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Krise ohne Ende

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WELCH EINE PARTEI, ist man versucht auszurufen, wenn man die Vorkommnisse innerhalb der Sozialistischen Partei Österreichs während der letzten beiden Wochen überdenkt. Glauben die maßgeblichen Politiker dieser Partei wirklich, daß sie es sich — wie etwa in den Anfängen der Arbeiterbewegung, als diese nur aus kleinen, durch gemeinsame Verfolgung eng zusammengeschweißten Freundesgruppen bestand — leisten können, einen der Ihren zu disziplinieren, ohne mit ihm zu brechen? Glaubt eine sozialistische Partei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ernstlich, einen ihrer Spitzenpolitiker rügen und des Ministeramtes entheben zu können, ohne daß dies einen Stachel zurückläßt, der den Betroffenen als weiterverbleibenden Abgeordneten, stellvertretenden Landesparteivorsitzenden und so weiter mehr oder minder schnell für beide Seiten peinlich macht? Mag sein, daß sich zunächst beide Seiten ehrlich bemühen, Peinlichkeiten — und das heißt mit anderen Worten: neue innerparteiliche Auseinandersetzungen — zu vermeiden. Es könnte sogar sein, daß dies, obwohl es wirklich nicht wahrscheinlich ist, für einige Zeit gelingt. Aber die Krise in der SPÖ, Vor allem die in ihrer Führung, bleibt dennoch weiter bestehen. Daß sich die Bundesfraktion der SPÖ im Gewerkschaftsbund angesichts dieser Halbheiten berufen fühlt, das zu Ende zu führen, was in der Partei offensichtlich auf halbem Weg steckenblieb, macht die Angelegenheit auch für die Öffentlichkeit keinesfalls akzeptabler. Vielmehr ist der gegen Olah erhobene Vorwurf „statutenwidriger eigenmächtiger finanzieller Handlungen“ geeignet, die Auseinandersetzung in derart schmutzige Bahnen zu lenken, daß vom herumspritzenden Unrat noch sehr viele ge- und betroffen werden könnten. Viktor Adler hat einmal vcn der Partei und den Gewerkschaften als „Zwillingen“ gesprochen. Zwillinge pflegen aber auch für die gleichen Keime anfällig zu sein; so ist es nicht ausgeschlossen, daß sich die Krise von der Partei nunmehr auch auf die Gewerkschaftsfraktion der SPÖ überträgt.

WEI,CH EINE KOALITION, ist man geneigt zu sagen, wenn man die gegenwärtige Situation nüchtern überlegt. Eine von inneren Krisen bedrohte SPÖ kann kurzfristig kaum ein anderes Ziel haben, als durch besondere Aggressivität und durch hervorstechende Unnachgiebigkeit zu beweisen suchen, daß sie trotz der Ereignisse der letzten Zeit nicht schwächer geworden ist. Freilich kann sie es in ihrer gegenwärtigen Situation nicht auf ein Koalitionszerwürfnis mit anschließenden Neuwahlen ankommen lassen. Auf dem Weg des Stimmzettels ist die Sozialistische Partei Österreichs im Falle einer Nationalratswahl heute wahrscheinlich weiter von der Mehrheit entfernt als jemals in der Geschichte der Zweiten Republik. Im Augenblick führt der Weg zur Macht nur über das Experiment einer kleinen Koalition, und dieser Weg scheint für den Augenblick nicht gangbar. Daher dürfte die große Koalition wiederum für einige Zeit gesichert sein, aber eine Koalition mit permanenten Auseinandersetzungen und nicht mit erfolgreicher Zusammenarbeit.

In diesem Sinn ist wohl auch das letzte Ergebnis des Verhandlungskomitees der beiden Regierungsparteien zu interpretieren, das mit den Worten beginnt: „Das Arbeitsübereinkommen vom 29. März 1963 gilt uneingeschränkt bis zum Ende der Legislaturperiode.“ Dieses Arbeitsübereinkommen enthält bekanntlich auch in seinem Punkt 4 die wichtigen Bestimmungen über „die freie Mehrheitsbildung (selbständiges Vorgehen in zuständigen Ausschüssen und im Plenum des Nationalrates).“ Im zuständigen Unterausschuß des Nationalrates beginnen nun bekanntlich noch diese Woche die Verhandlungen über die Wahlrechtsreform; mehr denn je dürfte die SPÖ eine Änderung der geltenden Nationalratswahlordnung nötig haben. Ob sich die ÖVP mit der Bekräftigung des Arbeitsübereinkommens nicht in einer geschickt ausgelegten Schlinge verfangen hat, bleibt daher abzuwarten.

