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Rechtfertigung des alten Reiches

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DER FÖDERALISMUS IM DONAURAUM. Von Rudolf Wie rer. Verlag H. Böhlau, Wien 1960. 236 Seiten. Preis 120 S.

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DER FÖDERALISMUS IM DONAURAUM. Von Rudolf Wie rer. Verlag H. Böhlau, Wien 1960. 236 Seiten. Preis 120 S.

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Nach dem Zerfall der österreichisch- ungarischen Monarchie im Jahre 191S entstand eine umfangreiche Literatur, di Werden und Vergehen des so kunstvoll und für Außenstehende schwer verständlich aufgebauten Habsburgerreiches darzustellen bemüht ist. Wer sich diesem Themä widmet, muß vor allem berücksichtigen, wie unterschiedlich die Autoren sind: sic gehören den mit gleichen Sorgen („Minoritäten") behafteten Nachfolgestaaten von 1918 bis 1938 an, teilen sich dann in Emigranten und Angehörige des Croßdeutschen Reiches und dessen Vasallenstaaten, um dann 1945 entweder im Exil oder im Ostblock die Arbeiten fortzusetzen. Eine reiche Literatur liegt natürlich aus den Jahrzehnten vor 1918 vor, als sich Österreicher und Ungarn über ihren Staat auseinandersetzten; in Österreich erschienen naturgemäß auch 1918 bis 1938 und wieder seit 1945 zahlreiche Abhandlungen. Das noch durch persönliche Einstellung und Außenstehende vervielfältigte Autorenmosaik läßt erkennen, wie groß das Wagnis ist, über die innenpolitische Geschichte des Donauraumes im letzten Jahrhundert zu schreiben. Dieses Wagnis hat nun Rudolf Wierer unternommen, der in seinem Buche „Der Föderalismus im Donauraum" die Monarchie von 1848 bis 1918 und anschließend die Nachfolgestaaten bis 1960 vom verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Standpunkt aus untersucht. Doktor Wierer, Universitätsprofessor in München, ist ein noch in Brünn geborener Altösterreicher, also sozusagen ein Exhäftling des „Völkerkerkers“, wie so manche Feinde der Donaumonarchie diese benannten. Die Publikation wurde mit Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht und der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Band I der Schriftenreihe des Forschungsinstituts für den Donauraum hcraus- gegeben, das unter dem Gesandten Theodor Hornbostel und Universitätsprofessor DDr. P. Berger das staatswissenschaftliche Schrifttum seit Jahren bereichert. Wierer bringt eine sehr sachliche Charakteristik des historischen und gegenwärtigen staatlichen Lebens im Donauraum — den er als das Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie mit den geographischen und ethnisch verwandten Nachbargebieten betrachtet —, und dietg Charakteristik, iii deshalb von unmittelbögt AtanaHtto das, was in Österrewh-Ung’aW ah der Tagesordnung stand: zwölf Völkerschaften („Nationalitäten“) in einem gemeinsamen Staatsgebiet zu regieren und sie politisch nur so weit zu beschränken, als es die Interessen des Gesamtstaates erforderten, heute als das gleiche Problem zahlreichen Staaten der Vereinten Nationen und der UNO selbst zur Lösung vorgesetzt ist. Dieser Stand der Dinge läßt Wierer aus der Geschichte des Habsburgerreiches und seiner Nachfolger nützliche Lehren ableiten. Wer sich in das Schicksal Österreich-Ungarns und der Nachfolgestaaten vertieft und an Hand der wirklich staats- männischen Würdigung der Einzelfälle durch den Autor zu einer objektiven Wertung der Regierungsschwierigkeiten in Mehr- und Vielvölkerstaaten gelangt, der wird dann die Möglichkeiten erkennen, die sich einer föderalistischen Ordnung im Donauraum gegebenenfalls — bestehende. bisweilen recht weltfremde Pläne sind auf den Seiten 185 bis 208 nachzulesen — eröffnen könnten.

