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Bis zum letzten Flaggenschuß

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Grau lagerte der Nebel am 1. November 1918 über dem Hafen von Pola. In der Nacht vorher war der Befehl auf den Schiffen und in den Kasernen eingelangt: Um 8 Uhr früh habe bei einem Salut von 21 Schüssen die Flagge der k. u. k. Kriegsmarine zum letztenmal gehißt zu werden, um dann für immer von allen Meeren zu verschwinden. Und jetzt um 8 Uhr früh begann der Tragödie letzter Teil. Während die Salve von 21 Schüssen über das Meer rollte, stieg langsam auf allen Schiffen, angefangen vom Admiralsschiff „Viribus unitis“ bis zum letzten Schlepper, die rot-weißrote Flagge mit dem Wappen des Hauses Österreich auf den Masten empor. Matrosen und Offiziere, Angehörige von elf Nationen, grüßten noch einmal das Symbol, unter dem sie und ihre Väter und Großväter gekämpft hatten. Einige Minuten lang wehte die Flagge auf den Masten, dann wurde sie langsam eingeholt. Die k. u. k. Marine hatte aufgehört zu bestehen.

In den Vormittagsstunden wurde die Totenstille plötzlich unterbrochen. Weit draußen wurde ein U-Boot sichtbar, das sich langsam dem Hafen näherte, durch die Kolosse der Schiffe sdilängelte und dann festmachte. Nicht, daß dieses Boot verspätet einlief, brachte die Leute in Aufregung, sondern, daß vom Heck dieses Schiffes weiterhin die alte Flagge hing, als ob kein Befehl ihr Verschwinden angeordnet hätte. Die Leute von Pola kannten das Boot nur zu gut. Es trug die Nummer U-14 und sein Kommandant, Georg von Trapp, Ritter des Maria-Theresien-Ordens, war einer der bekanntesten U-Boot-Kommandanten der alten Marine. Wollte der Kommandant zeigen, daß das alte Österreich in ihm noch immer lebendig sei und der Glaube daran nicht zerstört werden könne?

Zwanzig Jahre später. März 1938. Wieder kam ein Befehl, wieder sollte die Flagge Österreichs verschwinden, diesmal nicht nur von den Meeren, sondern von der Erde überhaupt. Georg von Trapp beschloß, diesmal auf keinen Fall die Flagge einzuziehen. 20 Jahre waren seit dem traurigen Tag vergangen, da er von seinem U-Boot de Fahne Österreichs dennoch hatte herunterholen müssen. Viel Leid hatt er in diesen 20 Jahren erlitten. Seine Frau, die Tochter des berühmten Torpedofabrikanten Whitehead, seine große Heimat, sein Vermögen hatte er verloren. Trotzdem hatten ihm die Jahre auch manches Glück gebracht: eine zweite, glückliche Ehe; einen besdieidenen Besitz in der Nähe von Salzburg; und seine große Kinderschar war zu einem berühmten Chor herangewachsen, der in ganz Europa Konzerte gab. Jetzt d Hitler in Österreich einmarschierte, befanden sie sich gerade auf einer Tournee in den nordischen Staaten. Georg von Trapp ließ seine Familie wissen, daß sie nicht mehr in die Heimat zurückkehren, sondern sich gleich nach Amerika einschiffen möge.

Es war ein schweres Leben, das die Familie Trapp in Amerika erwartete. Mit 10 Dollar in der Tasche war sie in der „Neuen Welt“ eingetroffen. Konzerte sollte ihren Lebensunterhalt sichern, aber die Veranstaltungen fanden vorerst keinen Anklang, kaum 40 Konzerte im Jahr konnten gegeben werden. Kunstgewerbliche Arbeiten aller Art brachten kargen Verdienst. Die Familie blieb so arm, daß sie sich nicht einmal neue Kleider kaufen konnte und noch immer ihre alten Salzburger Trachten trug. Endlich, nach zwei Jahren, winkte das Glück. Ein Rechtsanwalt aus Philadelphia verstand es, die „Trapp-Singers“ populär zu machen. Und nun folgte Konzert auf Konzert, oft 40 innerhalb 48 Tagen. Es waren Konzerte von eigenartiger Form. Keine Songs, keine Schlager ertönten, die Familie Trapp sang in der Salzburger Tracht ihre alten Volkslieder und Choräle. Mit dem Ruhm der Familie Trapp stieg wieder der Ruf Österreichs in der Neuen Welt. Die Familie warb auf eine besondere Weise für ihre alte Heimat: in ihren Konzerten baten sie die Besucher aufzustehen und ein Gebet für den Frieden und für die Freiheit Österreichs zu verrichten. Und als der Krieg zu Ende war, sammelte die Familie Trapp Lebensmittel und Kleider und schickte Paket auf Paket in die notleidende Heimat.

