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Den Parteien eine Chance!

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Ein Telefongespräch am Abend des 18. April 1966 beendete die Ära der Koalition: Die SPÖ-Führung hatte auf eine Beteiligung an der Machtausübung verzichtet. Seitdem regiert die ÖVP allein, im Parlament stehen sich Regierung und Opposition gegenüber. Auf den ersten Blick ergibt sich der Eindruck einer parlamentarischen Demokratie englischen Musters, den die Existenz einer dritten, kleinen und ebenfalls in Opposition stehenden Partei (FPÖ) nur zu bestätigen scheint.

Mehrheit und Machtwechsel

Die Umgestaltung des Regierungs-systems hat die Aufgabe der österreichischen Parteien erheblich verändert. Waren sie in der Koalition primär Vertreter von Gruppeninteressen, so sind sie nunmehr vor allem „Instrumente demokratischer Regierungsweise“ (Hermens). Sicherlich bedingt der Umbruch für die Parteden einen „Lernzwang“ (Pisa). Um die Möglichkeit des „Lernerfolges“ beurteilen zu können, bedarf es aber einiger Überlegungen zum „Lernstoff“ (den Rollen von Regierung und Opposition) und zur „Vorbildung der Schüler“ (der Parteienstruktur und ihrer Entwicklung). Auch die Frage, ob das „Klassenziel“ (ein parlamentarisches Regie-rungssystem) von den österreichischen Parteien unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt erreicht werden kann, darf nicht vernachlässigt werden.

Beim parlamentarischen System stehen sich im Nationalrat politische Eliten als Regierung und Opposition gegenüber. Die regierende Mehrheit versucht, ihre politischen Ziele zu verwirklichen, und die opponierende Minderheit kontrolliert die Regierungstätigkeit. Die Opposition ist dabei bestrebt, nach der nächsten Wahl zur Durchführung ihres eigenen Programms die Leitung des Staates zu übernehmen. Die politische Kontrolle der Opposition ist dann wirksam, wenn die Regierung tatsächlich eine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse, also den Machtwechsel, fürchten muß. Parlamentarische Mehrheit und Chance des Machtwechsels sind die Voraussetzungen einer handlungsfähigen parlamentarischen Demokratie. Daß beide Momente zusammengehören, leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch in den Jahren der Koalition die Regierung von einer parlamentarischen Mehrheit getragen wurde.

In Österreich besteht nämlich seit 1919 eine parlamentarische Demokratie, jedenfalls vom Verfassungstext her. Das B-VG enthielt von Anfang an den Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit (Art. 74). Aus diesem Grunde mußte jede österreichische Bundesregierung — auch in der Zweiten Republik — versuchen, sich eine Mehrheit im Nationalrat zu sichern. Solange die beiden großen Parteien eine Zusammenarbeit mit der „nationalen“ Partei ablehnten, verfügten von 1949 bis 1966 nur ÖVP und SPÖ gemeinsam über eine Mehrheit im Nationalrat. Es bestand keine annehmbare Alternative zur Koalition. Das Ende der Koalition läßt offenbar werden, daß verschiedene Entwicklungen der österreichischen Innenpolitik einen gewissen Abschluß gefunden haben. Die Umgestaltung des Regierungssystems ist das letzte Glied einer Kette von Umbrüchen im politischen Leben. Inwieweit haben diese Veränderungen die Voraussetzungen und Möglichkeiten parlamentarischer Regierung in Österreich verbessert?

Erfolgreiche Koalition

Zunächst hat die heute vielfach geschmähte Koalition alle Ziele erreicht, die 1945 von ihr (damals noch einschließlich KPÖ) angestrebt wurden: die Einheit des Landes konnte bewahrt, seine Freiheit wiederhergestellt, der innere Frieden für über 20 Jahre aufrechterhalten und der wirtschaftliche Aufbau in Gang gesetzt werden. Damit waren die wesentlichen inneren und äußeren Grundlagen geschaffen für die Heranbildung eines Konsenses der Bevölkerung zu ihrem Staat und seiner Regierungsform. Ohne diesen grundsätzlichen Konsens ist dar Bestand einer parlamentarischen Demokratie undenkbar. Die wachsende Entscheidungsunfähigkedt der Koalition warf aber in den letzten Jahren die Frage nach der Existenzberechtigung dieser spezifischen Regierungsweise auf, die absolute Mehrheit der ÖVP schuf die parlamentarische Voraussetzung einer Änderung.

