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Das Parlament als „Oppositionskammer“?

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Eine der zentralen Fragen des Regierungssystems ist die Frage nach der Regierungsform. Unsere Verfassung läßt diese j Frage offen. Es sind alle möglichen Formen von der Alleinregie-rung bis zur Allparteienregierung möglich. Seit Jahren aber wird über diese Frage diskutiert: Welche Regierungsform ist für Österreich die geeignetste? Viele. waren und sind der Meinung, daß eine Alleinregierung die beste Regierungsform ist Sie treten daher für ein mehrheitsforderndes Wahlrecht ein. Die drei im Parlament vertretenen Parteien sind nicht dieser Meinung.

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Eine der zentralen Fragen des Regierungssystems ist die Frage nach der Regierungsform. Unsere Verfassung läßt diese j Frage offen. Es sind alle möglichen Formen von der Alleinregie-rung bis zur Allparteienregierung möglich. Seit Jahren aber wird über diese Frage diskutiert: Welche Regierungsform ist für Österreich die geeignetste? Viele. waren und sind der Meinung, daß eine Alleinregierung die beste Regierungsform ist Sie treten daher für ein mehrheitsforderndes Wahlrecht ein. Die drei im Parlament vertretenen Parteien sind nicht dieser Meinung.

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Bei der FPÖ ist das verständlich. Ein Mehrheitswahlrecht fördert das Zweiparteiensystem. Bei den beiden Großparteien ist der Widerstand gegen ein mehrheitsförderndes Wahlrecht weniger verständlich. Machterhaltungs- und SicherheitS'-denken, Streben nach Gleichheit der Ausgangsposition, verbunden mit einer Positions- und Postengarantie, gegenseitiges Mißtrauen, Angst vor der Mehrheitsherrschaft, Zugeständnisse gegenüber der FPÖ als möglichem Juniorpartner einer kleinen Koalition, Gewohnheit, Tradition, proporz- und repräsentativdemokratische Vorstellungen und anderes mehr, sind als Gründe der Präferenz für ein Verhältniswahlrecht zu nennen. Einige dieser Gründe waren auch ausschlaggebend für die den Proporz sogar noch verfeinernde Wahlrechtsreform 1970, die durch einfaches Gesetz herbeigeführt wurde. Die ÖVP war gegen diese Reform, ohne aber für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht einzutreten. Die SPÖ nahm 1970 vorweg, daß die Alleinregierung nicht die optimale Regierungsform für Österreich ist. Die ÖVP schloß sich offenbar dieser Auffassung an, da sie nie für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht eingetreten ist. Sie ist sogar noch konsequenter als die SPÖ dieser Auffassung, da sie für' eine Zusammenarbeit der Parteien in der Regierung eintritt. Die SPÖ drückte ihre Meinung in der Wahlrechtsreform 1970 durch, die ÖVP drückt ihre Auffassung 1975 in der Forderung nach einer Konzentrationsregierung aus. Im Grunde sind sich alle Parteien, jedenfalls SPÖ, ÖVP und FPÖ, einig: Am Proporzwahlrecht darf nicht gerüttelt werden. Das heißt: Die Alleinregierung ist ihrer Meinung nach nicht die für Österreich geeignetste Regierungsform. Uneinigkeit besteht derzeit darüber, ob die Konzentrationsregierung die geeignetste Regierungsform für Österreich ist. Die Argumente, die für die Wahlrechtsreform vorgebracht wurden, waren insbesondere: mehr Chancengleichheit und mehr Gerechtigkeit für alle Parteien und jede Stimme. Diese Argumente kann man auch für die Konzentrationsregie-rung vorbringen.

Die österreichische Bundesverfassung richtet ein parlamentarisches Regierungssystem mit föderativen, präsidialen, plebiszitären und verfassungsgerichtlichen Gegengewichten und Kontrollen ein. Das parlamentarische ist das offenste Regierungssystem, insbesondere in der Frage der Regierungsform. Bei einem mehrheitsfördernden Wahlrecht besteht freilich regelmäßig ein tatsächlicher Zwang zur Alleinregierung. Dadurch besteht Sicherheit darüber, wer regiert: das Volk entscheidet direkt, wer die Regierung bildet. Bei einem mehrheitserschwerenden Proporzwahlrecht mit einem volksgewählten Staatsoberhaupt, das die Regierung ernennt, bedeutet die Offenheit, daß die Frage der Regierungsform vom Verhältnis der Parteiführer zueinander und vom Bundespräsidenten abhängt. Das Volk hat dabei wenig Einfluß.

