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Zwischen Alternativen und täglicher Taktik

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Die Opposition ist für die Demokratie ein wesentlicher Bestandteil des politischen Prozesses — sie ist c'te altera pars von Regierung und Macht. Majorität ist schon begrifflich ohne Minorität nicht möglich, wie Hans Kelsen sagt1. Und eine Regierung, die nur von einer Partei gebildet wird, findet ihr Maß in den oppositionellen Kräften, die im Parlament und in der Gesellschaft bestehen*.

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Die Opposition ist für die Demokratie ein wesentlicher Bestandteil des politischen Prozesses — sie ist c'te altera pars von Regierung und Macht. Majorität ist schon begrifflich ohne Minorität nicht möglich, wie Hans Kelsen sagt1. Und eine Regierung, die nur von einer Partei gebildet wird, findet ihr Maß in den oppositionellen Kräften, die im Parlament und in der Gesellschaft bestehen*.

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Zwei Konzepte der Opposition stehen uns gegenüber, wenn wir nun die SPÖ in der Zeit von 1966 bis 1970 und die ÖVP zwischen 1970 und heute miteinander vergleichen. Die Grunddisposition der Opposition war und ist jeweils unterschiedlich — wenngleich die Äußerungsformen in gewissem Sinne Ähnlichkeiten aufweisen. Was uns aber hier interessiert, ist der Vergleich der Methoden und des Stils — ein Unternehmen, das bisher nicht gründlich von der österreichischen Publizistik bewältigt wurde.

In der historischen Dimension unterscheiden sich beide politischen Lager Österreichs in Bezug auf ihr Oppositionsverständnis funktionell und strategisch. Die Christlich-Soziale Partei ist 1889 begründet worden; 1896 wird ihr Parteiführer Lueger bereits Vizebürgermeister von Wien. Damit waren die „Zeiten der Agitation“3 beendet, und, wie Kurt Skalnik schreibt, die Klammer des gemeinsamen Kampfes gegen die Liberalen weggefallen, wodurch über kurz oder lang eine aus heterogenen Elementen zusammengesetzte Partei in die Krise kommen mußte4.

Sieht man von der kurzen Periode unmittelbar nach 1918 (und der Zeit von 1938 bis 1945) ab, waren die Christlich-Sozialen und nach ihnen die ÖVP stets mit Regierungsverantwortung belastet.

Anders die Sozialdemokraten in Österreich. Von ihrem Hainfelder Parteitag an standen sie fast 30 Jahre nicht nur in Opposition zur jeweiligen Regierung, sondern zum politischen, sozialen und wirtschaftlichen System der Monarchie überhaupt. Diese Schule schmiedete die Revolutionäre des Jahres 1918; und so fiel es einem Redner des Parteitages am 7. November 1920 nicht schwer, festzustellen: „Die natürliche Stellung unserer Partei in einem bürgerlichen Staat ist die Opposition“ 5 — womit der Prozeß einer sich stets eskalierenden Opposition gegen den Staat als solchen für weitere 25 Jahre anbrach — weil, wie Jacques Hannak meint, es „das innere Gesetz jeder Opposition ist, das sie unentrinnbar zur Verschärfung ihrer selbst führen muß“ 6.

Konzept 1966 — Verwirklichung bis 1970

Nach 1945 begegnen wir in der großen Koalition einer neuen Form von Opposition. Angesichts des praktischen Nichtvorhandenseins wirksamer parlamentarischer Opposition und angesichts eines noch nicht funktionierenden öffentlichen Räsonne-ments durch partei- oder besatzungsunabhängige Medien der öffentlichen

Meinung entwickelte sich ein System, das Otto Kirchheimer als „Bereichsopposition“ 7 bezeichnete und das in einer Art gegenseitiger Kontrolle und Kritik der Ressortbereiche der Koalitionspartner bestand.

Die SPÖ war in der Handhabung dieser „Opposition in der Koalition“ schon deshalb glücklicher, weil sie von 1945 bis 1966 stets der schwächere Partner war und in der Person des Bundeskanzlers der ÖVP eine Zentralfigur für populäre allgemeine Kritik vorfand.

Der Weg in die Opposition wurde daher 1966 in der SPÖ vorerst von Wählern und Funktionären nicht als Schock oder Trotzhaltung empfunden, wie zum Teil in der Volkspartei vier Jahre später.

Vielmehr entwickelte die SPÖ schon im Herbst 1966 ein Konzept, das sie konsequent verwirklichte. Heute kann — rückblickend — diese Strategie der SPÖ in der Oktobernummer 1966 der „Zukunft“ nachgelesen werden — aus der Feder von Christian Broda8.