Auswirkungen des Wahlsystems

Allerdings hatte es die Koalition unterlassen, durch entsprechende verfassungspoiitische Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Regeln der Machtbildung auf ein parlamentarisches Wechselspiel von Regierung und Opposition vorbereitet wurden. Hier ist vor allem an das Wahlsystem zu denken: „Wahlverfahren transformieren Parteipräferenz in politische Macht“ (Wildenmann). Die Regelung der Mandatsverteilung durch Art. 26 B-VG und die geltende NWO beeinflußt entscheidend die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit.

Nach den bisherigen Erfahrungen kann eine Partei mit ländlichen Hochburgen (ÖVP) mit zirka 47,5 Prozent der gültigen Stammen 84 Mandate, also eine absolute Mehrheit erhalten. Die SPÖ als Partei mit städtischen Hochburgen würde dazu zirka 48,6 Prozent der Stimmen benötigen. Diese Chancenungleichheit der beiden großen Parteien beruht auf der Bevorzugung der ÖVP durch die Anwendung der Bürgerzahlen als Basis der Mandatszuteilung auf die Wahlkreise. Die unterschiedliche Größenordnung der Wahlzahlen im ersten und zweiten Ermittlungsverfahren bewirkt eine Verschiebung zwischen den Stimmen- und Mandatsanteilen zu Gunsten der großen Parteien, die bereits mit einer Minderheit der Stimmen eine Mehrheit im Parlament erzielen können.

Ohne diese beiden Auswirkungen des Wahlsystems hätte die ÖVP trotz ihres hohen Stimmenanteils am 6. März 1966 keine absolute Mehrheit erhalten. Daß die ÖVP ihren bisher höchsten Stimmenanteil erzielen konnte, ist auf eine dynamische Auswirkung der Wahlordnung zurückzuführen: Die KPÖ entschloß sich zur Wahlempfehlung, weil die Parteiführung nicht hoffen konnte, ein Grundmandat zu erringen. Die Wirkung dieser Sperrklausel entspricht ungefähr derjenigen einer auf das ganze

Bundesgebiet bezogenen Vier-Prozent-Klausel. Obwohl die Sperrklausel und die überproportionale Vertretung der großen Parteien eine Konzentration des Parteiensystems begünstigen, bildet die Nationalratsmehrheit einer Partei bisher in Österreich die Ausnahme.

Kandidatenaufstellung

Neben diesen Determinanten der zwischenparteiliichen Konkurrenz enthält die NWO als Listenwahl eine wesentliche Besthnmungsgröße der innerparteilichen Rekrutierung des politischen Personals: Listenwahl stärkt die Stellung der Parteigremien, die über die Reihung der Kandidaten entscheiden. Das gilt auch bei der in Österreich angewandten, sogenannten „lose gebundenen Liste“, solange die Wähler von den Möglichkeiten des „Reihens“ und „Streichens“ nicht in stärkerem Umfang Gebrauch machen als bisher. Bei den beiden großen Parteien hat sich auf Grund der durch die Liste gegebenen Möglichkeiten für die Rekrutierung des politischen Personals ein Selektionsverfahren ausgebildet, in dem das Senioritätsprin-zip vorherrscht. (Die FPÖ regelt das Verfahren der Kandidatenaufstellung intern.) Das Eintreten in die politische Elite, den Nationalrat, vollzieht sich häufig durch Nachrücken von aussichtslosen über unsichere auf sichere Listenplätze. Modifikationen sind bei der ÖVP durch die Einschaltung der Bünde, bei der SPÖ durch das Eingreifen der zentralen Parteigremien bedingt.

Dieses Rekrutierungssystem begünstigt bei der SPÖ die Entsendung altgedienter Funktionäre in den Nationalrat und ermöglicht bei der ÖVP nur in Grenzen eine rationale Fraktionsplanung, das heißt eine Vorsorge für die Wahl einer Anzahl von unbedingt erforderlichen Fachleuten in den Nationalrat. Die alleinige Übernahme der Regierungsverantwortung erforderte den Einsatz der meisten ÖVP-Spitzen-kräfte in der Regierung. Der dadurch bedingte Mangel an Spitzenpolitikern im Parlamentsklub löste sowohl Klagen über die Qualität der Abgeordneten als auch erneute Bestrebungen zur satzungsmäßigen Verankerung eines Mitspracherechtes der Bundespartei bei der Berufung von Abgeordneten auf Restmandate aus.