Ende Mai 1947 hörte das Herz Georg von Trapps zu schlagen auf. Er starb in seinem Salzburger Haus im Staate Vermont, nahe der kanadischen Grenze, das sich die Familie endlich errichten konnte. Ein gütiges Geschick hatte ihn noch die Freude erleben lassen, die rotweißrote Flagge wieder auf den Masten seiner Heimat zu wissen. Sein Leben, das in beispielloser Treue, „bis zum letzten Flaggenschuß“ Österreich gegolten hatte, hatte sich vollendet.

Als die Welle der nationalsozialistischen Eroberungsheere über Europa hinwegging, schlugen die Regierungen der überrannten Länder ihren Sitz im verbündeten Ausland auf. Sie waren Symbol der unzerstörbaren und unvergänglichen Souveränitäts- und Freiheitsrechte ihrer Völker, deren wahres politisches und moralisches .Zentrum sie bildeten. Mit dem Siege der Alliierten kehrten die Exilregierungen in ihre Heimatländer zurück. Was immer dort ihre weiteren Schicksale waren, das völkerrechtliche Problem ihrer Existenz erschien damit gelöst. Während noch die Gerichte mit der Verurteilung der Gewalttaten des letzten Krieges befaßt sind, erwachsen nun aus einer Atmosphäre immer noch fortwirkende Unfriedenserscheinungen, die wie Randgewitter nach schweren Elementarkatastrophen anmuten. Wie die „Neuen Zürcher Nachrichten“ mitteilen, kündigte der frühere griechische Arbeitsminister Porphyrogenis auf dem französischen Kommunistenkongreß in Straßburg die Bildung einer griechischen Gegenregierung an. Der leitende Ausschuß der EAM hat sich in Prag zum Besuch angemeldet, vielleicht, um zu sondieren, ob eine solche Regierung Aussicht auf Anerkennung durch die Rußland nahestehende Staatengruppe fände. Hier kann man von einer Exilregierung wohl nicht eigentlich sprechen, da sie ihren Sitz in der von kom-munistisdien Freischärlern mehr oder minder beherrschten Nordwestecke Mazedoniens nehmen würde.

Es mag sein, daß es sich hier um den Versuch einer politischen Gegenwirkung gegen die Aktion des gestürzten ungarischen Ministerpräsidenten Franz Nagy und seiner Freunde, in Amerika eine ungarische Exilregierung zu bilden, handelt. Und wie der Sturz Nagys nur das Glied einer Kette von gleichgerichteten Aktionen in Südosteuropa war, so hat sein Handeln eine Gruppe von Bauernführern aus Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien in Washington im Exil zusammengeführt, die in einem gemeinsamen Manifest gegen den Druck der Minderheitsregierungen ihrer Heimat protestieren. Ja, sie wollen sich vereint an die UNO wenden. Angeblich besteht die Absicht, statt Regierungen „Befreiungskomitees“ zu gründen, deren Sache dann durch irgendein Mitglied der UNO in deren Vollversammlung vertreten werden könnte. Wie man hört, soll auch ein Vertreter der polnischen Bauernpartei Mikolayjcziks hiefür gewonnen werden. Damit nicht genug, tritt der 1918 von den Bolschewisien gestürzte Kerenski wieder ins Rampenlicht, der eine „demokratische Ostföderation“ aus einem aufgelockerten Rußland, der Ukraine, Polen, der Tschechoslowei und Jugoslawien bilden will.

Man muß sich gewiß hüten, diesen Aspirationen übertriebene Bedeutung beizumessen. Sie sind aber ein Beweis dafür, daß der europäische Organismus nach all den ungeheuren Leiden der letzten Jahre noch nicht ganz zu gesunden vermochte. Leidenschaftlich haben sich die europäischen Völker nach dem Druck der vergangenen Ära nach Freiheit und wahrer Befriedung gesehnt. Daß sie ihnen nicht zuteil geworden ist, daß die europäische Demokratie nicht verwirklicht werden konnte, zeitigt Erscheinungen, an deren Wiederkunft man noch vor kurzem nicht hätte glauben mögen.

Nach seiner Reise ins Commonwealth of South-Africa ist das britische Königspaar mit seinen Töchtern in London mit Jubel empfangen worden. Der versammelten Menge war es kein Geheimnis, daß die Verlobung der Thronerbin, Prinzessin Elisabeth, nun in Kürze folgen werde. Auch der Bewerber war der britischen Öffentlichkeit nicht fremd. Prinz Philipp von Griechenland, Offizier der königlichen Flotte, unter dem Namen seiner Mutter — Mountbatten — erst kürzlich als einfacher Bürger in den britischen Staatsverband übernommen, wird den Platz an der Seite der künftigen Monarchin einnehmen.