„Der Föderalismus im Donauraum“ verdient mehr als eine konventionelle Rezension. Die Geschichte seit 1848, wie sie dem Leser geboten wird, ist viel zu lehrreich, als daß man sie nicht nach- drücklichst allgemein zum Studium empfehlen müßte. Wir kennen die Pauschal- urteile über die angebliche Unfähigkeit der Staatsmänner an der Donau, die es nicht fertigbrachten, aus Österreich-Ungarn ein Paradies zu machen. In voller Beherrschung der Materie berichtet Wierer, wie alle berufenen Machtfaktoren: Dynastie (Franz Joseph I., Franz Ferdinand), Minister (Pillersdorff, Felix Schwarzenberg, Bach, Franz Stadion, Schmerling), Politiker (Palacky, Eötvös, Deäk, Po- povięi, Renner), Gelehrte (Schäffle), Regierungen, Vertretungskörper, wie Stände, Landtage, Gemeinden, ununterbrochen am Werke waren und jederzeit reichlich zu Wort kamen, um aus den so grundverschiedenen Komponenten, den historischen (Kronländer) und nationalen, wegen Vermischung kaum klar zu ziehenden Abgrenzungen, der durch Annexion andersgearteten Struktur Lombardo-Venetiens, Galiziens und der Bukovina, Bosniens und der Herzegowina, der Verknüpfung mit dem Deutschen Bund, dem kulturellen Gefälle der einer politisch tragenden Schicht oft entbehrenden Nationalitäten, den böhmischen und ungarischen staatsrechtlichen Ansprüchen, ferner dem aufstrebenden Nationalismus und dem sich zugesellenden marxistischen Internationalismus eine brauchbare Resultierende zu finden. Die gewiß naheliegende, doch meist von unzureichend Orientierten gestellte Frage, wieso diese Resultierende immer wieder nur in eine Notlösung mündete, hat bereits lange ihre Beantwortung gefunden: Das Kaisertum Österreich und nach ihm die Doppelmonarchie waren schon wegen ihrer geographischen Lage dauernd Kriegen und Kriegsgefahren ausgesetzt, so 1848/49, 1850, 1851,

1853/1856, 1859, 1864, 1866, 1878/79, 1882, 1887/88, 1903, 1908 bis 1914 … wann blieben hier Zeit und Muße zu einem durchgreifenden verfassungsmäßigen Umbau, und wurde nicht jeder Anlauf zu einem solchen bald wieder durch die vordringliche Sorge um die Sicherheit des Staatsgebildes gehemmt? Vor allem ging es stets darum, nicht durch zu große Zugeständnisse an den einen Teil einen anderen zu verkürzen oder zu verärgern, nie einen schwächeren einem starken auszuliefern. Die angewandten Methoden erfuhren reichliche Kritik, besonders sei zuviel absolutistisch regiert worden, wiewohl nicht einmal die Jahre 1852 bis 1860 und 1865 bis 1867 ein „absoluter“ Absolutismus waren und sich der Kaiser, in Wien hätte beglückwünschen können, wenn ihm die Vollmachten des Präsidenten der Vereinigten Staaten zugestanden wären. Man vergleiche die angewandten österreichischen Methoden, samt ihren Mängeln, mit dem nach 1918 modern gewordenen politischen Werkzeug eines fortgeschrittenen Zeitalters, mit den Um- und Aussiedlungen, mit Unterwanderung, personeller Entrechtung und Verfolgung, mit Konzentrationslagern, Vergasung und Massenhinrichtungen, mit dem heute durchaus üblichen „Genecidium“. Ganz andere Wege wurden im „Völkerkerker“ eingeschlapen, man führte in Österreich sogar das Allgemeine Wahlrecht (1907) ein, vor dem national einheitliche Staaten noch Jahrzehnte zurückschreckten. Für Ungarn muß allerdings zugegeben werden, daß dieses Land seinen Nationalitäten nicht gerecht wurde, daß es dadurch, wie Wierer überzeugend und wiederholt dartut. seit 1848 alle Reformen für den Gesamtstaat blockierte. Auch der Dualismus von 1867 blieb nur deshalb eine anfechtbare Schöpfung, weil Ungarn die ihm eingeräumten Befugnisse durch Obstruktion zum Nachteil der Monarchie, in erster Linie der Landesverteidigung, mißbraucht hat. Trotz allem hat aber der viel- geschmähte (S. 87 ff.) Ausgleich insoferne ftpin Schuldiokeit für ein halbes Jabr- erfüllt, als er eise ‘itrtmerhin hrirtftbbare Ordnung geschaffen und niemand anderer eine bessere Lösung zustande gebracht h’f

