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Der böhmisch-ungarische Konflikt von 1871

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Von den zentrifugalen Kräften, die die alte Donaumonarchie gesprengt haben, war die stärkste der nationale Fanatismus der beiden Völker Ungarns und Böhmens. Sie befehdeten einander unablässig und vereinigten sich nur zuletzt zur Zerstörung des gemeinsamen Hauses. Ein Jahrtausend waren die beiden Königreiche parallel durch die Geschichte gegangen; aber erst nach langen Kämpfen konnte die im Erbkontrakt von 1517 beschlossene Vereinigung tatsächlich ins Leben treten.

Während das Königreich Böhmen als Kurfürftentum dem römisch-deutschen Reich angehörte, blieb Ungarn immer außerhalb dieser Gemeinschaft, ebenso wie Galizien und Oberitalien. Der jose- phinische Zentralismus machte vorübergehend der Eigenstaatlichkeit beider Königreiche ein Ende. Nach Josephs II. Tod lebten diese historisch-politischen Individualitäten wieder auf. Die gemeinsamen Herrscher — von Leopold II. bis Ferdinand den Gütigen — ließen sich wieder mit den beiden Königskronen krönen, doch hatte sich durch die Schaffung einer österreichisch-böhmischen Verwaltungseinheit unter Maria Theresia bereits eine Art von Dualismus her- aušgebildet. In den westlichen Ländern herrschte ein durch die landständischen Einrichtungen beschränkter Absolutismus, während in Ungarn sich eine oligarchische Verfassung behauptete. Kaiser Franz gab 1804 seiner gesamten Hausmacht den Titel: „Kaisertum Österreich.“ Innerhalb dieses Kaisertums hatte jedoch der ungarische Reichstag eine größere Kompetenz als die anderen Landesvertretungen. Na h dem ungarischen Aufstand von 1848 galt Ungarn gegenüber die Verwirkungstheorie, wie dies bei Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 der Fall war. — Nach 1848 wechselten gesamtzentralistische und föderalistische Verfassungsversuche. Die Katastrophe von Königgrätz 1866 hatte jedoch die schlimmsten Folgen, indem sie im Innern eine Spaltung des Reiches in zwei Teile herbeiführte. Dieser neue, verschärfte Dualismus, der durch den ungarischen Ausgleich von 1867 zustande kam, war zwar noch keine totale Personalunion, aber eine Realunion, die nur auf der schwankenden Grundlage von ąlle zehn Jahre zu erneuernden Ausgleichsverhandlungen beruhte. Die anderen Königreiche und Länder gerieten dadurch ins Hintertreffen! In beiden Reichshälften fiel automatisch je einem Volk die führende Stellung zu. Besonders die slawischen Völker fühlten sich verkürzt. Es war ja de facto ein Doppelzentralismus unter Vorherrschaft zweier privilegierter Nationen.

Der Wille der Krone, durch eine partielle Anerkennung des böhmischen Staatsrechtes, ein gerechtes Gleichgewicht herzustellen und die slawischen Völker durch volle Gleichberechtigung zufriedenzustellen, stieß auf heftigsten Widerstand bei den Zentralisten in beiden Reichshälften.

Der 67-Ausgleich war vom Reichskanzler Graf Beust, einem Wahlösterreicher aus Sachsen, mit dem zwar ehrlichen und maßvollen, aber doch einseitig nationalen Ungamführer Deik abgeschlossen worden. Ein anderer großer Wahlösterreicher, der Schwabe Dr. Albert S c h ä f f 1 e, war Beusts Widerpart auf wirtschaftlichem, sozialem und nationalem Gebiet und schien berufen, durch einen gerechten Ausgleich mit Böhmen die Einseitigkeiten des ungarischen Ausgleichs zu korrigieren. Der Alttschechenführer Dr. Fr. L. Rieger schien geeignet, die Rolle des „böhmischen Deäk" zu spielen. Schäffle hatte sich als Wiener Hochschulprofessor drei Jahre lang großes Ansehen geschaffen, besonders durch die Bekämpfung der Korruption. Ein Konzept seiner „österreichischen Staatsgrundsätze“ war durch Vermittlung eines Vertrauensmannes der Krone in die Hände des Kaisers gelangt und hatte dessen vollste Zustimmung gefunden. Schäffle wurde zum Kaiser in Audienz berufen und verhandelte nun auf dessen Wunsch mit einigen patriotischen Fachmännern über die Modalitäten zur Lösung dar sich immer mehr xuspitzenden böhmischen Frage. Die tschechischen Abgeordneten und die konservativen böhmischen Großgrundbesitzer waren seit einer Reihe von Jahren dem Wiener Parlament ferngeblieben, ihre Abstinenz durch eine feierliche Deklaration begründend. Mit dieser „Deklarantenpartei“ suchte nun das neue Ministerium Hohenwarth-Schäffle einen Ausgleich zu vereinbaren.