Eines aber ist so gut wie sicher: Die Koalition der beiden großen Parteien befindet sich praktisch seit der letzten Nationalratswahl in einem für das Land höchst unerfreulichen Krisenzustand. Und die Ereignisse der letzten Tage sind nicht geeignet, diese Krise zu beseitigen; eher dürfte sie sich noch mehr verschärfen.

WELCH EINE DEMOKRATIE, muß man mit Sorge fragen, wenn man sich der Reaktionen auf die innerparteiliche Auseinandersetzung in der SPÖ erinnert. Da zogen unangemeldete Demonstrationszüge durch die Stadt — was bekanntlich verboten ist. Da wurde der Strom abgeschaltet, der öffentliche Verkehr in Wien teilweise lahmgelegt, die Arbeit in manchen Betrieben eingestellt —, was zweifellos ein Musterbeispiel politischer Streiks war. Daß diese Streiks sich nicht gegen die Staatsautorität richteten, sondern Richtungskämpfe beziehungsweise persönliche Auseinandersetzungen innerhalb einer Partei betrafen, ist wohl nur ein schwacher Trost.

Noch bedenklicher stimmt eine Episode, die sich vor der Parteizentrale der SPÖ zugetragen haben soll. Dort kam es bekanntlich zu so heftigen Demonstrationen, daß Olah selbst herbeigerufen wurde, um die Menge zu beruhigen. In einer improvisierten Ansprache an die Demonstranten soll Olah die Arbeiter aufgefordert haben, in die Betriebe zurückzukehren und die Arbeit wieder aufzunehmen, da „die Straße kein geeigneter Diskussionsplatz ist“. Worauf der Zwischenruf erschallt sein soll: „Aber durch die Straße sind wir stark geworden.“

Sollte dies der Geist sein, von dem einige Schichten unserer arbeitenden Bevölkerung noch erfüllt sind, dann ist es um unsere Demokratie wahrhaft schlecht bestellt. Das fällt aber auch auf jene Politiker zurück, die für die Konservierung solchen Ungeistes verantwortlich sind. Haben sie nicht den Mut aufgebracht, alle Schichten unseres Volkes dahingehend zu belehren, daß die Diktatur der Straße in Österreich schon einmal die Demokratie und in weiterer Folge den ganzen Staat ausgelöscht hat, so daß auch von der „starken“ Partei nichts mehr übrigblieb?

WELCH EIN STAAT, kann man nur mit Erstaunen feststellen, wenn man überdenkt, was sich im Zusammenhang mit der Olah-Krise ereignet hat. Da gibt der Vizekanzler ein Fernsehinterview und meint allen Ernstes, die Demonstrationen und Streiks auch deshalb verurteilen zu müssen, weil durch sie Bevölkerungskreise zu Schaden gekommen sein können, die sich für die Absetzung des Innenministers gar nicht interessierten. Als ob das Innenministerium nicht eine Angelegenheit aller Staatsbürger wäre! Auf der gleichen Linie bewegte sich auch die Argumentation mancher sozialistischer Publizisten, als die ÖVP die Einberufung des Arbeitsausschusses angesichts verschiedener Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem Amtswechsel im Innenministerium verlangte. Fast scheint es, als ob man nicht einmal mehr daran erinnert werden wollte, daß es eine Verfassung gibt, nach deren i-larem Wortlaut der Bundespräsident die Mitglieder der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernennt; als wenn man — was noch schlimmer ist — die Staatsämter nur mehr als Parteidomänen betrachtet, in denen die jeweilige Partei sozusagen Alleinherrscher ist.