Broda stellte damals fest:

1. Es wird eine Eskalation der Opposition geben, je näher der nächste Wahltermin rückt.

2. Die SPÖ wird darauf achten, nicht in jeder Sitzung des Nationalrates einfach überstimmt zu werden. £ 3. Es wäre illusionär, der- Regierung einen Oppositionsapparat; gegenüberzustellen; das sei auch „gar nicht wünschenswert“.

4. Die Opposition darf nicht der Versuchung nachgeben, mitzuregie-ren: „Die Opposition ist keine zweite Regierungspartei.“

5. Die Opposition muß „kritisieren“, nicht „formulieren“.

Also muß sie nicht zu allen Einzelfragen Stellung nehmen: „Die beste Opposition ist nicht jene, die die besseren Formulierungen für einzelne Paragraphen von Gesetzen produziert, sondern die in den großen Linien die bessere Politik anzugeben vermag.“

6. Kontrolle ist umfassender als

Alternative. Die Opposition wird auch dort kontrollieren, wo sie überhaupt keine Alternative erstellt. Alternativen sollten aber stets „über den Tag hinausweisen“.

7. Die SPÖ setzt sich für ihre Opposition drei Schwerpunkte: Wirtschaftswachstum, Demokratisierung der Demokratie, ein Sozialprogramm für die speziellen Probleme der Konsumgesellschaft.

8. Die SPÖ sucht sich dafür Zielgruppen. Als solche bieten sich die Familien (vor allem mit einem Alleinverdiener), bestimmte Angestelltengruppen, die kleinen selbständig Erwerbstätigen und Gewerbetreibenden sowie schließlich die Jugend an — Gruppen also, die wirtschaftlich oder politisch 1966 mehrheitlich im Lager der ÖVP zu finden waren.

Vergleicht man dieses Konzept von Christian Broda aus dem Jahre 1986 mit der tatsächlich gehandhabten Opposition der SPÖ bis 1970, ergibt sich eine praktisch konsequent durchgeführte Abdeckung.

SPÖ: Mit einem Spitzenmann Programme

Abgesehen von dieser konsequenten Verfolgung des Strategiekonzeptes verwirklichte die SPÖ einige zentrale modelltheoretische Ansprüche, die vor allem in der Vergleichung mit der ÖVP-Opposition nach 1970 von Bedeutung sind.

• Die SPÖ ging bei der Forcierung einer Politik für die von ihr angepeilten Zielgruppen konsequent vor: in den 1426 Debattenbeiträgen von SPÖ-Parlamentariern in der XI. Gesetzgebungsperiode kehren immer wieder Forderungen für die Zielgruppen wieder.

• Das Parlament war für die SPÖ der zentrale und entscheidende Kampfboden ihrer Opposition. Sie steilte 32 dringliche Anfragen und erzwang mit ihnen immer wieder erwünschte parlamentarische Diskussionen; sie stimmte aber trotz einer manchmal als unerbittlich bezeichneten verbalradikalen Aggression immerhin 78,3 Prozent aller Gesetzanträge im Plenum zu — nur in 8 Prozent war sie bei Abstimmungen allein. Vom Zeitpunkt der Wahl zum Obmann der SPÖ war Bruno Kreisky auch Obmann des Klubs — wenngleich ihm Bruno Pittermann als Geschäftsführender Obmann zur Seite gestellt wurde.

• Die SPÖ konzentrierte sich auf einige Regierungsmitglieder hinsichtlich Kritik und Kontrolle außergewöhnlich: nämlich auf den ÖVP-Bundeskanzler, den Verteidigungsminister und den Staatssekretär für Information.

• Die SPÖ brachte nur 47 parlamentarische Initiativanträge allein ein; Regierung und Regierungspartei zusammen 677. Allerdings erarbeitete die SPÖ langfristige Alternativprogramme, die in der Öffentlichkeit große Beachtung fanden (Wirtschafts-, Human-, Justizprogramm usw.). Fachleute und Experten vermittelten den Eindruck eines „ungeheuren intellektuellen Aufwands“ an verfügbaren Spezialisten innerhalb der SPÖ9.

• Die SPÖ verzichtete hingegen auf die Aufstellung eines Schattenkabinetts und rückte ihren Obmann

Kreisky in den Vordergrund. Damit wurde nicht zuletzt der Eindruck von Einigkeit vermittelt und das Merito-rische der Programme in den Vordergrund gerückt.

