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Abschied von den Helden

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Unvergessen ist der heutigen Generation der 21. August 1968. An diesem Tag besetzten die Truppen des Warschauer Paktes die Tschechoslowakei. Vergessen dagegen ist längst ein anderer 21. August, der des Jahres 1914, der sich in Kürze zum 60. Mal jährt. An diesem Tag versuchte die 4. k. u. k. Kavalleriedivision den Vormarsch der 9. und 10. russischen Kavalleriedivision auf zuhalten. Auf der österreichischen Seite kämpften Trani-Ulanen und 15er Dragoner, auf der russischen Seite Husaren, Ulanen, Dragoner und Kosaken. Es war eine blutige Schlacht, die nicht günstig für Österreich ausging. Es war vor allem die letzte Reiterschlacht der Weltgeschichte.

Der letzte große Krieg, den die Donaumonarchie vor 1914 geführt hatte, der Krieg von 1866, hatte am nördlichen Kriegsschauplatz mit einer Attacke der österreichischen Kavallerie geendet. Durch diese versuchten die österreichischen Reiter den Rückzug der Armee nach König-grätz zu decken. Detlev von Lilien-cron hat in einem berühmten Gedicht geschildert, daß diese Attacke durch die weißen Waffenröcke der Österreicher wie ein wildes brausendes Meer ausgesehen habe. Über die Attacke von 1914 bei Jaroslawi-ce — so hieß der Ort dieser letzten Reiterschlacht — gibt es die Schilderung eines russischen Majors: „Die dunkle Linie der anreitenden Front schien durchschnitten durch die rote Linie der Hosen und belebt durch die weißen Aufschläge und das Wogen der lichtblauen Röcke. Säbel und Helme blitzten in der Sonne. Sorgfältig zusammengehalten, ein Bild vollendeter Ordnung und überragender Schönheit, so erschien das feindliche Dragonerregiment am Höhenrande. Sie griffen an.“

Kenner der Geschichte werden sich erinnern, daß jeder neue große Krieg mit jenen Waffen beginnt, mit denen der vorhergehende geendet hat. Der Krieg von 1866 endete mit einer Reiterattacke, der Krieg von 1914 begann praktisch mit einer solchen. Er endete mit dem Einsatz von Tanks und Flugzeugen, und der Krieg von 1939 begann ebenfalls mit diesen Waffen. Er endete mit dem Einsatz von atomaren Waffen, und vielleicht ist die Erkenntnis, daß der nächste große Krieg mit diesen Waffen beginnen müßte, einer der Gründe, daß uns bis heute ein Weltkrieg erspart geblieben ist.

Mit dieser Reiterschlacht bei Ja-roslawice endete ein Stück europäische Kriegsgeschichte. Europa nahm Abschied vom Helden. Im Laufe des Ersten Weltkrieges entwickelte sich immer mehr, trotz aller persönlichen Tapferkeit, der mechanische Krieg, bei dem das persönliche Heldentum fast keine Rolle mehr spielt.

Als die Trani-Ulanen und die 15er Dragoner ihre Attacke bei Ja-roslawice ritten, war der Erste Weltkrieg erst vier Wochen alt. Viele der Menschen, die mit ungeheurer Begeisterung in diesen Krieg gezogen waren, hatten geglaubt, er werde nicht länger als vier Wochen dauern. *

Der äußere Anlaß für die Entstehung des Ersten Weltkriegs war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers, Franz Ferdinand, in Sarajewo. Aber diese schreckliche Tat war wirklich nur noch der Funke in ein Pulverfaß.

Seit Jahren fieberte Europa diesem Krieg entgegen, dessen Kommen fast alle für unausweichlich hielten. Fast niemand allerdings wußte anzugeben, warum er ausbrechen sollte. Der eigentliche Grund war die unendliche Angst, die jeder vor jedem hatte. Großbritannien und Deutschland fürchteten sich vor den gigantischen Flotenrüstungen des anderen — und übersahen dabei, daß in der Wirschaft des eigenen Landes der Handel mit dem anderen Partner den größten Raum einnahm. Deutschland fürchtete die Revanche Frankreichs und übersah vollkommen, daß niemand mehr in Frankreich an die Rückkehr Elsaß-Lothringens dachte. Frankreich fürchtete den neuerlichen Einmarsch der Deutschen, den es im 19. Jahrhundert dreimal erlebt hatte. Das absolute Regime in Rußland war in einem ständigen Rückzugsgefecht begriffen und versuchte seine sozialen und nationalen Schwierigkeiten durch eine aggressive Außenpolitik zu überdecken. Nachdem diese gegen Japan Schiffbruch erlitten hatte, wandte sich Rußland wieder Europa zu und fing an, am Balkan Unruhe zu stiften. Und die Donaumonarchie fürchtete, mindestens weite Kreise in ihr, daß ein je späteres Ausbrechen des Krieges um so ungünstiger für sie werden würde. Die Welt sprach von der Türkei als krankem Mann und von der Donaumonarchie ebenfalls in gleichen Worten.

