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Das Gesetz der Gesetze

19451960198020002020

1980 ist ein Jahr der Jubiläen für die Republik Österreich. Zwischen der Erinnerung an die Geburtsstunde der Zweiten Republik vor dreißig Jahren, der Unterzeichnung des Staatsvertrages und der Erklärung der immerwährenden Neutralität vor fünfundzwanzig Jahren jährt sich am 1. Oktober zum sechzigsten Mal der Tag, an dem die konstituierende Nationalversammlung in Wien einstimmig das Bundes- Verfassungsgesetz (B.-VG.) beschlossen hat, die Grundlage unseres Bundesstaates. A us diesem Anlaß treten am Erscheinungstag der dieswöchigen FURCHE auch National- und Bundesrat zu einer gemeinsamen Festsitzung zusammen

19451960198020002020

1980 ist ein Jahr der Jubiläen für die Republik Österreich. Zwischen der Erinnerung an die Geburtsstunde der Zweiten Republik vor dreißig Jahren, der Unterzeichnung des Staatsvertrages und der Erklärung der immerwährenden Neutralität vor fünfundzwanzig Jahren jährt sich am 1. Oktober zum sechzigsten Mal der Tag, an dem die konstituierende Nationalversammlung in Wien einstimmig das Bundes- Verfassungsgesetz (B.-VG.) beschlossen hat, die Grundlage unseres Bundesstaates. A us diesem Anlaß treten am Erscheinungstag der dieswöchigen FURCHE auch National- und Bundesrat zu einer gemeinsamen Festsitzung zusammen

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Das Bundes-Verfassungsgesetz hat | in seiner Entwicklung das politische' Schicksal Österreichs geteilt. In den Novellen 1925 ausgebaut und 1929 in seiner heutigen Form geprägt, wurde es 1934 in verfassungswidriger Weise durch eine neue Verfassung abgelöst, welche Österreich nicht als parlamentarische Demokratie, sondern als ständisch-autoritären Staat einrichtete, der allerdings mit der Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich zu bestehen aufgehört hatte.

Nach der Beendigung des NS-Regi-mes hat die provisorische Staatsregierung mit dem am 1. Mai 1945 beschlossenen Verfassungs-Überleitungsgesetz das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung 1929 als die dem Stichtag vom 5. März 1933 entsprechende verfassungsrechtliche Ordnung wieder in Geltung gesetzt. Auf diese Weise hat das Bundes-Verfassungsgesetz die staatsrechtliche Grundlage für die sogenannte erste und zweite Republik Österreich gebildet.

Seinem Inhalt nach ist es das Ergebnis eines mehrfachen Kompromisses, der in bezug auf viele Strukturen des öffentlichen Lebens von einem nicht immer leicht erklärbaren Stillschweigen zu bestimmten Ordnungsproblemen gekennzeichnet ist. 1 Das Erfordernis einer neuen österreichischen Verfassung hat sich nach dem Untergang der Donaumonarchie und dem damit verbundenen Außerkrafttreten der sogenannten Dezemberverfassung 1867 als Notwendigkeit ergeben.

In der für heutige Verhältnisse kurzen Zeit von wenigen Monaten haben sich die Landes- und Parteienvertreter auf den Entwurf des Bundes-Verfas-sungsgesetzes geeinigt gehabt, wobei der damalige Professor des öffentlichen Rechts an der Universität Wien, Hans Kelsen, (1881 bis 1973) durch seine Tätigkeit als Berater, als welcher er mehrere Entwürfe zur Diskussion stellte, wesentliche Voraussetzungen zu dieser parlamentarischen Einigung geleistet hatte; von politischer Seite sei vor allem an die Initiativen von Karl Renner und Ignaz Seipel erinnert.

Während die Erklärung der Staatsform schon am 12. November 1918 für die politischen Parteien eine Selbstverständlichkeit war, bedurfte es längerer Verhandlungen zum Ausgleich zwischen den Ideen eines zentralistischen Einheitsstaates, denen die Sozialisten das Wort redeten, und einer föderativen Staatenverbindung, für welche besonders die Christlichsozialen eintraten.

Die dann zustandegekommene Form der Bundesstaatlichkeit ist zwar der Form nach föderalistisch, ihrem Inhalt nach aber mehr unitaristisch.

Seiner Gliederung nach (Allgemeine Bestimmungen, Gesetzgebung des Bundes, Vollziehung des Bundes, Gesetzgebung und Vollziehung der Länder, Rechnungskontrolle des Bundes, Garantien der Verfassung und Verwaltung, Schlußbestimmungen) nahm das Bundes-Verfassungsgesetz konservativ auf die übernommenen Territorialfaktoren des Staates und nicht auf seine Personalfaktoren bezug.

In diesem Sinne wird die Ausübung der Staatsgewalt auf Bund und Länder (Gemeinden) aufgeteilt, aber keine entsprechende Aussage über die wirksamen Kräfte der Demokratie, wie politische Parteien und Interessenvertretungen getroffen, welche aber in all den Jahren der Geltung die entscheidenden Faktoren des öffentlichen Lebens wurden.

Vertreter der politischen Parteien haben 1918 den Weg zur Ausrufung der Republik Österreich beschritten und 1945 nach Beendigung des NS-Regi-mes die Unabhängigkeitserklärung abgegeben; darauffolgende Wahlen mit verhältnismäßig hoher Beteiligung haben sie in ihrem Tun demokratisch bestätigt.