Eine schwierige Aufgabe — aber der große Wurf gelang. Das monumentale Ausgleichswerk in Böhmen, das unter dem Namen: „Die böhmischen Fundamentalartikel" bekannt ist, kam innerhalb weniger Monate zustande; und alle Voraussetzungen wurden geboten, um die große Verfassungsänderung auf verfassungsmäßigem Wege durchzuführen …

Aber da setzte Graf Beust mit Hoęh- druck seine Aktion ein. Er mobilisierte zunächst die ganze Wiener Presse gegen die zisleithanische Regierung; dann alarmierte er die ungarischen Minister gegen das böhmische Ausgleichswerk und setzte auch das Freimaurertum unter seinem ungarischen Führer P u 1 s z k y in Bewegung. Die Budapester Presse malte die schwärzesten Gefahren an die Wand, welche dem Ungartum durch die Föderali- sierung Österreichs drohten. So trat nun auch der ungarische Ministerpräsident Andrassy aus seiner Reserve heraus und erhob gemeinsam mit Beust Einspruch gegen die beabsichtigte Neuordnung Österreichs. Auf einem gemeinsamen Ministerrat erklärte Andrassy, durch den böhmischen Ausgleich würde sich eine derartige Veränderung an der Struktur des anderen Kompazistenten von 1867 vollziehen, daß sich dadurch Ungarn von seinen Verpflichtungen gegen diesen befreit fühlen müßte. Es würde daher zur reinen Personalunion übergehen. Besonders wurde ungarischerseits für diesen Fall mit der Errichtung einer selbständigen ungarischen Armee gedroht. Ebenso malte Beust die Gefahr einer Intervention der beiden nordischen Kaisermächte an die Wand. Andrassy fragte Hohenwarth, ob er denn das böhmische Staatsrecht auch gegen Kanonen verteidigen wolle? Diese Drohungen der ungarischen und der gemeinsamen Minister machten tiefen Eindruck auf den Kaiser, der damit gegen seinen Willen zu einer Entscheidung von unabsehbarerTragweite gedrängt wurde. Die große Schicksalsfrage der Monarchie war gestellt. Die Entscheidung fiel leider zuungunsten des böhmischen Ausgleichs. Die versprochene Königskrönung wurde abgesagt. Ein General kam als Statthalter nach Prag, und binnen kurzem wurde der Aus- nahmszustand dort proklamiert. Weitere acht Jahre blieben die böhmischen Abgeordneten dem Wiener Parlament fern, und die deutsch-liberale Partei herrschte in Wien noch ebensolang. Der Kaiser war neuerdings „der Gefangene“ dieser Partei, bis ein neues Versöhnungsministerium den Wünschen des Kaisers wieder die Wege ebnete. Dieses wollte alle Völker auf dem Boden der bestehenden Verfassung versöhnen; von irgendeiner Verfassungsänderung, sei es auch auf legalem Wege, wollte man jedoch nichts mehr wissen. Das Schreckgespenst des großen Ministerrates von 1871 wirkte noch anhaltend nach. Von einer, wenn auch bloß formalen Königskrönung, nach der die neue Regierung die Fühler ausgestreckt hatte, wollten weder die Deutschliberalen noch die Ungarn etwas wissen; und so blieb diese ehrwürdige Krone, welche so viele habsburgische Herrscher geschmückt hatte, für immer verscharrt…

Zwar steuerte das vielverlästerte Ministerium Taaffe das Staatsruder 14 Jahre lang durch alle Klippen, aber der Stachel im Herzen des tschechischen Volkes blieb. Der Royalismus dieses schwer lenkbaren, leicht verbitterten Volkes hatte einen tödlichen Stoß erlitten. Noch funktionierte die autonomistisch-födera- listische Majorität, die zu mehr als zwei Drittel aus Slawen bestand, unter Führung des Grafen Hohenwarth, der das große Ausgleichsprojekt von 1871 repräsentierte. Diese Majorität, die als der „Eiserne Ring" bekannt ist, wirkte konservierend auf das in seinen Grundfesten erschütterte Reich. Auch wirkte der mächtige und bei Hof sehr einflußreiche Polenklub retardierend und mäßigend auf die anderen slawischen Parteien, die von Haus aus dem Radikalismus zuneigten. Er war häufig das Zünglein an der Waage zwischen den übrigen Slawen und den Deutschen.

Trotz allem ließ sich die stetige Radikalisierung der Slawenvölker nicht mehr aufhalten. Dadurch wurde auch der übernationale Hohenwart-Klub („Klub der Konservativen") stetig geschwächt. Der Sprachenstreit dominierte und drängte die Forderung nach der Königskrönung ganz in den Hintergrund. Der „Eiserne Ring" wurde durch die Jungtschechen gesprengt, lebte einige Jahre später in verzerrter Gestalt wieder auf in der ÄraB.adeni, ging jedoch wieder unter — durch die jungtschechische Stoßkraft von innen und die deutsche Obstruktion von außen. Es fehlte eben rechts die Führerschaft Hohenwarts und links die Führerschaft Pleners, der zwar doktrinär und unnachgiebig, aber eine sehr loyale, korrekte Persönlichkeit war. Der Sprachenstreit endete auf parlamentarischem Boden mit einer passiven Bilanz für die Tschechen, die, in zahlreiche Fraktionen gespalten, sich immer mehr isolierten und an Einfluß verloren. Das Koalitionsministerium Max Vladimir Beck 1907 brachte mit der Wahlreform eine vorübergehende Besserung und ein letztes Aufflackern des altösterreichischen Gemeinschaftsgeistes. Als aber Baron Beck gesürzt wurde, ging es rapid bergab.

Inzwischen hatte sich auch in Ungarn der mayarische Chauvinismus neuerdings zugespitzt, an der Armeesprache gerüttelt und die anderen ungarländi- schen Nationalitäten in ihren Rechten verkürzt. Die hochherzigen Versuche des Königs, durch das Ministerium Fejėr- väry-Kristoffy das allgemeine Wahlrecht unbedingt durchzusetzerk, waren gescheitert. Es herrschte dann zuerst eine national-radikale Koalition Apponyi-Kossuth, dann Stefan Tisza fast wie ein Diktator …

Endlich brach der erste Weltkrieg herein über das schwergeprüfte Reichl Ungarn, im Besitze aller wirtschaftlichen Trümpfe, versuchte damit der westlichen Reichshälfte ohne Verständnis für das Gebot der Stunde seinen Willen aufzudrücken. Durch seine ablehnende Haltung gegen alle Forderungen der Slawen und Rumänen sowie gegen die Postulate der Alliierten und die 14 Punkte Wilsons, führte es den Zusammenbruch herbei, dessen schwerstes Opfer es selber wurde.

In Böhmen hatten sich inzwischen zwei ehrsüchtige Männer an die Spitze des tschechischen Volkes geschwungen. Diese eilten mit fliegenden Fahnen ins feindliche Lager und forderten im Widerspruch zu den evidentesten Interessen ihrer eigenen Nation die Zertrümmerung der Monarchie…

Ebenso war im slawischen Süden, wo einstens die dynastische Gesinnung stark verankert war, als Folge der ungarischen Machtpolitik ein reichsfeindlicher Irre- dentismus stark in die Halme geschossen. Und so bildete sich auf den Trümmern des alten Reiches eine Reihe selbständiger Sukzessionsstaaten, die ohne Rücksicht auf die natürlichen Gesetze der Wirtschaft ihr eigenes Leben leben wollten und sich gerade dadurch immer weiter von Freiheit und Wohlstand entfernten. An Stelle des einstigen Königreiches Böhmen trat die Republik „Tschechoslowakei“, ein unglückliches Staatsgebilde mit teilweise offenen Grenzen. Es wurde zwar auf eigene Füße gestellt und politisch mit zwei anderen Sukzessionsstaaten zu einem gemeinsamen Verband, der „kleinen Entente“ zusammengekoppelt; aber die unnatürliche Konstruktion war von kurzer Dauer. Ungarn wurde gevierteilt und ist schließlich, wie seine feindlichen Nachbarn, hinter dem „Eisernen Vorhang“ verschwunden.

Ein Rückblick auf die letzten 80 Jahre ergibt somit, daß der Niedergang des Donaureiches und seiner Völker mit dem 67er-Ausgleich beginnt. 1871 war noch die letzte Möglichkeit einer Remedur durch die „Fundamentalartikel“ gegeben. Das Scheitern dieses großen Ausgleichswerkes verschüttete — meines Erachtens — in seinen Folgen allmählich die letzten Rettungsmöglichkeiten Alt-Österreichs. Das ungarische Veto gegen die „Fundamentalartikel" und gegen die böhmische Königskrönung war ein Schlag, der sich mörderisch gegen die österreichisch-ungarische Monarchie und letzen Endes gegen Ungarn selbst auswirkte.

Die einstigen Königreiche Böhmen und Ungarn sind im Schoß der Zeitengeschichte versunken. An ihrer Stelle stehen heute zwei Satelittenstaaten, der eine unnatürlich vergrößert, der andere jämmerlich verstümmelt, beide aller Macht und Freiheit und alles Wohlstandes verlustig. Erst ein gemeinsames Zusammenwirken beider Länder und Völker in einem künftigen freien Europa könnte ihnen wieder zu ihrem Range verhelfen.

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