6787816-1970_21_03.jpg
Digital In Arbeit

Der Reiter und der Bodensee

19451960198020002020

Vor dem 1. März, dem Tag der Nationalratswahlen, gab es vier Varianten einer Begierungsbildung nach den Wahlen: eine monochrome Regierung der ÖVP oder SPÖ auf Grund der absoluten Mandatsmehrheit einer dieser Parteien, eine große Koalition und eine kleine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ. Eine andere Kombinationsmöglichkeit sah keiner. Die Chance der kleinen Koalition ÖVP-FPÖ wäre praktisch nur dann gegeben gewesen, wenn die ÖVP die relative Mehrheit errungen und die FPÖ mindestens zwei zusätzliche Mandate gewonnen hätten. In jedem anderen Fall besäße eine Koalition ÖVP-FPÖ eine zu schmale Basis. Sie hätte nicht nur mit der erbittertsten Opposition der SPÖ im Parlament zu rechnen, sondern auch mit einer starken außerparlamentarischen Opposition. Deshalb hatten bisher alle Bundespräsidenten Kombinationen in dieser Bichtung abgelehnt. Im Jahre 1953 beispielsweise Bundespräsident Körner. Damals lautete die Verteilung: 76 ÖVP-, 75 SPÖ- und 14 VDU (Verband der TJnabhängigen)-Man-date. Als Baab, um sich den Bücken gegenüber der SPÖ zu stärken, den VDU zu Verhandlungen einlud und eine Dreier-Koalition ÖVP-SPÖ-VDU in Erwägung zog, erklärte der Bundespräsident, der VDU müßte erst beweisen, daß er eine österreichische und demokratische Partei sei.

19451960198020002020

Vor dem 1. März, dem Tag der Nationalratswahlen, gab es vier Varianten einer Begierungsbildung nach den Wahlen: eine monochrome Regierung der ÖVP oder SPÖ auf Grund der absoluten Mandatsmehrheit einer dieser Parteien, eine große Koalition und eine kleine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ. Eine andere Kombinationsmöglichkeit sah keiner. Die Chance der kleinen Koalition ÖVP-FPÖ wäre praktisch nur dann gegeben gewesen, wenn die ÖVP die relative Mehrheit errungen und die FPÖ mindestens zwei zusätzliche Mandate gewonnen hätten. In jedem anderen Fall besäße eine Koalition ÖVP-FPÖ eine zu schmale Basis. Sie hätte nicht nur mit der erbittertsten Opposition der SPÖ im Parlament zu rechnen, sondern auch mit einer starken außerparlamentarischen Opposition. Deshalb hatten bisher alle Bundespräsidenten Kombinationen in dieser Bichtung abgelehnt. Im Jahre 1953 beispielsweise Bundespräsident Körner. Damals lautete die Verteilung: 76 ÖVP-, 75 SPÖ- und 14 VDU (Verband der TJnabhängigen)-Man-date. Als Baab, um sich den Bücken gegenüber der SPÖ zu stärken, den VDU zu Verhandlungen einlud und eine Dreier-Koalition ÖVP-SPÖ-VDU in Erwägung zog, erklärte der Bundespräsident, der VDU müßte erst beweisen, daß er eine österreichische und demokratische Partei sei.

Werbung
Werbung
Werbung

Ob es Raab wirklich ernst mit seinem Vorschlag war, bleibe dahingestellt. Ihm diente der VDU in erster Linie als Rückenstärkung gegenüber der SPÖ. Bundespräsident Körner anderseits wollte nicht, daß die SPÖ, die zwar mit einem Mandat weniger, aber mit mehr Stimmen als die ÖVP aus den Wahlen hervorgegangen war, auf Kosten des von Raab ins Spiel gebrachten VDU politisch geschwächt werde. Außerdem standen damals noch die Besatzungsmächte im Land, und eine innenpolitische Unruhe hätte unter Umständen nicht absehbare außenpolitische Komplikationen hervorrufen können. Der Bundespräsident sah deshalb die große Koalition als die einzige Möglichkeit einer erfolgreichen österreichischen Innen- und Außenpolitik.

