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Die neue Staatsverfassung Bayerns
Der Ablauf der neuen Geschichte hat die
Weltöffentlichkeit verleitet, die Versuche des deutschen Volkes, zu einer wirklichen, lebendigen Demokratie zu gelangen, mit Zurückhaltung und Skepsis zu betrachten. Das |n der preußischen Staatsphilosophie verkörperte reine Obrigkeitsdenken', das unter dem Nationalsozialismus in “den „Führerstaat“ ausartete, erschien sosehr in der Psyche verwurzelt, daß wissenschaftliche Analytiker dem Deutschen preußischer Formung überhaupt die Fähigkeit eines echten freiheitlichen Denkens und Fühlens absprachen. Zu allem kam das Fehlen eines großen tragenden Geschichtsbildes, was in der Gegensätzlichkeit der alten Reichsidee zu dem modernen preußischen Staatsprinzip seinen Ausdruck fand
Die nach dem ersten Weltkrieg ins Leben gerufene Weimarer Verfassung, ein Werk gelehrter Verfassungsrechtler,versuchte vergeblich, die versäumten Gelegenheiten von 1848 nachzuholen. Die theoretisch glänzend geschulten Verfasser, wie der Berliner Preuß, der Münchner Konrad Bayerle und der Frankfurter Giese, übersahen die konkreten Erfordernisse des Augenblicks. So kam das Wort Partei im Verfassungstext überhaupt nicht vor. Aber gerade die politischen Parteien regierten im ersten Jahrzehnt der-„Novtmberrepublik“ beinahe absolut, bis ihr Einfluß von den Industriekonzernen und der Wehrmacht zurückgedrängt wurde. Der Reichspräsident konnte das im Artikel 48 ausgesprochene Notverordnungsrecht anwenden. Durch seine Handhabung vermochten Hindenburg und Brüning zwei Jahre; lang die Demokratie gegen ejne revolutionäre Machtergreifung des rechten und linken Extremismus zu schützen und die rechtsstaatliche Institution aufrechtzuerhalten.
Heute blickt die Welt mit Spannung auf das zum zweitenmal besiegte Deutschland.! Die neuen konstruktiven Versuche der jungen deutschen Demokratie nach zwölf Jahren einer totalitären Herrschaft finden weit über jeden lokalen Rahmen hinaus Beachtung.
Besondere Aufmerksamkeit ist den Bestrebungen Bayerns, zu einer eigenständigen Demokratie und ihrem verfassungsrechtlichen Niederschlag zu gelangen, gewidmet. Schon deshalb, weil Bayern als größtes und kulturell wie historisch bedeutendstes süddeutsches Land in der deutschen Geschichte meist als der natürliche Gegenpol Preußens in Erscheinung getreten ist. Die Tendenzen, einen föderalistischen Weg zu finden, der der eigenständigen, möglichst freien Entwicklung der einzelnen Landcsindividuali-täten Spielraum gibt, haben daher von München ihren Ausgangspunkt genommen Es war nicht zuletzt seine tiefwurzelnde weltanschauliche Tradition, die Bayern im Gegensatz zu den gleichmaiherischcn Tendenzen und widernatürlichen Gleichsdhahungs-bestrebungen brachte und sein beachtliches Beharrungsvermögen auslöste.
Die neue bayrische Verfassung betont die Rechtskontinuität und nimmt in.ihrem 186. [Artikel auf ihre Vorgängerin vom 14. August 1919 Bezug. Das Dritte Reich erscheint somit als illegale Zwischenkonstruktion. Das neue Verfassungsinstrument besitzt erhöhten föderalistischen Charakter gegenüber dem früheren. Bayern bezeichnet sich darin als selbständigen Staat. Artikel 178 sagt, daß es gewillt ist, einem freiefl deutschen Bundesstaat beizutreten, wobei an einen freien Zusammenschluß der deutschen Einzelstaateh gedacht wird. Die Bestimmungen der bayrischen Verfassung bedürfen keiner Bestätigung durch eine übergeordnete, reichsrechtliche Instanz. Der föderalistische Grundzug ist damit deutlicher ausgeprägt als etwa im neuen Statut des benachbarten neugeschaffenen Verwaltungsbezirkes Württemberg-Baden, das eigens verlautbart, daß Bestimmungen, die mit der kommenden deutschen Verfassung nicht übereinstimmen, mit deren Verkündung an Geltung verlieren. Allerdings hat Bayern kein Außenministerium und selbstverständlich auch kein Ressort für
Landesverteidigung. Auch , wurden bestimmte Kompetenzen an den Rat der Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone abgetreten.