Die Nationalratswahlen brachten bis 1966 keine Entscheidung, auf die der Wähler irgendeinen Einfluß hatte; er mußte immer wieder eine Blankovollmacht für künftige Koalitionsverhandlungen der beiden Großparteien ausstellen. Er konnte allenfalls damit rechnen, daß sich nichts ändert als die Besetzung des einen oder anderen Ministeriums. Die Proporzregierung mit Gelegenheitsvariationen gliederte Funktionen der Opposition aus dem Bereich des Parlaments aus und in den Regierungsbereich ein. Die große Koalition schloß freilich Konkurrenz, Kontrolle und Kritik nicht aus. Die Konkurrenzsituation konzentrierte sich in der Regierung. Und die Kontrolle und Kritik eines Koalitionspartners in bezug auf den Bereich, der von anderen beherrscht wurde, brachte den Begriff der „Bereichsopposition“ in die Wissenschaft. Die österreichische Regierungspraxis des Koalitionspaktes mit eingebautem Oppositonsmechanismus wurde nicht nur als eine interessante Neuerung, sondern auch als ein Versuch betrachtet, einen Teil des überkommenen Verfassungsgutes in eine Zeit hin-überzuretten, in der die politische Doktrin in die Gefahr gerät, sich entweder durch den Versuch der totalen Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse zu übernehmen, oder auf die Stufe eines relativ harmlosen Aushängeschildes für Interessenvertretung herabzusinken.“ So Kirchheimer extra muros 1957. Kafka sah es intra muros anders. Er analysierte die Entwicklung, der Parteien von Bürgerkriegsparteien zu Koalitionspartnern und Oppositionsunfähigkeit und konstatierte das „Übel der Unfähigkeit zur Opposition“. An die Stelle der selbstgewählten Koalitionsunfähigkeit der SPÖ und der infolgedessen einseitig beschränkten Koalitionsfähigkeit der anderen Parteien in der Ersten Republik, sei in der Zweiten Republik die selbstgewählte Oppositonsun-fähigkeit der beiden Koalitionspartner getreten. Auf beiden Seiten fürchte man, mit der Regierungsgewalt so viel Einfluß einzubüßen, daß eine Rückkehr in die Regierung auf Grund der Wählerentscheidung nicht mehr möglich sein würde.

Schon in den sechziger Jahren wurde die Problematik unseres Regierungssystems bewußt. Aber die Parteien setzten trotz verschiedener Plädoyers für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht nicht beim Wahlrecht an. Das Wahlrecht ist zwar politisch der archimedische Punkt des Regierungssystems. Aber obwohl es sogar nur durch einfache Mehrheit in Richtung eines mehrheitsfördernden Verhältniswahlrechts geändert werden könnte, hat man diese Korrektur des Regierungssystems unterlassen. Man glaubte, den gegenläufigen Schritt gehen zu müssen, wobei nicht nur Rücksichten auf die FPÖ eine Rolle gespielt haben dürften. Vielleicht erwartete sich die SPÖ auch eine Stabilisierung ihres machtmäßigen Status quo in Verbindung mit einer langsamen, aber sicheren Vermehrung ihrer Stimmen und Mandate im Zuge des gesellschaftlichen Wandels. Die Wahlen 1975 werden möglicherweise darüber Auf schluß geben.

Dem ersten Schritt, dem „gerechten“ Wahlsystem folgte nun der zweite Schritt, die Forderung nach der „gerechten“ Regierungsform. Im übrigen wurde zur gleichen Zeit, als das Mehrheitswahlrecht diskutiert wurde, auch die verfassungsgesetzlich verankerte Konzentrationsregierung, also die dem Mehrheitswahlrecht mit Alleinregierung entgegengesetzte Konstruktion zur Diskussion gestellt. Kafka hat schon Mitte der sechziger Jähre Auswege aus dem