Die Lage änderte sich nach dem Staatsvertrag; nicht plötzlich, aber allmählich. Dafür gab es mehrere Gründe, auch solche personeller Art, doch entscheidend war die öffentliche Meinung, die der großen Koalition und des damit verbundenen Proporzes müde geworden zu sein schien. Das wirkte sich wiederum lähmend auf die Arbeitsweise der Koalitionsregierung selbst aus. Es wollte nicht mehr richtig vorwärtsgehen. Spätestens 1959 begann die große Koalition in eine Krise zu geraten. Audi damals war das Wahlergebnis ähnlich wie 1953. Die ÖVP hatte wieder ein Mandat mehr errungen als die SPÖ, doch diese konnte mehr Wäh-lerstimmen aufweisen. Wie 1953 Bundeskanzler Figl auf der Strecke blieb, so diesesmal Bundeskanzler Raab, wenn auch zunächst als Parteiobmann und erst im Frühjahr 1961 auch als Bundeskanzler. Die Wahlen im Jahre 1962 brachten der ÖVP einen klaren Erfolg (81:76:8 Mandate). Sie brachten jedoch keine Änderung im innenpolitischen Leben. Die ÖVP forderte als Folge des Wahlergebnisses von 1962 das Außenministerium, das sie an die SPÖ 1959 abtreten mußte, zurück, was diese aber ablehnte. Bundespräsident Dr. Schärf ließ monatelang verhandeln. Er wünschte weder eine ÖVP-Minderbeitsregierung, noch eine kleine Koalition ÖVP-FPÖ, die mandatsmäßig genügend stark im Parlament vertreten gewesen wäre. Als Bundeskanzler Gorbach das endlich zustandegekommene Verhandlungsergebnis, das kein zusätzliches Ministerium für die ÖVP enthielt, seinem Parteivorstand vorlegte, machten ihm die sogenannten Reformer seiner Partei den Vorwurf, die ÖVP habe zwar die Wahlen gewonnen, aber die Verhandlungen verloren.

Die Arbeitsweise der großen Koalition wurde nicht besser, und wie 1961 Raab, so wurde 1964 Gorbach das Opfer der fruchtlosen Arbeitsweise der großen Koalition. Doktor Klaus, der Gorbach als Bundeskanzler folgte, gelang es, dem größeren Teil der Bevölkerung die Meinung zu suggerieren, daß die SPÖ am schlechten Klima der Koalition schuld sei, was der ÖVP im Frühjahr 1966 die absolute Mandatsmehrheit bei den Nationalratswahlen einbrachte.

An der Verschlechterung des Koalitionsklimas hatten beide Parteien so ziemlich den. gleichen Anteil, vor allem aber lag es an der zwanzigjährigen Dauer der großen Koalition. Die öffentliche Meinung setzte sich durch, daß durch den jahrzehntelangen Koalitionspakt die demokratische Entwicklung Österreichs in ein Prokrustes-Bett gezwängt worden sei. Um aus diesem herauszukommen, begann schon 1963 die SPÖ mit den Freiheitlichen über die Möglichkeit einer kleinen Koalition zu verhandeln. Diese Verhandlungen allerdings verstärkten die internen Auseinandersetzungen der Sozialisten und führten schließlich zum Sturz Franz Olahs und zu dessen Ausschluß aus der Partei. Ohne diesen historischen Hintergrund ist die gegenwärtige Politik Kreiskys nicht zu verstehen. Sie zeigt ihn als Politiker von großem Format, wie immer man sich zu seinen Aktionen stellen mag. Die Niederlage der SPÖ im Jahre 1966 und der damit verbundene Wechsel aus der Regierung in die Opposition förderte nicht nur die parteiinterne und personelle, sondern auch die geistige Auseinandersetzung. Sie rückten auch gewisse Erscheinungen der Überheblichkeit, von der keine Partei, die im Genuß der Macht ist, verschont bleibt, stärker ins Bewußtsein der Parteiführung. Vorgänge wie Fussach und der Überfall auf die „Kronen-Zeitung“ werden sich kaum mehr wiederholen.

