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Randhemerkungen zur woche

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DIE LANDTAGSWAHLEN IN TIROL am letzten Oktobersonntag werden — mit oder ohne Recht, sei hier nicht entschieden — als „Test' tür einen möglichen Stimmungswandel im ganzen Bundesgebiet betrachtet. Die beiden großen Parteien schicken ihre besten Redner nach Tirol; eine Art Vorwahlgciühl ist von Bregenz bis Eisenstadt feststellbar. Worum geht es eigentlich? Die Volkspartei hat vom 9. Oktober 1949 bis zum 22. Februar 1953 ihre Stimmenzahl von 127.528 aui 132.655, die Sozialistische Partei ihren Wählerstock von 53.820 au! 70.473 verbessert. Der VdU fiel von 39.377 auf 31.650. Wenn auch der sozialistische Stimmengewinn im Februar absolut und mehr noch relativ größer war als der volksparteiliche, so ist doch der Weg zu einer grundsätzlichen Aenderung der Mehrheitsverhäl'misse weil und ein solcher Umschwung so gut wie ausgeschlossen. Wozu dann die Aulregung? Sie liegt wohl darin begründet, daß bei der letzten Nationalratswahl die Sozialistische Partei um 37.000 Stimmen mehr erhielt als die Volkspartei, diese aber mit einem Mandat im Rennen den Vorsprung hat. Bei so knappen Mehrheitsverhältnissen möchte jede der beiden großen Parteien der anderen gerne beweisen, daß die | Entwicklung der letzten acht Monate sie selber gestärkt, die andere aber geschwächt hätte. Die Volkspartei verweist auf die bedeutenden außen- und wirtschaltspolitischen Erfolge dieses Sommers und auf das westdeutsche Beispiel, die Soziallsten möchten den Auischwung, den sie im Februar unstreitig nahmen, gerne fortsetzen. Dabei werden diese beiden Parteien einander kaum einen einzigen Tiroler abjagen. Die große Unbekannte ist die Richtung, nach der die heimatlosen V dU - W ä h 1 e r gehen werden. Die schwere Parteikrise, die An-

Itang August den einmal so starken Vorarlberger VdU bis in die Grundfesten erschütterte, hat bereits auf Tirol übergegriffen; vor allem hat der Tiroler VdU zusammen mit dem Vorarlberger sein kämpferisches Parteiblatt verloren. Ueber 30.000 Wähler können natürlich der einen oder der anderen Partei einen gewissen Aultrieb geben. So wird der Tiroler Wahltag wohl kaum ein Jüngstes Gericht über die beiden Regierungsparteien werden, wohl aber einen Fingerzeig datür geben, welches Haus die obdachlosen VdUler beziehen werden.