Entideologisierung

Sieht man von diesem Spezialpro-blem ab, so waren die österreichischen Parteien auf eine Änderung der innenpolitischen Situation besser vorbereitet als je zuvor. Der Umbruch trat ein, nachdem in der „Aktion 20“ und dem „Programm für Österreich“ die Entideologdsie-rung von ÖVP und SPÖ ihren Höhepunkt erreicht hatte. Entideologisierung heißt nicht, daß die Parteien ihre weltanschaulichen Grundlagen „verraten“ oder ihre Grundsätze aufgegeben hätten, gerade die genannten Programme zeigen aber, daß zunehmend sachrationale Lösungen politischer Einzelprobleme in den Vordergrund der Politik gestellt werden. Die Entideologisierung stellt einen Prozeß dar, der in Österreich bereits in den fünfziger Jahren begann, als die Parteitage der ÖVP und SPÖ in Innsbruck beziehungsweise Wien neue Programme beschlossen. Diese Programme enthielten wichtige Ansätze zur programmatischen Neuorientierung, aber auch altgewohnte Vorstellungen. Die programmatische Neuorientierung wurde verursacht von dem Bestreben der Parteiführungen, die weltanschauliche Basis ihrer Parteien soweit zu verbreitern, daß sie in der Lage wären, eine Mehrheit der Nationalratsmandate und damit einen Regierungsauftrag der Wähler zu erhalten. Der Erfolg einer solchen Politik manifestiert sich darin, daß die Wähler darauf ansprechen, also in einer Änderung des Wählerverhaltens. Eine solche Entwicklung ist in den Ergebnissen der Nationalratswahlen 1966 sichtbar geworden.

Das Ende der Lagermentalität

Vorher konnte man annehmen, daß Wahlverhalten in Österreich von einer „Lagermentalität“ bestimmt war; ein Wählerwechsel vollzog sich — wenn überhaupt — innerhalb des gleichen Lagers, wobei bürgerliche Parteien (ÖVP, FPÖ) und sozialistische (SPÖ, KPÖ) jeweils ein „Lager“ bildeten. Stellt man in einer Tabelle die Stimmen der beiden „Lager“ und die Summe der Nicht-wähler, ungültigen Stimmen und sonstigen Parteien (alle in Prozent der Wahlberechtigten) zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

Bis einschließlich 1962 zeigt die Tabelle ein geschlossenes Bild: die beiden „Lager“ blieben-relativ konstant, lediglich die Wahlenthaltungen nahmen seit 1956 zu. Die Stimmenanteile der einzelnen Parteien wiesen allerdings größere Schwankungen auf. So lag der Stimmenanteil der ÖVP in den Jahren 1953 bis 1962 zwischen 38,85 Prozent und 43,34 Prozent; die SPÖ erzielte im gleichen Zeitraum zwischen 39,65 Prozent und 41,60 Prozent.

Im Ergebnis von 1966 zeigte sich aber eine wesentliche Veränderung: Der Anteil der Nichtwähler und sonstigen Parteien stieg um 3 Prozent an (DFP), das sozialistische „Lager“ verlor insgesamt 4 Prozent, davon 1 Prozent an die bürgerlichen

Parteien. Der tatsächliche Wählerwechsel war noch stärker, kompensierte sich aber teilweise: „Österreichs Wähler sind in Bewegung“ (Blecha/Kienzl). Für ein parlamentarisches System, in dem sich die beiden großen Parteien in der Regie-rungsverantwortunig ablösen, sind diese potentiellen Wechselwähler eine wesentliche Voraussetzung. Sie entscheiden darüber, welche der beiden Parteien die stärkste wird und deshalb die Regierung übernimmt. Eine solche Entscheidung über die Regierungsbildung ist auch in Österreich dadurch möglich geworden, daß der Entideologisierungsprozeß die großen Parteien für potentielle Wechselwähler wählbar gemacht hat.