Der matriarchalisch gesinnte Engländer sieht dieser Ära mit Hoffnung und Vertrauen entgegen. Denn die Geschichte hat ihm bewiesen, daß Frauen dem Reiche an wichtigen Wendepunkten neue Impulse verliehen haben, daß ihre Herrschaft mit langen Epochen glanzvoller Entwicklung und Machtsteigerung verbunden war. Vielleicht knüpft diese Überzeugung an alte, nie ganz erloschene familien- und staatsrechtliche Vorstellungen an. Erst die lange Regierungszeit der Königin Elisabeth (1558 bis 1603) hat England zur europäischen Macht emporgeführt. Noch von Heinrich VIII. hatte man sagen können: „Der König von England ist kein mächtiger Fürst. Die geographische Lage seines Landes gestattet ihm nur, seinen Nachbarn lästig zu fallen.“ In Elisabeths Herrschaft fiel die Niederlage der spanischen Armada, die Festigung eines auf die Gentry gestützten Königtums, der Beginn britischer Seegeltung unter Walter Raleigh und Francis Drake. Unter Königin Anna (1702 bis 1714), der letzten Stuart auf dem britischen Königsthron, stieg England im spanischen Erbfolgekrieg erstmals zur entscheidenden Macht empor. Marlborough stand gleichberechtigt neben dem großen kontinentalen Prinzen Eugen, und als sich Britannien vom spanischen Erbfolgekrieg zurückzog, war Ludwig XIV. gerettet und der Erbschaftsanteil der Habsburger auf die spanischen Nebenlande eingeschränkt. Das alles mag historische Erinnerung sein, wenn sie auch in keinem Volke so lebhaft weiterlebt als im englischen. Aber es gibt noch genug Engländer, die unter dem Szepter der dritten großen britischen Königin gelebt, die die lange, erfolggekrönte Herrschaft der Königin Viktoria (1837 bis 1901) wenigstens in ihren eigenen Jugendtagen gesehen haben. Heute noch jedem Engländer das Symbol unangefochtener Weltherrschaft, war diese Epoche der Gipfelpunkt macht- und reichtumsgesättigter Größe.

Es ist ein glanzvolles Erbe, das die künftige Thronerbin von den Königinnen ihres Landes einmal übernehmen wird. Das erste entscheidende Ereignis ihres Lebens rückt sie in diesen Tagen in das Blickfeld ihrer Nationen, des britischen Commonwealth, und damit der Weltöffentlichkeit.

Seit ungefähr einem Monat hat Japan auf Grund allgemeiner, geheimer Wahlen eine neue Regierung. Chef dieser Regierung ist Tetsu Katayama. Dieser Mann hat es auf sich genommen, die Fackel der Hoffnung anzuzünden, die mit dem Fall der roten Sonne des Inselreiches in ein tiefes Meer verlosch. Noch ist es zu früh, um die Chancen klar abzuwägen, die ihn auf diesem schweren Weg begleiten, jedoch zeichnen ihn drei Eigenschaften aus, die in seinem Lande bis heute kein Allgemeingut der Staatenlenker waren: er ist der erste christliche, der erste sozialistische und wahr-sdieinlich auch der erste von demokratischem Gedankengut durchdrungene Regierungschef eines japanischen Kabinetts. Der kleine, immer höflich lächelnde Mann mit den dickgefaßten schwarzen Hornbrillen verfolgte auch sofort in der Praxis seine demokratischen Ziele. Dort, wo der Verkehr der Weltstadt Tokio am stärksten zu den modernen Steinpalästen hinaufbrandet, auf der Ginza, der Hauptgeschäftsstraße, stieg der Premierminister auf eine umgestürzte Kiste, um den vorübereilenden Passanten sein Regierungsprogramm auseinanderzusetzen. Ohne Demagogik, mit leiser, aber eindringlicher Stimme, begann er zu sprechen. Eilige Geschäftsleute blieben stehen, Spaziergänger hemmten ihre Schritte, Hausfrauen hörten neugierig zu, Arbeitslose und Hungrige saharten sich um dieses merkwürdige Postament. Immer mehr und mehr kamen hinzu. Schließlich standen 4000 Menschen um den Redner herum. Sie hörten aufmerksam zu, so wie die Engländer am Sonntag den berühmten „Hyde-Park-Speakern“ zuhören. Ein Teil spendete Beifall, andere kommentierten die Ausführungen mit Zwischenrufen. Niemals aber wurde der in Japan traditionell höfliche Ton übersehen. Kein einziger der Zuhörer zeigte einen der Demokratie abträglichen Fanatismus oder Haß. Als der Ministerpräsident drastische Wirtschaftsmaßnahmen ankündigte, die vor allem den armen Schichten zugute kommen sollten, verneigten sich die Hungrigen und die Arbeitslosen unter der Menge, klatschten in die Hände und riefen: „Isoide Kudasei“, .„Bitte, beeile dich damit.“ Nach der Rede stieg Tetsu Katayama ruhig von seiner provisorischen Rednertribüne herunter, schritt, durch die Menge — noch im Vorbeigehen zugeworfene Fragen beantwortend — und verschwand langsamen Schritts in Richtung seines Büros. Ohne Hast und ohne Dramatik wurde damit ein neues Kapitel der japanischen Politik und Geschichte eingeleitet.

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