Es berührt den Leser sehr angenehm, daß Wierer dem Donauraumproblem vor 1918 mit größtem Verständnis für dessen Schwierigkeiten gegenübersteht. Er sagt von ihm, es werfe „seine Schatten vielfach bis in unsere Gegenwart“, es sei das Schwanken in Kremsier „durchaus begreiflich“ gewesen und es wäre bei übereilten Beschlüssen „die Position einer österreichischen Regierung nicht leicht gewesen“. Man dürfe ferner „die Schwierigkeit der Entscheidung zwischen Uni- tarismus und Zentralismus und den vielfältigen, manchmal sogar gegensätzlichen föderalistischen nationalen Richtungen nicht im geringsten unterschätzen“. Wir lesen auch (S. 123 f.) die Feststellung, es berechtige das politische Konzept des Erzherzogs Franz Ferdinand zur Annahme, daß es — auch noch unter Kaiser Karl I. — Erfolg gehabt haben könnte. Nicht genug allseitig wird Kaiser Franz Joseph I. (S. 91) beurteilt, hier vermissen wir auch unter den fast 400 angeführten Druckwerken das dreibändige Werk Cortis. Franz Joseph wußte wohl sehr genau, bis zu welcher Grenze Konzessionen tunlich waren, ohne Gefahr zu laufen, mehr Unruhe denn Befriedung zu stiften. Wie bereits erwähnt, riskierte der Monarch sogar das Allgemeine Wahlrecht in Österreich, über dessen Erfolge man heute eher skeptisch denkt und dessen letzter Sproß, der 1917 wieder einberufene Reichsrat, offenkundig mehr zerstörend als erhaltend gewirkt hat. Ob des Kaisers weises, gewaltloses und stufenweises Vorwärtstasten mit gelegentlichem Bremsen den Völkern der Monarchie nicht vorteilhafter war als ein Jahrzehnte früher erfolgter national- separatistischer Umbau, der das Reich wahrscheinlich gesprengt hätte, das wird die kommende Geschichtsbetrachtung noch auszusprechen haben. Jedenfalls war die Lage des Reiches 1914 keineswegs eine hoffnungslose, die nationalen Bestrebungen waren noch vorwiegend zentripedal, und sie schlugen erst deutlich in das Gegenteil um, als sich der Sieg 1917/18 dem Gegner zuneigte und den gewinnenden und rettenden Anschluß zu finden nun die Parole wurde.

Nach unzähligen entmutigenden Reformversuchen blieb zwar Kaiser Franz Joseph streng verfassungstreu, zu Conrad sagte er aber unter vier Augen: „Glauben Sie mir. die Monarchie läßt sich konstitutionell nicht regieren!“ — als wollte er mit diesen Worten an Metternich an- kniipfen, der in seinem Testament (1859) gestand, man könne in Österreich nur das

Neubau aufführen. Unter den jungen Historikern behauptet Allmayer-Beck („Der ; Konservatismus in Österreich“, 1959), im 1 alten Österreich, diesem „von räumlichen, 1 politischen und nationalen Spannungen I auf das dichteste erfülltem Raum", sei I „eine Existenz nur durch die Beibehaltung 1 eines einigermaßen erträglichen Gleich- 1 gewichtszustandes zwischen den feind- 1 liehen Gegensätzen möglich“ gewesen. J Das alles soll nicht ein ewiges Auf-der- Stelle-Treten befürworten, vielmehr aus- ] drücken, daß Altösterreich in der Politik • richtigerweise nur der „Kunst des Mög- į liehen" (Bismarck) huldigen konnte.