In den Jahrzehnten des Bestehens der Republik Österreich haben die Parteien die Macht im Staate Österreich ergriffen und ausgeübt, was sich durch die verstaatlichte Wirtschaft über den Hoheitsbereich in Österreich bemerkbar macht.

Die politischen Parteien selbst wurden aber im Bundes-Verfassungsgesetz 1920 weder was ihre Rechte und Pflichten anbelangt, noch hinsichtlich ihrer Finanzierungsmöglichkeiten einer Regelung unterworfen. 1975 versuchte man dies in einem Parteiengesetz anläßlich der Regelung der staatlichen Finanzierung der Parteien, was aber als nicht ganz geglückt zu bezeichnen ist.

Zu den ungelösten Bereichen sind auch die Interessenverbände zu zählen. Sie finden als Kammern in den Kompetenztatbeständen und als sogenannte freie Interessenverbände in der verfassungsrechtlich geschützten Vereinsfreiheit ihre Verfassungsgrundlage, ohne daß das Bundes-Verfassungsgesetz selbst Näheres über ihre Aufgaben und Stellung beinhaltet.

Die Sozialpartnerschaft der Grqß-verbände hat sich auch ohne Verfassungsauftrag seit 1945 entwickelt und ihr begrüßenswertes Wirken hat Wertvolles zum Gemeinwohl geleistet.

Es scheint, daß der Verfassungsgesetzgeber 1920 nur jene Grundsätze des öffentlichen Lebens, die neu die Staatsordnung bestimmen sollten, hervorgehoben hat. Da Österreich schon vor 1918 eine Demokratie mit Parteien und Interessenverbänden war, wurden sie nicht besonders geregelt, sondern nur im Zusammenhang mit der Angabe der Staatsform der Republik eigenschaftswörtlich angesprochen.

Österreichs Rechtsstaatlichkeit, die in ihrem System ebenso wie die Grundrechte schon in der Dezemberverfassung 1867 enthalten war, findet sich zwar in einzelnen B.-VG.-Bestimmungen ausgeführt, nicht aber als Begriff verwendet.

Anders Österreichs Bundesstaatlichkeit, die in Artikel 2 ausdrücklich hervorgehoben wird und auch in der Bezeichnung des Bundes-Verfassungsge-setzes ihren Niederschlag gefunden hat. Österreich war nämlich vor 1918 ein dezentralisierter Einheitsstaat.

Österreichs Bundesstaatlichkeit ist zwar dem Namen und der Form nach gegeben, ihrem Inhalt nach hält sie dem Vergleich mit anderen föderalistischen Systemen nicht stand.

Vor allem die Stellung des Bundesrates als Länderkammer, die Kompeteriz-verteilung und der Finanzausgleich erweisen sich als Hauptanliegen der Reformbedürftigkeit des österreichischen Föderalismus, die sich in Forderungsprogrammen der österreichischen Bundesländer ausdrücken.

Dem Inhalt nach enthält das Bundes-Verfassungsgesetz eine Regelung der Ausübung der Staatsgewalt in den drei Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, hingegen keinen eigenen Grundrechtskatalog und keine Angabe von über den Rechts- und Machtzweck hinausgehenden Staatszwecken.

Die Grundrechte wurden aus der Dezemberverfassung 1867 übernommen und die Bestimmung der Staatszwecke dem einfachen Gesetzgeber ebenso überlassen wie die Regelung der Sozial-und Wirtschaftsordnung, wobei die Grundrechte eine marxistische Zentral-verwaltungswirtschaft ausschließen und die soziale Marktwirtschaft als am vereinbarsten erkennen lassen.

Neben seiner Unvollständigkeit ist das Bundes-Verfassungsgesetz noch durch eine Kompromißhaftigkeit gekennzeichnet, die nicht allein in einer Distanz zu allen werthaften Aussagen gelegen ist und deshalb auch keine ideologischen und weltanschaulichen Positionen erkennen läßt, sondern auch in der Tatsache, daß es als Grundordnung der Republik viele Rechtseinrichtungen der Monarchie übernommen hatte, wie Kelsen selbst betonte.

Besonders das weltweit anerkannte System der österreichischen Rechtsstaatlichkeit mit seiner Verfassungsund Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie seiner Rechnungshofkontrolle ist aus der Zeit vor 1918 erklärlich.

Seine Kompromißhaftigkeit setzt sich auch im System des Bundes-Verfassungsgesetzes durch, in dem repräsentativ und plebiszitär demokratische Verfassungskomponenten ebenso nebeneinander bestehen wie eine demokratische Staatswillensbildung, der eine mehr autokratische Vollziehung dient.

Die B.-VG.-Unvollkommenheit wurde aber durch ein seltenes Maß an liberaler Staatstreue ausgeglichen und durch die Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ergänzt. Der Fortschreibung des österreichischen Verfassungsrechtes wird es aber aufgetragen sein, das übernommene Verfassungsrechtssystem der heutigen politischen Ordnung so anzupassen, daß weder die Politik juridifiziert noch das Recht verpolitisiert wird.

Es wird vielmehr darauf ankommen, daß Freiheit und Sicherheit des einzelnen und der Gesellschaft in Osterreich gewahrt bleiben und unser Land auch als Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat ein Rechtsstaat bleibt, welcher der Demokratie auch von morgen die Form ihres Wollens und den Weg zu ihren Zielen weist.

Der Autor ist ordentlicher Universitätsprofessor für öffentliches Recht und Politische Wissenschaften in Linz sowie Stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates.

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