ÖVP: Mit 15 Schaltenmin istern Initiativanträge

Die Volkspartei hat nach ihrem Weg in die Opposition angesichts ihrer bis zum Sommer 1971 ungeklärten Personalverhältnisse, ihrer immer wieder selbst ausgesprochenen Entschuldigung betreffend ihre Unerfahrenheit in der Opposition, eine längere Anlaufzeit benötigt, weshalb ihre Oppositionskonzeption anfangs nicht erkennbar war. Nunmehr kristallisieren sich — im Vergleich zur Oppositionsstrategie der SPÖ — aber doch einige wesentliche Unterschiede heraus:

• Die Volkspartei konzentriert sich bis jetzt nicht erkennbar und programmatisch auf bestimmte Zielgruppen. Es besteht ein latenter Widerstreit hinsichtlich der primären Orientierung zu Arbeitnehmergruppen innerhalb der Partei. Der neue ÖVP-Programmentwurf läßt keine eindeutige Zielrichtung erkennen, sucht vielmehr „Partnerschaft“ zu allen und mit allen gesellschaftlichen Gruppen herzustellen.

• Durch die personelle Trennung zwischen Parteiführung und Leitung des Parlamentsklubs stellt das Parlament nicht den primären Boden für die Oppositionsprofllierung dar. Die Volkspartei handhabt das Instrument der dringlichen Anfrage wesentlich sparsamer als die SPÖ; die Volkspartei stürzte sich dafür erheblich stärker auf bereits ausformulierte Initiativanträge. Allein im Zeitraum der Minderheitsregierung (14 Monate) waren es 30 (SPÖ in vier Jahren 47).

• Die ÖVP konzentriert sich heute in ihrer Kritik vor allem auf den Bundeskanzler, hat aber darüber hinaus keine Zielperson für außergewöhnliche Kritik innerhalb der Bundesregierung. Der (vergebliche) Mißtrauensantrag gegen den Verteidigungsminister (noch vor dem Oktober 1971) führte zu keinen weiteren Aktionen gegen Karl Lütgendorf.

• Die Volkspartei hat bisher keine den SPÖ-Programmen vor 1970 vergleichbaren Langzeit- und Alternativprogramme vorgelegt. Angesichts der derzeit laufenden Programmdiskussion soll offensichtlich das Gesamtprogramm ausreichende Grundlage konkreter politischer Aktion sein.

• Zum Unterschied zur SPÖ existiert in der ÖVP eine Art Schattenkabinett, das im wesentlichen die jeweiligen Ressortkompetenzen abdeckt. Die 15 Schattenminister stehen Ausschüssen vor, in denen bündische Vertreter überwiegen, weshalb von keinen Expertengremien gesprochen werden kann, wie sie die SPÖ für ihre Programmerstellungen mobilisierte. Die Schattenminister sind nicht zugleich auch die Hauptsprecher der Volkspartei im Parlament, weil einige Spitzenpolitiker (Generalsekretär, bündische Obmänner, Landesobmänner) nicht zugleich Ausschußvorsitzende sind.

Fassen wir zusammen: Die Opposition der Volkspartei nach 1970 weicht hinsichtlich wesentlicher strategischer Elemente von der Opposition der SPÖ vor 1970 ab. Wenngleich noch kein endgültiges Urteil über die Wirksamkeit beider Modelle ausgesagt werden kann, dürfte die Volkspartei schlecht beraten sein, wenn sie die strategische Konzeption der SPÖ nicht eingehend (auch theoretisch) studiert.

Karl Pisa fordert, daß die ÖVP zur besseren „Problemlösungspartei“10 werden muß und selbst ein langfristiges strategisches Konzept zur Profilierung bei verlorenen Wählern erarbeiten sollte. Dieser Überlegung steht bislang aber offensichtlich noch ein unausgegorenes gesamtgesellschaftspolitisches Vorstellungsbild gegenüber — das zwar bisher innerparteilich erarbeitet, aber weder außer Streit gestellt noch öffentlich bewußt gemacht werden konnte. Die Bündeorganisation ist und bleibt hier das Bleigewicht: offenbar ist es nicht möglich, sowohl langfristige Alternativaspekte zu formulieren (die dem Bürger auch verständlich sind) zugleich eine kurzfristige Oppositionstaktik konsequent durchzuhalten.

Das — und nicht sosehr eine personelle Frage — scheint nämlich der harte Kern der ÖVP-Situation von heute zu sein.

1 Hans Kelsen, Demokratie und Sozialismus,

Wien 1967, S. 34 ff. ' Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre,

II, Berlin 1970, S. 707 ' „Qrazer Tagblatt“, 28. 4. 1896 Kurt Skalnik Dr. Karl Lueger, Wien 1954, S. 108

* Enthalten in Jaques Hannak, Im Sturm eines Jahrhunderts, Wien 1952, S. 286

6 Jacques Hannak. a. a. O., S. 288 ' Otto Kirchheimer, Vom Wandel der politischen Opposition, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, XLIII/1957 Zukunft, 19/1966

• Rudolf Neck, In Die Zweite Republik, I, Wien 1972, S. 291

10 Karl Pisa, Politik als realutopischer Ideenwettbewerb, in Die Zukunft der Volkspartei, Wien 1971, S. 97

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