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EIN ÖSTERREICHISCHER BUNDESJUGEND-RING soll gebildet weiden. Seine Proponen-ten: Wortführer der Katholischen Jugend, des Evangelischen Jugendwerkes, der Gewerkschaftsjugend, der Sozialistischen Jugend und der Oesterreichischen Jugendbewegung. Sinn und Zweck dieser Initiative ist neben der gemeinsamen Vertretung der Rechte und Interessen der jungen Menschen unseres Landes die Forderung der Bereitschait zur Zusammenarbeit und die Selbsterziehung, Auseinandersetzungen auf demokratischer Ebene zu führen. Dazu kommt die Verpflichtung, „alle Tendenzen staatlicher und halbstaatlicher Organisierung abzuwehren und militaristischen, nationalen und totalitären Tendenzen, seien sie faschistischer oder volksdemokratischer Art, mit allen Kräften entgegenzuwirken“. Hier wird endlich von dem Recht der Jugend, mutig Neuland zu betreten, Gebrauch gemacht. Denn verhehlen wir uns es nicht: oft mußte man in den letzten Jahren die Erfahrung machen, daß in Oesterreich die jungen Menschen nur allzu willig in ausgetretene Pfade einbogen und eifrig mit dabei waren, geistige Barrikaden von gestern und vorgestern gegeneinander zu beziehen. Noch mehr (man scheut es sich beinahe auszusprechen): Vertreter der älteren Generalion dachten oft, wie man sich in vielen Gesprächen überzeugen konnte, „jünger“ als die nach dem Taufschein eigentlich jung sein sollten ... Die Gründung des „Bundesjugendringes“, die übrigens durch die gemeinsame Arbeit im Rahmen der Europäischen Jugendkampagne starke Impulse bekam — Motto: Durch Reden kommen die Leute auseinander, durch Arbeit an einem gemeinsamen Werk zusammen —, kann hier eine Wende bringen. Die Auspizien sind günstig. Es geschieht nicht allzuoft, daß junge Katholiken und junge Sozialisten ein und dasselbe Ereignis mit beinahe den gleichen Worten zustimmend kommentieren. Die Gründung des „Bundesjugendringes“ ist einer dieser Fälle. Wenn es in der Stellungnahme der Katholischen Jugend heißt: „Bei allen grundsätzlichen Unterschieden und weltanschaulichen Unterscheidungen darf nicht der Mensch bekämpft werden, sondern nur die Idee, die falsch erscheint“, so begrüßt der Führer der Sozialistischen Jugend, daß „zwischen den verschiedenen Jugendorganisationen Beziehungen hergestellt werden, die unserer Jugend in Fleisch und Blut übergehen lassen, daß Demokraten ihre Differenzen nicht durch Schädeleinschlagen austragen und daß Gewalt nur bei der Verteidigung von Freiheil und Demokratie gerechtfertigt werden kann“. Gute Worte, goldene Worte! Sie wollen in den kommenden Monaten und Jahren im politischen Alltag bestätigt werden.

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VIELE FREUNDE AMERIKAS AUCH IN OSTERREICH mußten vor kurzem mit Bedauern teststellen, daß man ihnen etwas wegnehmen will. Und dieser Gedanke kam in ihnen auf, als ihr Zeitungsmann etwas bekümmert be-

richtete: „Ihre Zeitung kommt nicht mehr.“ So wissen wir es schon: es handelt sich um „D i e Neue Zeitung“, um die nunmehrige Einstellung ihrer Frankfurier Ausgabe — der Rest in Berlin wird wohl hierzulande unerreichbar sein. Ist es nicht erstaunlich, daß die Zeitung einer Besatzungsmacht, deren Gestalter auf jeden Blicklang, jede Sensationsmache von vornherein bewußt verzichteten, sich bis heute, wo an Presseerzeugnissen weit und breit wahrlich kein Mangel herrscht, eine so treue und zähe Gemeinde behalten konnte? Die Frage läßt sich leicht beantworten, wenn man nur weiß, welche Bewandtnis es mit dieser Zeltung hatte: statt plumper Propaganda bevorzugte sie gediegene Berichterstattung aus aller Welt von ersten Federn, statt kulturimperialistischer Gelüste die Arbeit eines Mitarbeite.rsiabes bester deutscher journalistischer Tradition. Und wenn ihr, wie es also scheint, maßgeblichen Ortes etwas verübelt werden konnte, so doch dies — und mehr. Denn nirgends ko&nte man sich über das Echo, auch dem kritischen, amerikanischer Maßnahmen und Aeußerungen so gut informieren wie hier. Ein gewisser Senator aus Wisconsin wußte instinktiv, wo er, wohl aus innerem Bedürfnis, den Hebel ansetzen mußte. Der erste plumpe Angriff konnte von Hochkommissar Conant noch pariert werden. Aber der verräterische Satz, daß es „phantastisch“ sei, die eigenen Kritiker auch noch zu finanzieren, fraß sich weiter und „Die Neue Zeitung“ auf. Gelten und galten doch deren obenerwähnte Vorzüge in jenen und ähnlichen Kreisen ja stets als Bagatellen, wenn nicht als Herausforderung. „ .., oh, ich könnt' euch sagen! Doch sei es drum.' Und: „ ... the rest is silence.“