Es war ein Glück für die SPÖ, daß sie in Dr. Kreisky zur richtigen Stunde den richtigen Parteiobmann fand. Ihm gelang es, der Partei nach außen hin ein moderneres Gepräge zu geben. Die SPÖ hatte zwar schon im Salzburger Programm die Wende zu einer Volkspartei hin vorgenommen, doch in das Bewußtsein der Bevölkerung ist diese Wende erst durch die Tätigkeit Kreiskys gedrungen. Damit war gleichzeitig ein zweites Phänomen eng verbunden: Kreisky stellte nicht nur programmatisch eine Alternative zur ÖVP-Politik, sondern auch personell: Auf der einen Seite Dr. Klaus, der sich immer mehr von seinem Brain-Trust in die Rolle eines Kreuzritters drängen ließ, auf der anderen Seite der liberale Weltmann Kreisky, der dem Sozialismus das klassenkämpferische Element nahm und eine wirtschaftlich fortschrittliche und sozialhumane Note verlieh. Da Kreisky in der Opposition von der schwächeren Stelle aus kämpfen mußte, ist sein persönlicher Sieg nicht hoch genug einzuschätzen. Dem „alles oder nichts“ von Klaus stellte er die vielen Möglichkeiten entgegen. Er zog vor den Wählern den Hut und erklärte: Ihr habt zu entscheiden, während Klaus predigte: Ihr müßt entscheiden. Der Wähler aber muß grundsätzlich gar nichts. Er entschied sich für den liberalen Kreisky, wobei die persönliche Liberalität des derzeitigen Bundeskanzlers außer Zweifel steht, die Liberalität Kreiskys als Obmann der SPÖ aber erst ihre Erprobung zu bestehen hat. Die Liberalität auf der Höhe der Macht ist schwieriger zu beweisen als in der Opposition.

Hat nun Kreisky ein innenpolitisches Konzept, das auf lange Sicht berechnet ist? Seine Vorgangsweise bei den Koalitionsverhandlungen, deren unerwartetes Ergebnis die Minderheitsregierung brachte, läßt es vermuten. Unter allen Möglichkeiten einer Regierungsbildung wählte Kreisky die, die vor den Wahlen am 1. März keiner, auch er selbst nicht, in Erwägung gezogen hatte. Sie bot sich ihm an, wobei er den Vorteil der Unterstützung des Bundespräsidenten besaß, auf die Raab und Gorbach nicht rechnen konnten.

Kreisky ist sich klar darüber, daß sein Minderheitskabinett kein weitgestecktes Regierungsprogramm durchführen, ja daß es überhaupt nur existieren kann, wenn er Voraussetzungen für Koalitionen der Zukunft schafft. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Partei das nächste Mal wieder eine absolute Mehrheit erringt, ist nur bei einer grundsätzlichen Wahlreform gegeben, die aber unter Umständen die FPÖ mandatslos ausgehen ließe. Daran ist augenblicklich keine der beiden Großparteien interessiert. Ja, Kreiskys Sorge vor der Wiedergewinnung einer absoluten Mehrheit durch die ÖVP dürfte größer sein als die Hoffnung, daß die eigene Partei diese absolute Mehrheit erringt.

