoovers eine für die Unterlegenen günstige Färbung zu verleihen. Er nimmt sich der wiedergefundenen Freunde an, darunter des zum Skelett abgemagerten Reichstagskollegen Theodor Heuss. Etwas peinlich mutet uns neben der menschlich so sympathischen Seelenläge gegenüber Deutschland an, mit wel- eher schneidenden, ironischen Herzenskälte Stolper Österreich beurteilt, das er im Gefolge Hoovers ebenfalls wiedersieht. In einem Brief nennt Stolper diese Februarreise (1947) eine „Touristenfahrt durch die eigene Biographie”.

Die nähert sich dem frühen Ausklang. Nach den USA zurückgekehrt, „heimgekehrt”, bleibt ihm nur noch knappe Zeit, sein Werk „German Realities” abzufassen, ein warmes Plädoyer für Deutschland. Am 18. Dezember 1947 hatte er, voller weiterer Pläne, die Arbeit an diesem Buch ;abgeschlossen. Am 23. Dezember liegt er, vom Schlag getroffen, auf dem Sterbebett, und vier Tage darnach ist er entschlafen. War dieses reiche, bewegte, aus- gefüllte Leben, das mehrmals nahe ans Staatsruder führte und seit den ersten Mannesjahren aus kleinen Verhältnissen in die Kulissen der hohen Politik und der Wirtschaftsgipfel geleitete ᾠ. war es gelenkt vom Willen zur Macht, von Unruhe zu Gott Mammon oder von Sehnsucht nach einer nie besessenen echten Heimat? Wir dürfen jede dieser Triebfedern bejahen. Seine Tragik aber beruht weniger auf dem Empfinden eines tiefen Leids, auf einem unverwindbaren Weltschmerz, der Stolper nicht oder nur selten benagt hat, als auf der objektiven Schau auf das Erdenwallen eines „Hors Serie”, eines außerordentlichen Menschen, der noch ganz anderes hätte leisten können, wäre es ihm vergönnt gewesen, in einer Heimat fest und mit ganzem Herzen verwurzelt zu sein, sie heiß und unverlierbar zu lieben und in ihr seine Fähigkeiten ungehemmt entfalten zu dürfen. So betrachtet, ist auch Gustav Stolpers Leben eine österreichische Tragödie.

Seiner Witwe schulden wir besonderen Dank, daß sie uns diese den Durchschnitt hoch überragende Aristeia aus leidenschaftlich für deren Helden voreingenommener Sicht gegeben hat, und daß sie uns die Einzelheiten dieses Daseins im ihm gemäßen, formschönen Stil eindringlich schildert.

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