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Deutsche Entscheidung

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Am 6. September spielt sich in Deutschland, genauer, in der Deutschen Bundesrepublik, ein Vorgang ab, der von mancherlei Geheimnissen umwoben ist: Millionen Wahlberechtigter schreiten zur Urne, entscheiden das Geschick ihres Landes, mitentscheiden das Geschick der Welt.

Wir wissen heute, daß diesem Geschehen nichts Zufälliges, nichts Launenhaftes innewohnt; zumindest dieser Vorwurf an die Adresse der Demokratie ist überholt. Jede einzelne Stimme wird wie mit einem Eimer aus dem Brunnen der Vergangenheit geschöpft: Kindheitseindrücke spielen ihre Rolle, das soziale Milieu der Eltern und Großeltern wirkt formend, beeinflussend, gewiß... aber wie weit lassen sich die Fäden zurückverfolgen? Dringt nicht ferner Lärm aus den Kämpfen, die in der Revolutionszeit in der Gironde stattfanden, noch in das Wahlwerben französischer Parteien, spürt man nicht in manchem deutschen Land den Gegensatz Weifet)—Ghibellinen wie einen An-haiu:h aus großer Tiefe, behaupten nicht englische Beobachter, daß die keltischen Siedlungsgebiete andere politische Reaktionen zeigen?

Nichts Zufälliges also. Soll damit angedeutet werden, daß dem Wahlentscheid eine innere Weisheit zugrunde liegt, dunkel und unanfechtbar wie der Orakelspruch? Nun; die Demokratie besitzt kein Monopol richtiger Entscheidungen, sie schafft nur — indem sie uns im Massenzeitalter ein Minimum menschlicher Würde und Freiheit bewahrt — die Voraussetzung, daß sich richtige Entschlüsse fruchtbar entfalten können. Läßt sich aber die Stoßrichtung der Entscheidung voraussagen? Konkret im deutschen Exempel: Läßt sich vernünftigerweise mutmaßen, ob Adenauer, Ollenhauer oder der Exponent einer unnatürlichen Koalition zwischen rechts und links präsumtiver Kanzler 1953 bis 1957 werden wird? Die Mehrzahl der politischen Beobachter in Deutschland neigt zur Ansicht, daß Adenauer und die mit ihm verbündeten — zum Teil in sich zer-worfenen — Gruppen einen knappen, aber ausreichenden Sieg erringen werden. Man muß sich aber vor Augen halten, daß es sich hier um Männer handelt, die vor allem außenpolitisch denken, und hier hat es die völlige Sterilität des SPD-Konzeptes mit sich gebracht, daß man sich eine Alternative zu der Politik Adenauers nicht recht vorstellen kann. Es mag also wohl sein, daß hier außenpolitische Lichteffekte den Blick für das Dunkel des innenpolitischen Spiels geblendet haben. Aber geht es im deutschen Wahlkampf wirklich um den „Kurs Adenauer“, um die Krönung jenes geduldigen und großen außenpolitischen Werkes durch die Schaffung einer europäischen Armee? Oder geht es um etwas anderes, um die Führerschaft Adenauers an sich?

Wir müssen hier von jenem Punkt ausgehen, wo die nationale deutsche Entscheidung in den weltweiten Rahmen fließt. Die große Rede Malenkows hat keinen versöhnlichen Eindruck hinterlassen. Trotzdem wäre es vorschnell, anzunehmen, daß damit die Phase russischer Verhandlungsbereitschaft abgeschlossen sei. Gerade Oesterreich ist Zeuge dafür, daß der Kreml, während er sich um