Welches Konzept bietet sich nun Kreisky in diesem Fall an? Die Verhinderung der absoluten Mehrheit der ÖVP ist vom Standpunkt der Sozialisten am besten durch die Aufwertung der Freiheitlichen gesichert. Diese Aufwertung müßte auf zweifache Weise erfolgen: Mit Hilfe einer Wahlrechtsreform, die ohne die Zweidrittelmehrheit durchzusetzen ist und einen gerechteren Schlüssel für die Mandatserrechnung festlegt. Heute kostet ein FPÖ-Mandat beinahe doppelt soviel wie ein ÖVP-Mandat. Die Lösung dieser Frage ist Aufgabe der Verfassungsjuristen. Ob überhaupt eine Möglichkeit diesbezüglich besteht, bleibt abzuwarten. Die zweite Form der Aufwertung liegt auf politischem Gebiet. Die FPÖ muß ein liberales Gesicht erhalten, muß in den Augen des In-und Auslandes als eine österreichische demokratische Partei dastehen. Kreisky dürfte der einzige Politiker in Österreich sein, der in der Lage ist, die äußeren Bedingungen dazu für die FPÖ zu schaffen. Er konnte einen ehemaligen SS-Mann in die Regierung berufen, ohne daß, von einigen Zeitungen abgesehen, jemand daran Anstoß nahm. Damit vermochte Kreisky endgültig den Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Wer kein Verbrechen begangen hat und sich zu Österreich bekennt, ist ein Patriot. Damit sind auch die letzten politischen Privilegien im Lande abgeschafft, auch das Privileg, daß einer ein besserer Patriot ist als der andere, weil er vor 1938 den Anschluß abgelehnt hat. Diese Haltung Kreiskys zeigt nicht nur Klugheit, sondern auch eine menschliche Größe. Sie wurde übrigens auch von den führenden ÖVP-Politikern vertreten, allerdings gerieten sie dadurch oftmals in die Schußlinie eines Teils der eigenen Partei und der SPÖ. Kreisky hat nun diesen Strich gezogen, und er wird in Zukunft für alle gelten. Ähnliches könnte dem Bundeskanzler auch mit der FPÖ gelingen, falls diese über den eigenen Schatten zu springen vermag, wobei es zweifellos nicht an der Führung liegt, sondern am Klotz der unbewältigten Vergangenheit, den die öffentliche Meinung dieser Partei angehängt hat, wodurch die beiden anderen Parlamentsparteien als die reinen demokratischen Engel dastehen, die sie nicht sind. Gelänge es Kreisky, der FPÖ ein liberaleres Air zu verschaffen, das er nicht nur dem Ausland, sonder vor allem dem linken Flügel seiner eigenen Partei gegenüber benötigt, und durch die Änderung des Wahlrechtsgesetzes selbst bei gleichem Wahlausgang die Mandatszahl der FPÖ zu vergrößern, dann wären die Chancen der ÖVP, nochmals die absolute Mehrheit zu erringen, wesentlich vermindert, und es stünde der Bildung einer SPÖ-FPÖ-Koali-tion nichts im Wege. Allerdings auch nichts einer ÖVP-FPÖ-Koalition; doch dieses Risiko muß ein Politiker eingehen.

Das ist kein teuflisches Spiel Doktor Kreiskys, sondern ein einwandfrei demokratisches Spiel. Er schafft dadurch neue Alternativen, die nicht einmal ausschließlich der SPÖ zugute kommen müssen, und lockert die innenpolitische Lage auf. Zum ersten Mal stellt in Österreich ein Politiker nach langer Zeit wieder Weichen, was im Grunde der Demokratisierung, vor allem aber der Gleichberechtigung aller Staatsbürger und Wähler dient. Außerdem kann Kreisky auf skandinavische Vorbilder zurückgreifen. Es ist allerdings — und auch darüber gibt es keinen Zweifel — ein kühnes Spiel. Im Gegensatz zum Helden der Ballade von Gustav Schwab „Der Reiter und der Bodensee“ weiß Kreisky von der Gefahr, die auf ihn lauert, kennt er die geringe Dichte der Eisdecke, über die er reitet. In der Politik tauchen immer wieder die Impoderabilien auf, die niemand vorausberechnen kann, die aber sehr wohl Vorausberechnungen umzustoßen vermögen. Doch mit solchen Gegebenheiten muß jeder Politiker rechnen. Außerdem ist es nicht die einzige Karte, die Kreisky ins Spiel bringt. Dazu wäre sie wahrscheinlich auch zu schwach. Bis zum Augenblick aber spielt Kreisky gut. Allein schon die Tatsache, daß es ihm gelang, eine Minderheitsregierung, die normalerweise eine Notlösung darstellt, in den Augen der Öffentlichkeit als eine ebenso tragbare Regierung erscheinen zu lassen wie eine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit, ist eine politische Meisterleistung. Die ÖVP wird sich jedenfalls einen anderen politischen Stil zurechtlegen müssen, um von Kreiskys Politik nicht überrollt zu werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung