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Sein Vermächtnis: die Verfassung

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Vor 100 Jahren, am 22. Februar 1862, starb der österreichische Staatsmann Franz Xaver Freiherr von Pillersdorf, ein bahnbrechender Wegbereiter der Demokratie und des Parlamentarismus in Österreich, dessen Name mit der österreichischen Rechtsgeschichte untrennbar verbunden ist.

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Wie ein Zauberwort erfaßte im 19. Jahrhundert der Begriff Konstitution Intellektuelle, Bürgertum und Bauern. Der Ruf nach einer geschriebenen Verfassung war allgemein. In einer Konstitution erträumten sich selbst die unteren Schichten der Be-

völkerung das Mittel, mit dem alle Beschwernisse ihrer Berufsgruppen behoben weiden könnten. Auch eine bedeutende Schichte des Adels, besonders die literarisch interessierten Kreise, allen voran der Dichter Graf Anton Alexander Auersperg (Anastasius Grün), huldigten dem konstitutionellen Gedanken, und selbst Mitglieder des kaiserlichen Hauses erwiesen sich ihm ergeben. Diesen Gedanken nicht rechtzeitig .in seinen Wirkungsbereich eingebaut zu haben, war der schwere Fehler des Staatskanzlers Fürst Metternich. So erzwang sich der Geist der .Zeit auf revolutionärem Wege, was ihm in geordneter Bahn der Entwicklung vorenthalten wurde. Kaiser Ferdinand brach mit dem „System“ und bewilligte eine Verfassung.

Zur Ausarbeitung einer solchen Konstitution für den Kaiserstaat Österreich wurde Franz Xaver Freiherr von Pillersdorf berufen; in seiner Stellung als Innenminister des ersten provisorischen Ministerrates fiel ihm dies ressortmäßig zu. Seiner bürokratischen Herkunft nach wäre eher zu erwarten gewesen, daß er das Finanz-

portefeuille übernimmt. Denn der 1786 in Brünn geborene, seit 1805 im Staatsdienst wirkende Jurist kam bald in die Hofkammer — so hieß damals das Finanzministerium — und wurde 1824 ihr Vizepräsident, nachdem er sich bei der Gründung der österreichischen Nationalbank große Verdienste erworben hatte. Sein zielbewußtes Wirken führte ihn 1842 auf die hohe Position des Kanzlers der vereinigten Hofkanzlei. Dort erwies sich der im Dienste mit seinen 56 Jahren schon ergraute Beamte vor allem als ein umsichtiger und fleißiger Sachwalter, der allerdings den allzu ergebenen Dienern des Systems manchmal unbequem war, weil er die Fehler der Staatsverwaltung klar erkannte und sich nicht scheute, seine Eindrücke und Ansichten rückhaltlos zum Ausdruck zu bringen.

Als nun Kaiser Ferdinand unter dem Druck der Stände, die von Graf Montecuccoli, Baron Doblhof und Anton Ritter von Schmerling geführt wurden, aber auch über Rat des Erzherzogs Franz Karl und seiner Gemahlin, der Erzherzogin Sophie, sich entschloß, seinem Land eine Konstitution zu geben, lag es nahe, den ständigen Kritiker zum Baumeister des neuen Staates zu machen. Keiner erschien geeigneter als Franz Xaver Freiherr von Pillersdorf, der die Notwendigkeiten der neuen Zeit klar erkannte und sich dazu auch offenherzig bekannte: „Ein neuer Bau muß aufgeführt werden“, schrieb er, „neu in seinen Grundlagen, neu in der Gliederung der Staatsgewalten, neu in den Befugnissen, welche er den Staatsbürgern in seiner inneren Einteilung zuweisen sollte.“

Belgien war das Vorbild

Noch versuchten konservative Kräfte, den Lauf der Entwicklung abzudrängen und eine Erneuerung der Stände zu erwirken; die kaiserlichen Handschreiben vom 12. und 14. März 1848 .sprachen ja noch von Anträgen und Ratschlägen, welche die kaiserliche Regierung „in Ansehung der ständischen Verhältnisse“ von den Landtagen erwarte. Pillersdorf aber, der von seinen ausgedehnten Reisen durch den europäischen Westen an der Seite des Grafen Stadion die demokratischen Formen Englands und Frankreichs, des Mutterlandes der Demokratie und des Parlamentarismus sowie der europäisch-kontinentalen Vormacht der modernen Staatsführung, genau kannte und sie eingehend studiert hatte, nahm sich die Verfassung Belgiens zum Vorbild, wie dies auch andere deutsche Staaten getan hatten, und die allgemein als die vollkommenste anerkannt war.