Nicht zu Unrecht wurde in diesem Zusammenhang auch an die merkwürdige Verfassungsinterpretation erinnert, die anläßlich der Demission des ehemaligen BundeskanzlersDr. Gorbachund der Betrauung des derzeitigen Bundeskanzlers Dr. Klaus mit der Regierungsbildung aufgestellt wurde. Treffend schrieben dazu die „Salzburger Nachrichten“: „Keine Macht der Welt hätte Franz Olah aus der Herrengasse zu Wien weggebracht, weil just die SPÖ beim Rücktritt des Kabinetts Gorbach eine die Ministerposition so fest zementierende neue ,Rechtstheorie‘ aufgebracht hatte; weshalb damals Kanzler Gorbach nicht wie bisher allgemein gültig mit seinem Rücktritt auch den Rücktritt seines ganzen Kabinetts geben konnte.“

Hier kann man nur aus Dolf Stembergers neuestem Werk „Ekel an der Freiheit“ zitieren: „Das ist ein unbehaglicher, ein alarmierender Zustand. Sonderinteressen dürfen nicht in das Innerste der Staatsorgane eindringen; ihr Widerstreit soll weder Regierung noch Parlament … sprengen oder zerreiben dürfen.“

WELCH EIN POLITIKER, möchte man im Zusammenhang mit der Absetzung Olahs als Innenminister durch seine eigene Partei ausrufen. Niemand (mit Ausnahme vielleicht einiger SPÖ-Gewerkschafter) bestreitet seine ehrlichen Absichten, seine persönliche Lauterkeit, seine Arbeitsbesessenheit und vieles mehr; dennoch schien er vielen untragbar, weil er — wie wörtlich geschrieben wurde — zwar ein Demokrat ist, „aber einer von jenen, die zwangsweise entweder an der Demokratie scheitern oder sie zu Fall bringen, wenn es ihnen möglich wird, ihre Vorstellungen von Demokratie restlos zu verwirklichen“. Ob freilich Olahs viele Feinde vieler anderer Freunde sind, das wird erst die Zukunft klären.

Über den Fall Olah wurde viel geschrieben, aber seine tieferen Hintergründe bleiben vorläufig immer noch im Dunkel. Als am 14. September abends die Parteiexekutive der SPÖ zusammentrat, war der Fall Olah wohl schon akut. Der damalige Innenminister wird dies gewußt haben — und gab trotzdem ein Interview, von demer wissen mußte, daß es einem parteipolitischen Selbstmord oder zumindest einer Selbstverstümmelung nahekam. Dieses Interview bot dann auch die willkommene Handhabe, die Parteistatuten und die zuständige Parteiapparatur zu mobilisieren.

In diesem Zusammenhang sei nochmals Dolf Stemberger zitiert, der bereits 1961 die Frage aufwarf: Haben wir Helden nötig? „Ein freier Staat indessen hat Helden offenbar wirklich nicht nötig, denn er läßt Opposition, Neuerung, geistigen Umsturz im allgemeinen zu, ohne davon erschüttert zu werden… Helden haben wir zur Zeit nicht nötig, wohl aber Freimut, ein allgemein verbreitetes Zutrauen, daß man in wohltemperierter Weise, ohne großes Geräusch und Auftrumpfen, vielmehr ganz gelassen sein Teil an Einsicht und Kritik beisteuern dürfe, könne und solle. Eine Portion Tapferkeit in feiner, möglichst weiter und breiter Verteilung: das ist es, was ein freier Staat nötig hat, um frei zu bleiben. Glücklich das Land, das sich auf diesen Stoff und Geist verlassen kann, oben und unten und in der Mitte. So werden ihm auch Helden erwachsen, wenn es einmal nötig wird. Im Unglück.“

In wenigen Wochen schreitet ein Großteil der österreichischen Bevölkerung an die Wahlurnen; nicht zu einer Nationalratswahl, aber doch zu einer Wahlentscheidung im Schatten der letzten Ereignisse. Und zu gleicher Zeit laufen die Verhandlungen über die Wahlrechtsreform in unserem Lande. Stärker als bisher müssen nun wohl die Forderungen nach Einbau von Elementen der Mehrheitswahl erhoben werden. Denn wie macht man aus zwei auf ihre Unterschiedlichkeit versessenen Parteien eine einzige Regierung?

Die Wahlrechtsreform ist eine große Chance unserer Demokratie, wenn sie nicht allein unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, die eine Partei zu stärken, die andere zu schwächen, sondern die Schwäche des Staates zu überwinden und die Demokratie zu stärken!

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