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FRANKREICH ZIEHT BILANZ nach den Ereignissen und Ergebnissen im vergangenen Monat August und — am 6. September. Der Zeitpunkt hierzu ist günstig, weil die jetzt anlaufende Herbstsaison große Anforderungen an die gegenwärtige Regierung stellen wird. Die UN-Generalversammlung wird das „Stehvermögen“ der Iranzösischen Diplomatie angesichts der neuen Lage und der internationalen Verwicklungen in und um Nordafrika auf keine geringe Probe stellen. Im politischen Ausschuß des Europarates beginnt jetzt erneut die Saar-Debatte. Nach dem großen Sieg des „Europäers“ Dr. Adenauer ruht der Blick der Freunde der europäischen Integration auf Frankreich. Und was immer Frankreich in naher Zukunft tun und lassen — unterlassen

— wird, auf innen- wie auf außenpolitischem Gebiet, diesmal wird das Eine das Andere meitr als bisher und unmittelbarer als bisher beeinflussen. Eine große Sorge und zugleich Bestätigung des Satzes: Keine gute Außenpolitik ohne gesunde Innenpolitik. Was die letztere betriflt, gelang in den letzten Tagen und Wochen Vielversprechendes. Man fragt sich aber in Frankreich, ob all diese guten Vorsätze der Regierung den Charakter „der strukturellen Reform und des Gesinnungswechsels“ tragen, die dringend not tut, um die Unzufriedenheit und das Mißtrauen, die sich in breite Schichten der Bevölkerung eingefressen haben, zu zerstreuen. Ein bekannter französischer Soziologe bezeichnete die letzte Streikbewegung als etwas ganz Neuartiges, deren Ebenbild vielleicht nur noch die großen Streiks zu Anfang des Jahres 1936 waren: die Stimmung der Streikenden sei aber damals „positiv“ gewesen, jene von heute aber „negativ“. Damals gab es noch Hoffnungen, heute weder klare Motive noch genaue Ziele, sondern nur noch einen allgemeinen Protest „nicht nur der Benachteiligten“, der die stete Dekadenz Frankreichs in seiner wirtschaftlichen, aber auch in seiner internationalen Lage beträte. Und dies sei ein Wendepunkt. Das Volk Frankreichs sei im Begriffe, aus seiner Indifferenz herauszutreten! — Dies entlud sich diesmal noch in Zorn und birgt für die Zukunft große Gefahren in sich. Aber das erfreuliche positive Zeichen ist, daß das Interesse der Menschen nunmehr über die Misere des Alltags hinausgeht. Der Europagedanke und sein großer Baumeister, Robert Schuman, waren einst in Frankreich populär. Später kamen Argumente der „dritten Kraft“, des „Ausbalancierens“ einer drohenden deutschen Uebermacht mit anderen Mitteln herauf. Heute erwartet man von einer erstarkten deutschen Regierung, daß sie Konzessionen in der Saarfrage anbieten könne, und schon dieses Aspektes wegen war die Aufnahme des Wahlsieges Dr. Adenauers in der Pariser Presse durchaus günstig. Gelingt es nun der französischen Regierung, die öffentliche Meinung von der Gangbarkeit und Gefahrlosigkeit des europäischen Weges „von innen heraus“ zu überzeugen oder nicht? Wenn ja, dann wird es ihr auch gelingen, die parlamentarischen Kräfte, vor allem die Sozialisten und MRP, aber vielleicht auch die ehemaligen Gaullisten, die heute noch geteilter Meinung sind, für die Ratifikation der Europaverträge (Anfang November) zu gewinnen. Dies setzt aber den Erfolg des inneren — nicht nur wirtschaftlichen

— San/erungsprozesses voraus.

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