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Ehe es zu spät ist…

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Paris, im September

„Verwirklicht Europa! Nur Gott weiß, was sonst geschieht." Dies waren, die letzten Mahnungen De Gasperis an seinen Nachfolger Scelba in einem Gespräch wenige Stunden vor seinem Tode. Einer der bedeutendsten Europäer der Nachkriegsjahre rief damit noch einmal, am Rande des Grabes stehend, das Gewissen Europas auf. Seit Jahren hatten die Außenminister Westeuropas, Schuman, Adenauer, De' Gasperi und van Zeeland, versucht, dem brudermörderischen Kampf der abendländischen Völker eine konstruktive, übernationale Ordnung der Staaten entgegenzusetzen.

In den Mittelpunkt aller Ueberlegungen, Diskussionen und Polemiken geriet jedoch sehr bald der Vorschlag, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft ins Leben zu rufen (EVG). Gegen diese Idee traten alle Gegner Europas sehr bald zum Angriff an. In Deutschland war es die SP, welche sich kategorisch gegen eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in der durch die EVG vorgesehenen Form stellte. Das große Nein des Volkstribunen Schumacher hinderte die sofortige Ratifizierung sowohl in Deutschland wie in Frankreich. Zwei Jahre hindurch wäre allerdings in Frankreich eine Ratifizierung, wohl mit geringer Mehrheit, durchaus möglich gewesen. Die absolut negative Haltung der deutschen Sozialdemokraten ließ jedoch die verantwortlichen französischen Staatsmänner zögern. Sie wollten abwarten, ob das Regime Adenauer in den Septemberwahlen 1953 die Bestätigung der deutschen Wähler erhalten, würde. Aber die französischen Politiker zögerten zu lange.

Der Plan einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft stammt von Pleven, dem damaligen französischen Verteidigungsminister. Mit seiner Idee einer europäischen Armee wollte er den direkten Eintritt Deutschlands in die NATO verhindern und die Renaissance einer autonomen deutschen Wehrmacht unmöglich machen. Bekanntlich hatte Amerika in kategorischer Form auf der Lissaboner Konferenz der Atlantikpaktmächte einen deutschen Beitrag für die westliche Verteidigung gefordert. Der psychologische Moment hierfür war nicht ganz glücklich gewählt. Es wäre besser gewesen, zuerst die wirtschaftliche Integration Westeuropas abzuschließen und dann erst in. zweiter Etappe den militärischen Zusammenschluß vorzubereiten.

In dem darauffolgenden Jahr wuchs die Zahl der EVG-Gegner in Frankreich. Die Abstimmung am 30. August schließlich fixierte die tiefe Zäsur in der französischen Politik. Ministerpräsident Mendės-France hatte versprochen, eine Konfrontation der EVG-freund- lichen und -feindlichen Kräfte in die Wege zu leiten, um die Teilnahme der gesamten Nation für den Plan zu erreichen. Nach seiner Indochina- und Tunis-Politik zu schließen, war er der Mann robuster Entschlüsse, jene Persönlichkeit, der es hätte gelingen können, durch eine Ratifizierung der EVG eine ständige Sicherung Frankreichs und seine leitende Rolle in Europa zu sichern. Weit mehr noch. Eine einmalige politische Konjunktur hätte es ihm gestattet, Vollstrecker eines europäischen Schicksales zu werden. Doch auch er zögerte, drückte sich nicht klar aus und ließ Anhänger und Gegner im unklaren über seine eigentliche Einstellung zu dem Vertrags werk. In Brüsselversuchte er in Zusatzprotokollen den übernationalen Charakter der europäischen Armee zu umgehen. Er stieß auf die absolute Ablehnung seiner Partner, die wohl zu gewissen Konzessionen bereit waren, den Geist der Pariser Verträge jedoch nicht zu ändern gedachten. In seinem Rechenschaftsbericht über Brüssel sprach sich der Ministerpräsident gegen die EVG aus. Die Anhänger hofften auf neue Verhandlungen, erwarteten, daß die Hälfte der sozialistischen Abgeordneten, die durch zwei imperative Mandate der Parteikongresse gebunden waren, sich der Stimme enthalten würden, obwohl sie als Gegner der EVG bekannt waren. Dies war jedoch nicht der Fall. Wohl schlossen die SFIO nach der Abstimmung so maßgebliche Vertreter wie Jules Moch und Daniel Mayer aus der Partei aus. Die französischen Sozialisten schlitterten dadurch in eine der größten Krisen seit dem Bestand der Partei und sind dadurch für lange Zeit paralysiert, aber es waren im letzten die hundert Stimmen der Kommunisten, welche die Ablehnung der EVG entschieden. Die Kommunistische Partei Frankreichs nimmt dadurch heute eine Schlüsselstellung in der Innen- und Außenpolitik Frankreichs ein. Sehr bedenklich erscheint es, daß die EVG durch eine Prozedurfrage zum Scheitern gebracht wurde. In einer so alten Demokratie mag es immerhin befremden, daß die Autoren der Verträge wie die Anhänger nicht zu Worte kommen konnten. Allerdings hätte sich am Endergebnis auch nach der Grundsatzdebatte nichts mehr geändert.