Dilemma aufgezeigt. Sie sind in Erinnerung zu bringen. Kafka ging davon aus, daß die verfassungspolitischen Irrtümer nur durch eine Verfassungsänderung korrigiert werden könnten. Er setzte aber hinzu, daß eine Verfassungsänderung nur möglich ist, wenn sie den Interessen derer nicht widerspricht, die sie zu beschließen haben. Damit schloß er von vornherein alle Vorschläge aus, die auf die Einführung eines mehrheitsfördernden Wahlrechts abspielen. Er schloß aber aifch Vorschläge aus, die isolierte Änderungen betrafen, so etwa den Vorschlag, bei sonst gleichbleibender Verfassungslage Mehrheitsbeschlüsse in der Bundesregierung zu ermöglichen. Dies nütze rechtlich nichts, wenn die Minderheit die Karte des Sturzes der Regierung oder auch nur einer Krise in der Regierung politisch ausspielen kann. Auch der Vorschlag der Rotation der Ressorts allein bringe nichts. Wohl aber sprach sich Kafka für die Gewaltenteilung nach dem Muster der Eidgenossenschaft! aus. „Wenn die verfassungsrechtliche Seite des Übels in der Identität von Partei- und Regierungsverantwortung besteht, kann auch die verfassungsrechtliche Trennung dieser Funktion Hilfe bringen, wozu auch die gegenseitige Unabhängigkeit von Parlament und Regierung gehört. Diese aber Ist beiden großen Parteien zumutbar.“

Wenn eine von ihnen ausnahmsweise die absolute Mehrheit erränge, hätte die schwächere doch die Garantie, nicht von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen zu sein, auch1 wenn diese Verantwortung nicht mehr von Parteifunktionären, sondern nur von Vertrauensleuten der politischen Parteien getragen würde. Dem Nachteil, daß diese Vertrauensleute überstimmt werden könnten, stünde der Vorteil entgegen, daß die Partei auf ihre Vertrauensleute in der-Regierung;aufih keine Rücksicht zu nehmen brauche, somit die Einheit der Partei nicht notwendig aufs Spiel setzt, wenn sie einen unpopulären Vorschlag der Regierung bekämpfen will. Gerade deshalb, weil das Regierungsmitglied parteitaktischer Erwägungen enthoben wäre, würden zudem Mehrheitsentscheidungen in der Bundesregierung gegenüber einstimmigen Beschlüssen praktisch ebenso die Ausnahme bilden wie schon jetzt in der Regierungspolitik der meisten,österreichischen Bundesländer. Die im Parlament schwächere Partei könne „Regierung und Opposition zugleich“ spielen, ohne dadurch über der Einheit der Partei die Einheit und Aktionsfähigkeit der Regierung zu verspielen. Das Prinzip der Gewaltenteilung in Form der Unabhön-gigkeit von Parlament und Regierung sollte weiterentwickelt werden. Das Ministeramt sollte mit dem Ausscheiden aus der Partei- und Verbandshierarchie bezahlt werden. Partei und Staat könnten nur gewinnen, wenn das Regierungsamt zum Lohne einer ehrenvollen und langen parlamentarischen Laufbahn, zugleich aber zum Abschied von jeder parteipolitischen Funktion wird.

Durch die Verbindung des Proporzwahlsystems mit dem Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne einer Unvereinbarkeit von Abgeordnetenamt und Ministeramt und einer gegenseitigen Unabhängigkeit von Parlament und Regierung und dem Mehrheitsprinzip in der Regierung wäre eine Annäherung an das schweizerische Regierungssystem erreicht.

Der Vorschlag einer institutionalisierten Konzentrationsregierung geht über' die eben skizzierte Korrektur der Fehlplanung der Verfassung hinaus. Sie bedeutet eine Annäherung an das schweizerische System mit gewissen Elementen des französischen Systems. Vorgeschlagen wurden insbesondere, so von Khol: Festlegung der Zahl der Bundesminister in der Verfassung; die mandatsstärkste Partei besetzt das Amt des Bundeskanzlers, die zweitstärkste das des Vizekanzlers; die übrigen Bundesminister werden nach dem Verhältnis der im Nationalrat vertretenen Parteien bestellt; die Ressorts werden durch Mehrheitsbeschluß der Bundesregierung aufgeteilt und periodisch neu verteilt; für die Bundesregierung gilt das Mehrheitsprinzip; jeder Bundesminister hat das Recht der Gesetzesinitiative in Angelegenheiten seines Ressorts; Ausbau der Kontrollrechte des Parlaments, wobei eine Fraktion die Ressorts der anderen kontrollieren kann; Ausbau der Rechnungs- und Gebarungskontrolle; Ausbau der Ver-fassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Einrichtung der Volksanwaltschaft mit umfassenden Kontrollrechten.