Schon am 25. April 1848 konnte als Geschenk des Kaisers die „Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates“ publiziert werden. Daß Pillersdorf die politischen Realitäten besser zu wägen verstand als selbst mancher seiner 1 Gesinnungsgenossen und Nachfahren im Amt, beweist, daß er die Verfassung auf die deutschen Erblande, die Länder der böhmischen Krone, die polnischen Provinzen und die übrigen westlichen Gebiete einschließlich Dalmatiens beschränkte, die Reiche der heiligen ungarischen Krone und die Lombardo-Venetiens aber außerhalb ihrer Wirksamkeit ließ. Er griff damit einer Entwicklung vor, die 1867 ihren bleibenden Abschluß fand.

Teilung der Staatsgewalt

Diese Verfassung, die berechtigterweise unter der Bezeichnung Pillers-dorfsche Verfassung in die Rechtsgeschichte einging, bringt erstmalig eine Teilung der Ausübung der Staatsgewalt zwischen Krone und Volksvertretung in Österreich. Die Person des Monarchen wird feierlich als geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich erklärt, aber seine Anordnungen bedürfen der Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers. Die Gesetzgebung übt der Kaiser im Verein mit dem Reichstag aus. Die Volksvertretung führt den Namen Reichs tag, wie dies in der Terminologie der allgemeinen Staatslehre üblich ist. Es ist das einzige Mal, daß dieser Ausdruck zur Bezeichnung einer österreichischen

Volksvertretung gebraucht wird; alle späteren müssen sich, wenn auch wesensgleich, mit dem Namen Reichs-r a t begnügen. Dieser Reichstag besteht aus einem Senat und einem Abgeordnetenhaus.

Der Senat wurde aus den mindestens 24 Jahre alten Prinzen des Kaiserhauses gebildet und 150 Personen, die von den bedeutendsten Grundbesitzern aus ihrer Mitte gewählt werden. Überdies hatte der Kaiser das Recht, Personen ohne Rücksicht auf Stand und Geburt zu lebenslänglichen Mitgliedern des Senats' zu ernennen.

Die Kammer der Abgeordneten bestand aus 383 Mitgliedern. Diese Abgeordneten sollten nach dem Patent vom 8. Mai 1848 von Wahlmännern

gewählt werden. Arbeiter gegen Tagoder Wochenlohn, Dienstleute und Personen, die aus öffentlichen Wohltätigkeitsanstalten Unterstützung genießen, konnten nicht als Wähler auftreten. Diese Beschränkung erweckte große Unzufriedenheit und brachte das ganze Verfassungswerk in Gefahr. Da auch das Zweikammersystem heftige Kritik hervorrief und die demokratische Bewegung nach einer konstituierenden Reichsversammlung rief, wurde mit kaiserlicher Proklamation vom 16. Mai der erste Reichstag als ein „konstituierender“ und nur aus einer Kammer bestehend erklärt. Die provisorische Wahlordnung vom 30. Mai beseitigte den Steuerzensus, setzte das Alter für die Wählbarkeit auf das 24. Lebensjahr herab und räumte auch den Tag- und Wochenlohnern das Wahlrecht ein.

Ein Katalog der Rechte

Auf Grund dieser Rechtslage wurde der erste österreichische Reichstag gewählt und trat bereits am 22. Juli 1848 am 58. Tage nach dem Erscheinen der Verfassung in Wien zusammen. Die Abgeordneten wurden auf fünf Jahre gewählt. Sie dürfen ihre Mandate nur persönlich ausüben. Ihr Mandat ist ein freies Mandat: sie „dürfen von ihren Kommittenten keine Instruktionen annehmen“. Auch die parlamentarische Immunität war vorgesehen: Kein Kammermitglied durfte während der Tagung des Reichstages ohne ausdrückliche Zustimmung der Kammer, der er angehörte — die Immunität sollte also auch für die Mitglieder des Senats gelten —, gerichtlich verfolgt oder verhaftet werden, den Fall der Ergeifung auf der Tat ausgenommen.

Die Hauptaufgabe des Reichstages nach der Verfassung war die Mitwirkung an der Gesetzgebung. Alle Gesetze bedürfen der Zustimmung beider Kammern des Reichstages und der Sanktion des Kaisers. Volksvertretung und Monarch begegnen einander auf gleicher Ebene: sie haben aber nicht ganz gleiches Gewicht. Denn der Gang der Gesetzgebung beginnt beim Reichstag und endet beim Kaiser; dadurch ist dem Reichstag auf Inhalt und Gestaltung der Gesetze ein erhöhter Einfluß gegeben, der dadurch nur wenig gemildert wird, daß die Erarbeitung der Gcsetzesvorlagen durch die Regierung erfolgt.

An der Verwaltung wirkt der Reichstag mit durch die Bewilligung der Erhebung von Steuern und Abgaben, der Kontrahierung von Staatsschulden, der Veräußerung von Staatsgütern, der Prüfung und Feststellung des Jahresvoranschlages, der Staatseinnahmen und -ausgaben. Alle diese Bewilligungen können nur durch ein formelles Gesetz erfolgen.

Der Verfassung ist ein kurzer Katalog der staatsbürgerlichen Rechte der Einwohner des Kaiserreiches vorangestellt, der ebenso modern anmutet wie die Bestimmungen über die richterliche Gewalt. Für die Strafrechtspflege werden Schwurgerichte berufen.