Franz Ferdinand war der geschworene Feind eines Krieges gegen Serbien und gegen Rußland. Er wußte, daß die Donaumonarchie eine Durststrecke noch durchzustehen hatte, um endgültig wieder allen Gefahren gegenüber gewappnet zu sein. Denn die Donaumonarchie war vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht nur wirtschaftlich ein blühendes Gemeinwesen, sondern auch im Begriffe, sich zu demokratisieren und ihren Völkern, zumindest in der zislei-thanischen Hälfte, vollständige Gleichberechtigung zu geben. Im Zuge dieser Entwicklung hätte sich auch Ungarn eines Tages demokratisiert und begonnen, seine sozialen und nationalen Fragen zu lösen. Die Monarchie war alles andere als krank.

Nach der Ermordung des großen Kriegsgegners Franz Ferdinand beging die Donaumonarchie eine Reihe von schweren Fehlern. Das Entsetzen über die Ermordung war in Europa so groß, daß ein sofortiges militärisches Eingreifen Österreich-Ungarns gegen Serbien die damalige Welt begriffen hätte. Aber Österreich war zu sehr im rechtsstaatlichen Denken verhaftet und glaubte ein solches Eingreifen nur nach Vorliegen entsprechender Dokumente wagen zu können. Diese Dokumente zu beschaffen, benötigte es einen Monat. Inzwischen hatte Europa die Ermordung schon vergessen und war in die Sommerferien gefahren. War dieser Fehler noch verständlich, so war ein anderer unverzeihlich: Die Donaumonarchie hätte die Ermordung des Thronfolgers benützen können,um sämtliche Herrscher Europas zu einem prunkvollen Begräbnis einzuladen. Tatsächlich wollte ja Kaiser Wilhelm II. unbedingt kommen, und auch König Peter von Serbien äußerte diesen Wunsch. Angesichts des Ermordeten hätten die versammelten Herrscher sich sicherlich zu einem Friedensgespräch zusammengefunden. Und den dritten Fehler beging die Donaumonarchie nach der Beantwortung ihres Ultimatums durch Serbien. Die Beantwortung war bekanntlich mit 24 Stunden befristet, und der Inhalt des Ultimatums war so schwer, daß praktisch jedermann mit einer Ablehnung durch Serbien rechnen mußte. Aber die serbische Diplomatie vollbrachte die Meisterleistung, das Ultimatum innerhalb der festgesetzten Frist zu beantworten und alle Punkte bis auf einen anzunehmen. Ein kluger Staatsmann, wie zum Beispiel Franz Ferdinand, hätte mit beiden Händen nach dieser Lösung gegriffen, hätte in die Welt hinausposaunt, daß Serbien das Ultimatum angenommen hatte, und hätte sich dann mit Serbien arrangiert. Aber weite Kreise in der Monarchie wollten den Krieg. Sie glaubten, er sei die letzte Chance, um die Existenz Österreichs zu retten. Sie übersahen, daß die Existenz Österreichs durch einen Krieg nur gefährdet werden konnte. Und so begann das Unheil zu rollen.

Der Krieg dauerte über vier Jahre. An Stelle des Helden traten immer mehr die Massenvernichtungswaffen, ohne daß auch sie noch einen endgültigen militärischen Erfolg bringen konnten. Alle Erfolge der beiden Seiten blieben immer irgendwo stecken. Der Vormarsch der Deutschen 1914 im Westen an der Marne. Der Vormarsch der Russen gegen Deutschland Im Herbst 1914 bei Tannenberg und gegen die Österreicher in Gali-zien. In elf Isonzoschlachten versuchten die Italiener vergeblich, die österreichische Front zu durchbrechen Aber auch der große Sieg der Österreicher bei Flitsch und Tolmain blieb an der Piave hängen, desgleichen der Vorstoß der Engländer gegen Konstantinopel bei Gallipoli. Ebenso die Versuche der Deutschen bei Verdun und an der Somme. Ebenso die Versuche der Russen oder der Mittelmächte im Osten. Ebenso der unbeschränkte U-Boot-Krieg, den Deutschland 1917 begann. Irgendwo versandeten immer wieder alle siegreichen Erfolge. Ebenso ist es das Merkwürdige an diesem Krieg, daß sich nirgends ein überragendes militärisches Genie zeigte, im Range eines Napoleon, Prinz Eugen oder Cäsar.

Der Krieg ging schließlich zu Ende, weil die Alliierten, trotz des Verlustes Rußlands im Jahr 1917, aber durch das Eingreifen Amerikas, über unerschöpfliche Material- und Menschenreserven verfügten. Er ging zu Ende, weil im Herbst 1918 Hinden-burg und Ludendorff plötzlich die Nerven verloren und ultimativ von der deutschen Reichsregierung den Abschluß eines Waffenstillstandes verlangten.