Die Regierung hatte keine Vertrauensfrage gestellt. Sie wollte ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen und nahm selbst keine Position ein. Neuerliche Verhandlungen mit den Signatarmächten selbst auf Grundlage der Brüsseler Vorschläge von Mendės-France sind damit unmöglich gemacht, eine Sternenstunde der europäischen Geschichte ist vorüber. Nicht einmal der sonst genannte Preis für die Aufgabe der europäischen Armee, also die gesamtdeutschen Wahlen und die restlose Unabhängigkeit Oesterreichs, wurde verlangt.

Die deutsch-französischen Beziehungen sind damit wieder einmal auf dem toten Punkt angelangt. Beschuldigungen wechseln mit scharfen Antworten ab. Jedes Maß für die schick- salshafte Verbundenheit der westeuropäischen Völker droht verlorenzugehen. Die Stellung des Bundeskanzlers Adenauer, der immer mehr seine Politik mit der EVG identifiziert hatte, wurde erschüttert. Einige Ratten verlassen das für sie leck gewordene Schiff. Aber es ist noch nicht abzusehen, in welcher Weise die Aufgabe einer großen politischen Idee auf die Wähler des September 1953 wirken wird — sollte der Mythos von Tauroggen und Rapallo bereits restlos verschwunden sein? Sollte wider Erwarten in weiteren Weltkonferenzen die Neutralisierung Deutschlands beschlossen werden, so müßte sich in der Mitte Europas ein leerer Raum bilden, der nach altem Gesetz von der lebendigsten Idee und von der größten Macht sehr bald gefüllt würde, von einer Macht, die in kalter Entschlossenheit und Zug um Zug sich immer weiter ausbreitet.

Aehnliche Rückwirkungen sind in Italien zu erwarten. Die gesamte italienische Außenpolitik, die treu die Integration Europas unterstützt hatte, ist in Frage gestellt. Die große christlich-demokratische Partei ist Spannungen ausgesetzt, die sich seit dem letzten Parteitag verdichtet haben. Ob Fanfani jenen ständigen Ausgleich herbėifūhreh kann, der dem Wesen des alten weisen De Gasperi entsprochen hatte? Die Kommunistische Partei gewinnt immer mehr an Boden. Italien, in die enge Grenze seines Nationalstaates zurückgeworfen, mit seinen Millionen Arbeitslosen, die auf die Weite des europäischen Arbeitsmarktes gehofft hatten, kann in sehr kurzer Zeit ein explodierender Dampfkessel werden.