Bemerkenswert ist, daß die Frage der politischen Gewaltenteilung von Parlament und Regierung, insbesondere die Frage der Vereinbarkeit von Minister- und Abgeordnetenamt, die Frage der Bundesprösidentscha/t und die Frage der Einrichtungen der plebiszitären Demokratie als Gegengewicht gegen die von vornherein festgelegte Parteienkonzentration in der Regierung bisher nicht zur Diskussion gestellt wurden. Ohne Unvereinbarkeit von Minister- und Abgeordnetenamt würde das Proporzwahlrecht und die weitgehende Einheit von Regierung und Parlament bewirken, daß die Konkurrenz zwischen den Parteien in der Regierung geradezu „zu Hause“ wäre. Man muß konsequenterweise zur Gewaltentrennung von Regierung und Parlament übergehen, ja Regierung und Parteipolitik in gewisser Weise trennen. Der Gedanke des plebiszitären Gegengewichtes gegen die Parteienkonzentration könnte durch institutionelle und instrumenteile Verstärkung der Einrichtungen der direkten Demokratie gesichert und verstärkt werden. Die Liste der verfassungspolitischen Änderungen ist daher zu erweitern durch Festlegung der Unvereinbarkeit von Abgeordnetenamt und Ministeramt und damit Ubergang von der Gewaltenverbindung zur Gewaltenteilung im Verhältnis von Parlament und Regierung; Unvereinbarkeit von Abgeordnetenamt und Verwaltungsamt im Staat; Beschränkung der Wiederbesteilbarkeit bzw. der Funktionsdauer der Bundesminister; Ausbau der plebiszitären Einrichtungen.

Bei einer Konzentrationsregierung würden die repräsentativen Komponenten des Regierungssystems viel stärker als bisher sein. Als Gegengewicht dazu müßten die plebiszitären Komponenten verstärkt werden, einerseits als Hebel der gesellschaftlichen Veränderung, als Hebel gegen Erstarrungs- und Entfremdungserscheinungen, anderseits als Bremse gegenüber einseitigen Reformen. Dabei wäre den plebiszitären Komponenten auch auf Gemeinde- und Bezirksebene besondere Bedeutung zuzumessen. Der Ausbau der plebiszitären Komponenten und der Kontrolleinrichtungen wäre aber nicht das Wesentliche an der Verfassungsänderung. Der Ausbau dieser Einrichtungen wird eine der Hauptaufgaben jeder Verfassungsreform sein, ebenso die Institutionalisierung der Opposition. Das Wesentliche an einer Verfassungsreform in Richtung Konzentrationsregierung wäre die Festlegung der Regierungsform, die Änderung der Regelung über die Regierungsbildung, die Neuordnung der Regierungsorganisation und vor allem die Neuordnung des Verhältnisses von Parlament und Regierung. Will man zum Prinzip der politischen Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung übergehen, so wäre auch zu überlegen, ob man nicht von den beiden zusammengehörigen Institutionen Parlamentsauflösung durch die Exekutive und parlamentarisches Mißtrauensvotum abgehen soll. Sie haben ihren Sinn bei der Konzentrationsregierung verloren. Sie bestehen auch nicht in der Schweiz. Man muß sich freilich.auch darüber klar sein, daß jede Annäherung an die Schweiz ein Entfernen vom parlamentarischen Regierungssystem und britischem Muster bedeutet.

Die Vor- und Nachteile einer Konzentrationsregierung sind in jüngster Zeit zur Genüge dargestellt worden. Es erübrigt sich hier. Es mag sein, daß die Mehrheit der Bevölkerung für dieses System eintritt. Mag sein, daß eine beamten-hierarchische Nation, die eher Neigungen für die Konkordanz- und Proporzdemokratie als für die Konkurrenz- und Majorzde-mokratie zeigt, die den Ausgleich' und das Gleichgewicht bejaht, sich in einer Volksabstimmung mehrheitlich für die Kooperation aller im Parlament .vertretenen Parteien in der Regierung ausspräche. Wenn man die Parteien mit dem Volk identisch setzen könnte, wenn die Parteien in der Praxis tatsächlich nur verschiedenes Personal für die gleichen Wege und Ziele bereithalten, wenn die Konzentration aller Kräfte in der Regierung eine Steigerung der Entscheidungskapazität des Regierungssystems bedeutete, wenn die öffentliche Meinung als aktives, pluralistisches Gegengewicht gegen die Parteienkonzentration fungierte, vielleicht wäre dann die Konzentrationsregierung die für Österreich geeignetste Regierungsform.

Der Verfasser ist skeptisch. Er plädiert nach wie vor für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht im Rahmen der Verfassung und für den Umbau des Parlaments zu einer „Oppositionskammer“. Frage ist nur, ob nicht dieser Weg einer Korrektur der Fehlplanung der Verfassung durch die Wahlreform 1970 auf längere Sicht versperrt ist. Bleibt daher nur der andere Weg?

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