Die neue bayrische Verfassung bleibt beim formaldemokratischen . Schema des Einkammersystems. Der Senat hat nur beratende Funktion, obwohl er die Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kommunalen und geistigen Körperschaften darstellt. Die Staatsregierung ist nur in besonderen Fällen verhalten, sein Gutachten einzuholen. Der Landtag hat das alleinige Gesetzgebungsrecht mit grundsätzlich einfacher Stimmenmehrheit. Die Trennung der Gewalten wird scharf hervorgehoben. Der rechtsstaatliche Gehalt kommt in der Unabhängigkeit der Richter zum Ausdruck.
Das Volk selbst kann legislativ in .Erscheinung treten! Volksbegehren und Volksentscheid sind aus der früheren republikanischen Verfassung übernommen worden. Für ein Volksbegehren ist die Zustimmung von mindestens einem Zehntel der Stimmberechtigten erforderlich. Es kann durch den Landtag abgelehnt werden. Verfassungsändernde Landtagsbeschlüsse müssen dem Volk vorgelegt werden.
Mangels eines Staatspräsidenten nimmt der Regierungschef die Stelle eines Staatsoberhauptes ein. Er wird wie der Präsident in den Vereinigten Staaten von Nordamerika auf die Dauer von vier Jahren gewählt. Das neue Statut Bayerns kennt auch einen Verfassungsgerichtshof, der einen dem amerikanischen Bundesgerichtshof ähnlichen Rang einnimmt. Er hat die Aufgabe, den Landtag und die Staatsregierung zu überwachen. Der Ministerpräsident vertritt Bayern nach außen. Beim Abschluß von Staatsverträgen bedarf er die1 Zustimmung des Landtages. Bei Beschlüssen der Staatsregierung ist die absolute Stimmenmehrheit der Minister erforderlich. Der Ministerpräsident kann zum Rücktritt gezwungen werden, wenn ein Einverständnis und eine vertrauensvolle sachliche Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Landtag nicht hergestellt werden können.
Die Vflfkflndung eines fortschrittlichen Gemeinderechts bedeutet eine wichtige Annäherung an die Grundgesetze einer organischen Demokratie. De Gemeinden werden für autonome Gebilde erklärt. Mit der Durchführung dieses Grundsatzes ist eine weitgehende Dezentralisation der Verwaltung verbunden.' Der bayrische Staat baut sich daher von unten nach oben, von den Gemeinden her, auf. Die Staatsbeamten sind Dienef des Volkes und nicht einer Partei und auch auf die Abgeordneten trifft dies, wenigstens dem Wortlaut der Verfassung nach, zu. Der Regierung wurde im Gegensatz zur Weimarer Verfassung kein Notverordnungsrecht' zugestanden. Die Zustimmung des Landtages ist bei allen wichtigen Beschlüssen erforderlich, wenn sie/Gesetzeskraft erhalten sollen. Es gibt keine Sondergerichtsbarkeit. In außerordentlichen Fällen hat hingegen der Landtag das Recht zur Anklage. Individuelle Freiheit, Meinungs- und Preßfreiheit, Koalitionsfreiheit, Gewissensund Religionsfreiheit, werden sichergestellt. Gegenüber der Exekutive besteht dtr Vorrang der persönlichen- Sicherheit. Jeder Festgenommene ist spätestens am folgenden Tag dem ordentlichen Gericht zu überstellen, das entweder einen Haftbefehl erlassen oder die Freilassung verfügen muß. (Dieser Grundsatz gehört zu den traditionellen Bestandteilen des österreichischen Rechts.)
Hervorragende Aufmerksamkeit wird im Sinne einer christlichen Sozialpolitik der Pflege und dem Schutz der Familie geschenkt. Eigentum und Erbrecht sind sichergestellt. Aber die Verwendung des Besitzes verpflichtet gegenüber der Gesamtheit. Der Staat überwacht so Produktion und Konsum, lenkt sie aber nicht und ermöglicht der schöpferischen Initiative Entfaltung. Das Handwerk genießt besonderen Schutz. Monopolbildungen und ein weitgehender Mechanisierungsprozeß sollen vermieden werden. Der Staat soll die wirtschaftliche Unabhängigkeit und den Aufstieg der Begabten fördern.
Die Grundrechte der neuen bayrischen Staatsverfassung streben nach völkerrechtlichem Schutz und Einbau in eine internationale Rechtsordnung. Artikel 105 des Statuts schützt Ausländer, die unter Nichtbeachtung der in Bayern gültigen Grand-rechte im Ausland verfolgt werden und nach Bayern geflüchtet sind. Sie dürfen nicht ausgeliefert oder ausgewiesen werden.
Über all diese humanistischen Grundsätze hinaus stellt Bayern den Völkerhaß eigens unter Strafe. Die Schulkinder sind im Sinne einer Friedenspolitik und der Völkerversöhnung zu erziehen. De neue bayrische Verfassung verkörpert also Prinzipien, die einen wichtigen Beitrag für das Entstehen einer kommenden deutschen Demokratie zu leisten vermögen.
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