eine Position der Stärke auf höchster Ebene bemüht, doch fortfährt, auf den anderen Plattformen Handlungen der Entspannung zu setzen. Hält man aber die Rede des russischen Staatsmannes an die seinerzeitige, die amerikanische Friedensoffensive einleitende Ansprache Eisenhowers, so ergeben sich überraschende Analogien, ja es drängt sich einem die Meinung auf, daß Malenkow ein Gegenstück schaffen wollte, den massiven amerikanischen Forderungen sollten ebenso massive russische gegenübergestellt werden, damit die Abgesandten des Kremls nicht als politische Schuldner an den Verhandlungstisch treten müßten. Hatten die Russen bei dem letzten Versuch, das Gespräch in Gang zu bringen, nur über Deutschland verhandeln wollen, während der Westen die globale Lage zu besprechen gedachte, so will nun der Westen nur über Deutschland sprechen (Oesterreich soll nach der letzten Note schon vorher behandelt werden), während es dem Kreml um eine allgemeinere Aussprache geht. Dies läßt natürlich den Schluß zu, daß es sich hier nur um Taktik handelt. Deutschland ist tatsächlich das schwierigste und zugleich das entscheidendste Problem. Fände man hier eine Lösung, so würden sich andere wie von selbst anschließen.

Der Westen hat nun offiziell die Haltung eingenommen, daß mit dem Einbau Deutschlands in den Atlantikpakt über die Weichenstellung „Europa-Armee“ auf alle Fälle fortgefahren werden müsse. Begreiflicherweise, kann doch niemand mit Sicherheit sagen, ob die Friedensgesten des Kremls nicht letzten Endes nur den Zweck haben, die Vereinigung solange hinauszuschieben, bis ein wiedererstarkter Nationalismus sie aus inneren Gründen unmöglich macht. Aber wenn es wirklich zu Verhandlungen mit den Russen kommen soll, zu entscheidenden Verhandlungen der entscheidenden Staatsleute, dann müssen — so man Erfolg wünscht — beide Teile etwas zu bieten haben. Sicherlich wird der Kreml dann mit besserem aufwarten als dem Vorschlag seiner letzten Note, Adenauer möge sich doch mit den Leuten von Pankow zusammensetzen, als sei die gewählte Bonner Regierung nur ein distinguierter Lubliner Ausschuß, und wahrscheinlich wird er die Räumung Mittel- und Ostdeutschlands zur Debatte stellen, um zu sehen, wieweit der Westen dem russischen Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen bereit ist. Vielleicht läßt sich ein Eingehen auf die russischen Wünsche doch irgendwie-mit einer Europa-Armee,' in der deutsche Divisionen dienen, vereinbaren. Was aber soll geschehen, wenn die Russen dem Westen und vor allem den Deutschen selbst die Wiedervereinigung anbieten, so nur die Deutschen, vielleicht mit einer kleinen, eigenen Armee außerhalb des NATO-Paktes bleiben? In diesem Fall würde zweifelsohne der politische „Grabenkrieg“ in einen „Bewegungskrieg“ übergehen.

Aber dieses Ereignis kann auch, wenn im beschränkteren Ausmaß, eintreten, wenn die Franzosen ihrer inneren Krisen nicht mehr Herr werden können und sich schließlich in Paris keine Regierung bereit findet, inmitten aller übrigen Sorgen noch die Ratifikation des EVG-Vertrages durchzusetzen. Gewiß, der deutsche Bundeskanzler läßt immer

wieder betonen, daß es keine Alternative zum EVG-Vertrag gibt, und dies“ ist weise und klug (und von einer sonst in Deutschland seltenen Klugheit), denn nichts wäre verhängnisvoller, als gerade in diesem Augenblick den Franzosen einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben. Aber im Grunde seines Herzens weiß Adenauer natürlich, daß es eine Alternative gibt und daß, wenn die französische Obstruktion zu einer dauernden europäischen Einrichtung wird, die Fronten auch hier über amerikanische Initiative in Bewegung geraten werden.