Auch über die Wehrmacht, deren un- entbehrliche Rolle als übernationale , Reichsinstitution bis 1918 nur von Un- | garn bestritten wurde, muß noch im Zusammenhang mit der Staatsverfassung ein , Wort gesagt werden. Seit 1556 der Hof- j kriegsrat gegründet war, bildeten die s kaiserlichen Truppen die einzige, alle , Völkerschaften — auch jene Ungarns — ( vereinigende, kulturell hebende und i gleichberechtigt machende Einrichtung. Im ( Offizierskorps waren alle Nationalitäten, ] Konfessionen, Klassen und Stände unter- , soMedslo vertreten, und es war, wie ] Wierer zutreffend sagt (S. 22 f.; siehe j auch „Die österreichische Nation“, ( 6/1960), keineswegs vorwiegend deutsch. . Um den Soldaten zu einem brauchbaren , Kämpfer zu machen, mußte man ihm per- i sönliche Freiheit, Zufriedenheit und gute , Behandlung gewährleisten. Wohl war die ‘ Armee hinsichtlich Kommando und Diszi- j plin autokratisch-zentralistisch, wie es | nach Hans Kelsen „auch im Heerwesen . der extremsten Demokratie zur Geltung ] kommen muß“, ansonsten war sie aber durch und durch demokratisch-födera- j Jistisch, somit ein stärkendes egalisierendes , Element im multinationalen Staat. Diese , Armee, eine Schule des Föderalismus, war auch nie „gegen die Verfassung“ (S. 51), denn die berufensten Sprecher der Armee 1 bejahten wie der autonomiefreundliche , Radetzky 1849 die „Konstitution“ oder ‘ wie der föderalistische Benedek 1861 das ! „Februarpatent“. Radetzky war nur dann j gegen das Parlament, wenn es die Armee , schmähte, und Conrad wetterte nur dann ! gegen die Volksvertretungen, wenn sie 1 - Ire: iLandesverteidigttu - verantwortungslos ,1 verkümmern ließen. Conrad vertrat , einen ‘ dezentralisierten /föderalistischen) Zentra- i lismus, wie er schon 1848 und auch noch später des öfteren angestrebt wurde. Der i L nf der Dinge gab jedenfalls dem in der Wehrmacht gehandhabten System recht, denn als die Monarchie schon in Triim- mern lag, wurde amtli-h berichtet, daß I noch am 27. Oktober Truppen aus Wien, s Niederösterreich. Steiermark, Kärnten, i Böhmen. Galizien, Ungarn und Kroatien an der Südwestfront vom stärkeren Geg ner nicht geworfen werden konnten, und am 4. November — also nach dem Waffenstillstand — kämpften noch immer k. u. k. Abteilungen an 13 Orten der Front.

Wierer hat sein Werk im Herbst 1960 abgeschlossen, und seither liegen wieder neue einschlägige Arbeiten vor, von denen einige kurz erwähnt zu werden verdienen. Hat sich bereits auf dem Historikerkon- greß in Rom 1955 Ostblock-Ungarn mit der nationalen Entwicklung in Ungarn (Gy. Ember) und in späterer Erkenntnis mit Ungarn als Nationalitätenstaat (Z. J. Toth) befaßt, so brachte der Stockholmer Kongreß 1960 beachtenswerte Beiträge von O. Halecki, der die Wichtigkeit klarer Terminologie (Föderalismus, Föderation, Konföderation, Allianz, Union) hervorhob, von M. Bernath (Siebenbürger Rumänen in älteren Zeiten) und vom Slowenen Fran Zwitter („Les problemes natiaux dans la monarchie des Habs- bourg“). Letzterer kommt zum Schluß: „Für die nichtdeutschen und nicht- madjarischen Nationalitäten bedeutete die Monarchie das geringere Obel im Vergleich mit den Gefahren einer Auflösung (Großdeutschland für die Tschechen und Slowenen, das zaristische Rußland für die Polen und Rumänen, die italienische Irre- denta für die adriatischen Jugoslawen). Die Summe dieser Motive und der Opportunismus der politischen Parteien in einer relativ stabilisierten Lage erklärt den Mangel offenkundiger Opposition gegen die Existenz der Monarchie vor 1914.“ 1959 erschien die Kaiser-Karl-Biographie von R. Lorenz mit wichtigen, auch Ludwig Windiseh-Grätz ergänzenden Hinweisen auf die letzten Stadien der verfassungsrechtlichen Entwicklungen in Wien- Budapest. dann noch Arbeiten von Friedrich Walter, Emil Franzei usw. Es bleibt zu wünschen, daß Wierers Arbeit für die Epoche 1848 bis 1918 auf Grund von Archivquellen erweitert und zu einem umfassenden Werk über die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Donaumonarchie ausgestaltet werde.

Einige kleine Randbemerkungen zu Detailfragen: Auf Seite 48 wird vom „Widerstand“ der Ungarn gesprochen, wiewohl sie der Angreifer waren; das Schicksal Brucks (S. 53) erscheint nach jüngeren Forschungen in neuem Licht: die „Härte Haynaus“ (S. 91) sollte im Vergleich mit anderen ähnlichen, auch ausländischen Prozessen bis in unsere Tage .beurteilt av fden; die Annexion’tuJbst war/ wohl, keiji „Fehler“ (S. 126), bloß die Art ihrer Durchführung; das Erstreben eines Separatfriedens (S. 139) ist nicht erwiesen; das Manifest (S. 154) war nicht eine Ursache der Reichsauflösung, sondern ein letzter Versuch, den schon weit gediehenen Zerfall noch irgendwie aufzuhalten; die „Irredenra" (S. 231) war mehr als ein „Schielen über die Grenzen“, sie war die Absicht, benachbarte Gebiete zu erobern.

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