Institutionelle Sorgen

Die beiden großen Parteien unterscheiden sich nach der Entideologisierung und der Herausstellung von Kanzlerkandidaten im letzten Wahlkampf nicht wesentlich von denen in England, auch die Konzentration der Wählerschaft auf die beiden großen Parteien entspricht der englischen Wählerstruktur. Die institutionellen Rahmenbedingungen der „politischen Verfassung“ Österreichs sind aber noch nicht auf ein parlamentarisches System wechselnder Alleinregierungen vorbereitet, solange die Nationalratsmehrheit einer Partei den Ausnahmefall darstellt. Zur institutionellen Sicherung der Mehrheitsbildung und der Chance des Machtwechsels sollten die beiden ehemaligen Partner der Koalition durch gemeinsames Vorgehen (wie beim ÖIG-Gesetz) eine Änderung des Art. 26 B-VG nachholen, zu der Norbert Leser sie bereits 1965 aufgefordert hat: die Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts. Eine Wahlrechtsänderung, durch die Mehrheitsbildung und Chance des Machtwechsels gesichert werden, ist langfristig für die österreichische Demokratie „die einzige Alternative“ (Pelinka) zum „Regieren durch Nichtregieren“ (Gorbach), wie es die letzten Jahre sowohl der österreichischen „großen“ Koalition als auch der deutschen „kleinen“ Koalition charakterisierte.

Einzelprobleme

Neben dieser zentralen Verfassungsfrage bestehen einige andere Probleme des österreichischen Parteiensystem:

1. die Demokratisierung des innerparteilichen Selektionssystems durch eine Ergänzung der NWO, die festlegen müßte, daß die endgültige Reihung der Kandidatenlisten von Delegierten der Parteimitglieder im Wahlkreis vorzunehmen ist;

2. eine wirksame Begrenzung der Wahlkampfkosten und die Sicherung der Partedfinanzierung (Ereignisse wie der „Fall Prinke“ schaden dem Ansehen aller demokratischen Parteien und der Demokratie);

3. die Regelung parteiinterner Probleme, die bei der ÖVP mit der bündischen Struktur und bei der

SPÖ mit der gegenwärtigen Parteiführung verbunden sind.

Die österreichischen Wähler sollten die Probleme ihres Parteiensystems kennen, latentes Mißtrauen gegenüber dem „Parteienstaat“ jedoch abbauen. Die Politiker der beiden großen Parteien müßten den für eine Wahlreform erforderlichen Mut aufbringen und so dem Wähler die Entscheidung anvertrauen, wer von ihnen regieren soll. Wähler und Parteien sollten einander eine Chance demokratischer Bewährung schaffen, denn die Chance der Parteien ist die Chance der österreichischen Demokratie. Videant consules!

Parteien und Parteiensystem sind wesentliche Bestimmungsfaktoren für eine Demokratie. Untersuchungen des österreichischen Parteiwesens gibt es nicht gerade im Ubermafj. Um eine Diskussion über die österreichischen Partelen und damit das Verständnis für unsere Demokratie zu fördern, stellte die FURCHE mehreren Publizisten folgende Fragen:

Werden die österreichischen Parteien den Erfordernissen

• einer modernen Demokratie im allgemeinen sowie

• der spezifischen, mlf Hypotheken belasteten Situation der Demokratie In Österreich nach dem Auseinanderbrechen der Koalition gerecht!

Auf diese Fragen der FURCHE antworteten bisher der Pressereferent der ÖPV-Bundesparteileltung, Chefredakteur Karl Pisa (Parteien auf der Schulbank“, Nr. 52/53/1966), der sozialistische Publizist Dr. Norbert Leser („Partelen vor der Zukunft“, Nr. 1/2/1967) und der Bundespressereferent der FPÖ, Doktor Bruno Müller („Demokratie Im Parlament“, Nr. 3/1967). Der Autor des abschließenden Beitrages, Dipl.-Kfm. Karl-Heinz N a fern a c h e r, Ist Assistent am Institut für Polltische Wissenschaft der Universität Köln. Er hat sich bereits seit längerer Zeit intensiv mit dem österreichischen Regierungssysfem beschäftigt.

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