Und Frankreich selber? Nach wie vor wagt der Verfasser zu behaupten, daß die Mehrheit des französischen Volkes, besonders die Jugend, für Europa eingestellt ist. Sämtliche Nachwahlen der letzten zwei Jahre wurden von europafreundlichen Kandidaten gewonnen. Es obliegt der französischen Regierung, neue Vorschläge auszuarbeiten, um der europäischen Krise so schnell wie möglich zu begegnen. Die Souveränität, die im Bonner Vertrag fixiert wurde und die, juridisch gesehen, an die EVG gebunden wurde, soll Deutschland gewährt werden. Aber schon hat Bundeskanzler Adenauer erklärt, daß nur noch die volle Souveränität ohne jede Beschränkung akzeptiert werden könne. Mendės-France vertritt die Aufstellung einer beschränkten deutschen Nationalarmee sowie die gemeinsame Verwaltung der Erzeugung von Kriegsmaterial. Aber jene gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten, wie sie der EVG-Vertrag geboten hätte, sind dadurch in keiner Weise gegeben. Schwierigste Verhandlungen stehen bevor, die in der derzeitigen gespannten Atmosphäre unter einem sehr ungünstigen Stern stehen. Der Nationalismus auf allen Seiten stellt .immer wieder Forderungen. Mendės-France selbst hofft auf eine enge Zu-

sammenarbeit mit Großbritannien, aber nach seinem Besuch bei Churchill zeigte es sich, daß England nicht bereit ist, sehr große Verpflichtungen zu übernehmen. Für den Ministerpräsidenten stellt sich letzten Endes auch ein sehr delikates innenpolitisches Problem. Genau so wenig, wie sich für die EVG eine Mehrheit fand, wird sich eine solche für eine deutsche Nationalarmee konstruieren lassen. Schon haben sich die früheren Ministerpräsidenten Schuman, Reynaud, Pinay, Pleven und Bidault entschieden dagegen ausgesprochen. Die Mehrheit des Ministerpräsidenten besteht derzeit aus den Ex-Gaullisten, die aber in der Bevölkerung über keinen nennenswerten Rückhalt verfügen, einem Teil der Radikalen, den Sozialisten und den Kommunisten. Noch nie seit 1945 unterstützte eine so heterogene Mehrheit die Regierung. Wird es ihr unter diesen Umständen gelingen, Frankreich aus der Isolierung wieder in die Gemeinschaft Europas zurückzuführen?

Aber was denken die Millionen, für welche die Integrationspolitik Europas seit Kriegsende das einzige politische Ziel darstellte? Das Europa, das geschaffen werden sollte, war mehr ein Europa der Retorte, von Experten, Politikern und Generälen geformt. Trotzdem war eine große Bereitschaft in den Nationen vorhanden. Aber sie ist weder von der europäischen Bewegung mobilisiert noch von den Regierungen in Anspruch genommen worden. Um die einzige und letzte politische Hoffnung

Europas nicht zu verlieren, muß alles getan werden, um der europäischen Integration einen neuen Sinn zu geben.

Etwas Gutes hat die derzeitige Situation. Die Fronten sind klar abgezeichnet worden. Es gibt nun kėįnen Ausweg: und. keine Entschuldigung mehr. Entweder besinnt sich Europa auf den Sinn seiner Geschichte, weiß um die gegenwärtige Bedrohung — oder es wird unaufhaltsam in den Abgrund stürzen. Nur noch eine Massenbewegung von unten herauf, welche die bewußten und lebendigen Kräfte Europas sammelt, welche die Menschen aufruft, die sich des Wertes der abendländischen Gesittung bewußt sind, kann aus diesem Ausweg herausführen. In einem solchen dramatischen Moment wird, es notwendig sein, daß alle jene Männer in die erste Reihe treten, die selbstlos und kühn genug sind, jenseits eigener Vorteile und persönlicher Erfolge im Dienst Europas zu wirken. Mögen sie endlich den Ruf ihres eigenen Gewissens vernehmen und handeln — aber schnell handeln, ehe es zu spät ist.

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