Es ergibt sich nun die Frage, wieviel Adenauer wert ist, wenn es zweifelhaft erscheint,

ob'der „Kurs Adenauer“ überhaupt weitergeführt werden kann. Es ist die Frage, die sich im Grunde genommen das deutsche Elektorat stellen müßte, denn angesichts der ungeheuren Bedeutung der Außenpolitik schrumpfen alle internen Dispute zur Nichtigkeit zusammen. Doch gerade in diesem Fall wäre Adenauers Persönlichkeit von allergrößtem Wert, steht er doch in der „Hierarchie des Formats“ unmittelbar hinter Churchill. Während der „Löwe von Chequers“ sozusagen in vielem der Westen selbst ist, erscheint Adenauer als der größte Lehensherr westlicher Ideale. Wie aber die Dinge liegen, kann heute nur ein Mann solcher Autorität

alle Möglichkeiten des „Bewegungskrieges“ wirklich für sein Volk ausnützen. Was bei Adenauer in London und Washington nur als vorsichtiger Rückzug gelten würde, das wäre bei Ollenhauer Niederlage oder, schlimmer noch, Verrat. Das mag ungerecht sein, aber es gilt mit dem Unterschied bloßer Nuancen auch für einen Nachfolger Churchills; Lord Salsibury hat bereits in Washington verspürt, wie schwierig es ist, den Schatten des Titanen zu werfen.

Dabei muß natürlich hervorgehoben werden, daß auch auf Seite der SPD starke europäisch gesinnte Kräfte aufmarschiert sind, die sich allerdings — siehe Carlo Schmid — nicht in den Vordergrund spielen konnten. Sie müßten sich im Falle eines sozialistischen Wahlsieges erst allmählich an die Spitze kämpfen. In diesem Bestreben würden ihnen allerdings die starken westlich-freiheitlichen Impulse, die der sowjetische Druck hervorgerufen hat, von Nutzen sein. Es ist sehr bemerkenswert, daß sich die Aufstände und

Unruhen in der Ostzone immer wieder zu revolutionären Symbolhandlungen klassischer Prägung verdichten, auffallend auch, daß die Berliner Sozialisten eher geneigt sind, die Vertragspolitik des Kanzlers zu unterstützen als die weniger gefährdeten Kameraden in der Bundesrepublik. Auf der anderen Seite sind die uralten Gegenkräfte, die das hellenistisch-christliche Erbe immer von neuem als fremd zurückgestoßen haben, ohne Kristallisationspunkt geblieben.

Man darf allerdings nicht annehmen, daß deshalb das deutsche Schisma schon völlig erloschen ist. Da und dort tauchen befremdende Nachrichten ganz verschiedener Natur und scheinbar ohne Zusammenhang auf — da lesen wir von dem Wiederaufleben des abstoßenden Mensurenzaubers mit seinem Blutritual; lesen, daß die Witwe Heydrichs eine Pension bezieht und die Witwe des Generalquartiermeisters Wagner vom 20. Juli um ihr Recht kämpfen muß; lesen, daß Naumann, der Unterwanderer und Grimm, der Herrenmensch, und Aschenbach, der Helfers-

helfer, sicli um Abgeordnetensitze bemühen können; lesen, daß Heidegger seine Vorlesungen aus dem Jahr 1935 — „Das Wahre ist für den Starken!“ — unverändert neu herausgegeben hat — lesen das und anderes mehr. Winzige Rauchfähnchen sind es, jedes für sich und nichts voneinander wissend, und doch aus demselben unterirdischen Schwelen hochsteigend und den grauen, alten Hintergrund schaffend, gegen den sich die wahren Dimensionen deutscher Größe abheben.

Immer wieder unterschätzt man sie, diese Dimensionen: Ist es nicht recht kennzeichnend, wie es mit dem Hunger der Ostzone ging, von dem man dauernd sprach, um dann doch von dem Bild überwältigt zu werden, als ein ganzes Land aufbrach, um die amerikanischen Spenden entgegenzunehmen, und Mütter sich die ganze Nacht hindurch anstellten, um dann vor der Entgegennahme ohnmächtig zu werden? Da gab es die Tapferkeit des 17. Juni, die niemand er wartet und niemand für möglich gehalten hatte, da gab. es das stille Ausharren der Berliner Blockade, und da gab es nicht zuletzt den ungeheuren, zähen Aufbau, dieses Wunder von Wagemut, Arbeit und Entsagung, und da gab und gibt es unzählige andere Beispiele echter Größe. Welch ein Volk ... welch eine Entscheidung!

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