Die Richter können nur durch ein Erkenntnis der Gerichtsbehörde entlassen, im Dienste zurückgesetzt oder gegen ihren Wunsch an einen anderen Dienstort versetzt werden.

Die Revolution naht

Es ist kein Zweifel, daß Österreich in dieser Verfassung eine dauernde Grundlage für sein politisches Leben hätte finden können. Die revolutionären Ereignisse, vor allem die Ermordung des Grafen Latour, störten die so glücklich eingeleitete konstitutionelle Epoche Österreichs. Zunächst wurde, um ihn dem Einfluß der revolutionären Elemente zu entziehen, am 22: Oktober i84S der Reichstag in das kleine mährische Städtchert Kremsier verlegt. Bis dahin kam nur ein einziges, allerdings höchst wichtiges Gesetz zustande. Hans Kudlich war sein Urheber, es ist das Gesetz vom 7. September, betreffend die Grundentlastung, Ablösung der Robot und Aufhebung der patrimonialen Gerichtsherrlichkeit und Polizei. Im August wurden zwei Ausschüsse eingesetzt; der eine zur Schöpfung einer „Verfassung des Reiches, der Provinzen und Gemeinden“, der andere zur Ausarbeitung eines Gesetzes über die „bürgerlichen Grundrechte“.

Pillersdorf selbst hatte an dieser Betätigung des Reichstages als Regierungsmitglied allerdings keinen Anteil mehr. Er war zwar am 4. Mai Ministerpräsident geworden und vereinigte in seiner Person in gehobenem Maße nun die Regierungsmacht, aber die Zugeständnisse des 16. Mai, besonders die Erklärung, dem Reichstag den Charakter einer Konstituante zu geben, hatten sein Ansehen in den höheren

Kreisen schwer gemindert. Aber auch in der demokratischen Bewegung! Er erzählt selbst in seinem handschriftlichen Nachlaß: „Die Stimmung sei sehr gegen mich aufgeregt, weil man mich in Verdacht habe, daß ich auf der Errichtung einer Pairskammer, auf der indirekten Wahlform und auf der Aufrechterhaltung der Verfassung vom 25. April 1848 beharre.“ Deputationen des Sicherheitsausschusses und des Demokratenvereines sprachen bei dem mit der Vertretung des Kaisers in Wien betrauten Erzherzog Johann vor und -forderten die Abberufung' Pillersdorfs. Nach einer kurzen' Auseinandersetzung mit diesen Elementen bot Pillersdorf dem Erzherzog am 8. Juli seine Demission an, die dieser befremdenderweise sofort annahm, um die Regierung dem weit radikaleren Baron Doblhof zu überantworten; die Radikalisierung nahm ihren Lauf.

Nach dem Sturz

Pillersdorf zog zehn Tage nach seinem Sturz, am 18. Juli, in den von ihm geschaffenen Reichstag ein. Als Abgeordneter fand er im Zentrum, einer gemäßigt liberalen Gruppe, seinen Platz in der Volksvertretung, von der er sich so viel für das Heil und die Kraft der Habsburger-Monarchie erhoffte. Zu besonderer Wirksamkeit kam er dort nicht mehr. Am 2. Dezember legte Kaiser Ferdinand die Krone nieder, und Erzherzog Franz Joseph bestieg den Thron. Sein Ministerpräsident, Fürst Felix Schwarzenberg, erschien zwar vor dem Reichstag und gab eine durchaus loyale Regierurigserklärung ab, unter dem Einfluß des Fürsten Windisch-grätz aber schloß er völlig unerwartet den Reichstag und löste ihn mit kaiserlichem. Manifest vom 4. März 184“ auf.

Jetzt fiel Pillersdorf in Ungnade. Man hatte alle Leistungen des fleißigen und von bestem Wollen beseelten treuen Dieners der Dynastie und des Staates vergessen und verzeichnete nur die Fehlschläge, die seiner Regierung begegneten. 1852 wurde er sogar zu allem Überfluß aus der Reihe der wirklichen Geheimräte gestrichen.

Tm Volk aber dachte man anders über den Schöpfer des ersten demokratischen Reichstages. Als 1861 der von Anton Ritter von Schmerling ins Leben gerufene Reichs rat zusammentrat, war Pillersdorf wieder unter den Abgeordneten. Doch schon am 22. Februar 1862, im Alter von 76 Jahren, beschloß der schwer verkannte Staatsdiener — dem man ob seiner Fehlschläge den Ehrentitel Staatsmann nicht vorenthalten sollte — sein Leben.

Wie immer man das Werk Pilleisdorfs einschätzt, sein Andenken sei zur 100. Wiederkehr seines Todestages in ehrende Erinnerung gerufen. Um seiner selbst willen, aber auch zum Beweis des Alters und zur Ehre unserer österreichischen Demokratie!

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