Hindenburg ist der Erfinder der Dolchstoßlegende, die in der deutschen Innenpolitik soviel Unheil anrichtete. In Wirklichkeit hielten die Armeen und auch das Hinterland aller Kriegführenden im großen und ganzen trotz aller Entbehrungen eisern durch. Nur Rußland, in das die deutsche Heeresleitung Lenin gesandt hatte, damit er Rußland revolutioniere, schied als Gegner durch diese Revolution aus (durch diese Tat der deutschen obersten Heeresleitung wurde ein Sechstel der Welt bolschewistisch, was fast immer vergessen wird). Um die Front der Mittelmächte zu schwächen, holten die Alliierten das alte Konzept Bismarcks von 1866 aus der Mottenkiste und mobilisierten die verschiedenen nichtdeutschen und nichtungarischen Völker der Monarchie gegen diese. Aber, objektiv betrachtet, hatten ihre Bemühungen genausowenig Erfolg wie jene Bismarcks im Jahr 1866. Die Uberläufer in der italienischen Armee zum Beispiel oder bei den elsässischen Truppen waren prozentuell wesentlich höher als bei den nichtdeutschen oder nichtungarischen Regimentern der k. u. k. Armee.

Knapp vor seinem Tod sagte Franz Joseph, daß er in Kürze Frieden machen werde. Was ihm sicherlich gelungen wäre, wurde seinem Nachfolger als ein großer Verrat angelastet. Die Friedensbemühungen Kaiser Karls waren vollauf berechtigt und sehr vernünftig. Er schlug vor, daß Deutschland Elsaß-Lothringen abtreten möge, er wolle dafür Gali-zien an ein neues Polen geben. Auch Papst Benedikt versuchte die Deutschen zur Abtretung Elsaß-Lothringens zu bewegen und zur Wiederher Stellung der Souveränität Belgiens. Aber alle diese Versuche scheiterten am Widerstand der deutschen Generale. Als Friedensplan schlug Ludendorff im April 1918 vor, daß die deutsche Ostgrenze knapp vor Warschau verlaufen und Deutschland weite Gebiete Belgiens und Frank-reichs erhalten solle. Es war ein Uber-Versailles.

Einen echten Friedensplan legte der amerikanische Präsident Wilsen vor, als er die Gleichberechtigung der Völker verlangte. Hier wäre noch einmal die Chance für die Mittelmächte gewesen, den Krieg ideologisch, und damit politisch, zu gewinnen. Sie hätten erklären müssen, daß sie sehr wohl für die Erfüllung dieser Forderung wären, aber sie müßte für die ganze Welt gelten. Si müßte auch angewendet werden für die Iren, Flamen, Buren, Inder und die Neger in Amerika. Wüson hätte wahrscheinlich sehr rasch seine Forderung zurückgezogen und nach einem Kompromiß gesucht. Den konstruktivsten Friedensvorschlag hatte der Burengeneral Smuta, der die Erweiterung der Monarchie um Rumänien und Serbien vorsah. Aber alle Friedenspläne scheiterten, denn bis zum Frühjahr 1918 waren die deutschen Generale von einer absoluten Siegessicherheit besessen.

Es siegte schließlich der Götze Na-tionalismus. In den Friedensverträgen, die diesen Krieg beendigten, wurden lauter angebliche Nationalstaaten geschaffen mit mehr oder minder unterdrückten nationalen Minderheiten. Aber Deutschland, der große Gegner, wurde praktisch völlig intakt gelassen und verlor nur wenige Gebiete. Es konnte auch ein? Armee behalten, die die Kewvtruppt für eine neue Riesenarmee darstellte. Damit war die Drohung für einen Zweiten Weltkrieg gegeben. Ein echter Friedensvertrag hätte Preußen zerstören müssen und die Donaumonarchie, so wie Smuts es vorschlug, erweitern sollen.

„Was sollte an die Stelle Europa gesetzt werden“, hatte einst Bismarck geschrieben, „welche der österreichische Staat von Tirol bia zur Bukowina bisher ausfüllt? Neue Bildungen auf dieser Fläche könnten nur dauernd revolutionärer Art sein.*1

„Die große Tragödie des Ersten Weltkrieges“, sagt Churchill in seinen Erinnerungen, „war der vollständige Abbruch des österreichisch-ungarischen Reiches. Es gJbt keine einzige Völkerschaft oder Provinz habsburgischen Reiches, der das Erlangen der Unabhängigkeit nicht die Qualen gebracht hätte, wie sie von den alten Dichtern für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind.“

Außer der Zerstörung der Donaumonarchie brachte der Erste Weltkrieg die Bolschewislerung Rußlands und die Zerstörung der Türkei. Erst heute begreift die Welt, welche Unruheherde dadurch geschaffen wurden.

In den Ersten Weltkrieg war Europa hineingeschlittert, aus purer Existenzangst. Aus gleicher purer Existenzangst wurden elende Friedensverträge geschlossen. Sie bargen den Keim eines neuen Krieges in sieh. Er brach 1939 aus und verwandelte Europa endgültig in einen Trümmerhaufen. Erst jetzt konnten aus den bösen Erfahrungen der Geschichte im freien Europa neue und gerechte Lösungen gefunden werden. Aber noch immer liegen die Folgen des Ersten Weltkrieges über der Welt, und werden wahrscheinlich nie vergehen. Einen 21. August 1988 hätte es wahrscheinlich ohne jene letzte Reiterschlacht bei Jaroslawice am 21. August 1914 nie gegeben.

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