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Wer überwindet den toten Punkt?

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Seit dem Jahre 1952 lebt der Streit zwischen Sowjetrußland und den drei führenden Westmächten um einen Friedensvertrag mit Deutschland periodisch auf. Dabei wird nie ein Fortschritt erzielt. Ganz im Gegenteil: Vergleicht man die jüngsten Anregungen des Kremls mit dem Ausgangspunkt der Kontroverse im Jahre 1952, so muß man mit Staunen feststellen, daß Moskau seinen politischen Preis im Laufe der Verhandlungen immer höher schraubt. Im Geschäftsleben würde man ein solches Verfahren als unernst bezeichnen. Ist es in der internationalen Politik anders?

Prüfen wir zunächst die Rechtslage, um hernach zu versuchen, die richtige Abwehrpolitik des Westens aus dem Wust diplomatischer Noten herauszuschälen.

Es gibt wohl eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit, aber sie ist nicht obligatorisch. Der einstige Völkerbund sah ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vor, aber sofort entwickelte sich dagegen eine Abwehrtaktik: der Staat, der ihm entgehen wollte, ernannte seinen Beisitzer nicht, und der Schlichtungsausschuß konnte nie zusammentreten. Heute wird das entstehende internationale Recht bei den Vereinten Nationen durch das Vetorecht verbeult. Um der Uebertragung dieses Mißbrauches auf andere internationale Organisationen vorzubeugen, haben die sechs Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besondere Regeln ausgearbeitet, um gewisse Einspruchsrechte einzuschränken. Hier sehen wir ein Beispiel konstruktiver Weiterentwicklung des internationalen Rechtes.

Im Falle des Friedensvertrages mit Deutschland droht hingegen eine negative Weiterentwicklung. Das internationale Recht besagt nirgends ausdrücklich, daß ein Staat nach einem verlorenen Krieg ein Anrecht auf einen Friedensvertrag hat. Die Weltgeschichte kannte bisher keinen dauernden Kriegszustand, der allmählich durch die Ereignisse überholt und von selbst in einen faktischen Friedenszustand übergegangen wäre. Eben das aber ist in den letzten Jahren in Deutschland geschehen. Formell hat keiner der beiden -Teile des- -einstigen-Reiehes einen Frie- dėnsvertrag mit irgendeinem der einstigen Feindmächte abgeschlossen. Jeder Teil hat hingegen mit der weltpolitischen Gruppe, der es angehört, eine „De-facto“ -Regelung vorgenommen. An Querverbindungen bestehen einzig zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetrepublik diplomatische Beziehungen. Mit den übrigen Satellitenstaaten unterhält aber Bonn keinerlei offizielle Beziehungen, wohl aber ständige Wirtschaftsbeziehungen, kulturelle Verbindungen nur im Keimzustand. Zwischen der deutschen Ostzone und der westlichen Welt sind die Anknüpfungspunkte noch spärlicher. Kein NATO-Staat hat die Ostzone als politisches Gebilde anerkannt, die Wirtschaftsbeziehungen sind auf ein Mindestmaß beschränkt, und sonst geht der Westen jeder Fühlungnahme mit dem „De-facto“-Staat der Ostzone in großem Bogen aus dem Wege.

Damit ist ein Rechtsbegriff, der seit Jahrtausenden zum Rüstzeug der Regelung internationaler Beziehungen gehörte, abgestumpft worden. Man kann also nebeneinander leben, ein Mindestmaß von Wirtschaftsbeziehungen unterhalten und sich für die unumgänglichen Fühlungnahmen auf „Ad-hoc“-Ausschüsse oder auf die Vermittlung eines gemeinsamen Freundes verlassen. Man lebt in diplomatischer Untermiete — aber man lebtl Es ist wichtig, das festzuhalten. Denn wenn man zur Not ohne Friedensvertrag auskommen kann, dann braucht die Bundesrepublik nicht auf den Abschluß eines Friedensvertrages zu drängen. Durch etwas Logik und geistige Disziplin kann der Westen so ein politisches Aktivum Moskaus entwerten. Damit wäre im taktischen Sinne viel erreicht!

Im Grunde genommen drückt der Schuh die Deutschen und auch die westlichen Völker an einer anderen Stelle. Nicht die Deutschen in der Bundesrepublik führen berechtigte Klagen ob ihres traurigen diplomatischen Schicksals, sondern die Bevölkerung der Ostzone muß man tief bedauern. Sie trägt die ganze Last der Teilung Deutschlands, sie kann sich geistig nur nach östlichen Schablonen entwickeln, ihr wird jeder Kontakt mit der westlichen Kultur erschwert, Jpei ihr wird religiöse Haltung verfolgt. Deshalb darf der Westen dieses unglückliche Volk nicht im Stiche lassen. Bloß bemühte er sich um eine Besserung des Loses der Ostdeutschen bis jetzt mit ungeeigneten Mitteln.

Die Russen werden weder die Ostzone noch irgendein Satellitengebiet jemals auf dem Verhandlungswege aus der Hand geben. Zwingen kann man sie nicht, dazu sind sie zu stark. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten. Entweder will der Westen warten, bis sich die Lage innerhalb des Ostblocks dermaßen grundlegend ändert, daß die Russen ein Interesse finden, sich mit dem Westen zu verständigen und bereit sind, dafür einen politischen Preis zu bezahlen.

Oder das Ziel der westlichen Welt muß sein, der Bevölkerung der Ostzone zu helfen, solange es nicht zu spät ist. Das kann man gegen den Willen der Russen nicht tun. Die richtige Taktik muß also zwei Gesichtspunkte vor Augen halten. Zunächst muß man trachten, den Russen zu beweisen, daß ihre Druckmittel auf die freie Welt keinen Eindruck machen. Zweitens muß man es so weit bringen, daß die Russen bemerken, wie sehr sie auch sich selber schaden, wenn sie jeden vernünftigen Versuch des Westens, zu einer Verständigung zu gelangen, sabotieren und unannehmbare Gegenvorschläge machen.

Für den ersten Punkt bietet der jüngste russische Vorschlag für einen Friedensvertrag mit Deutschland ein anschauliches Beispiel. Er muß energisch, womöglich gleichzeitig und in gleichlautenden Antworten zurückgewiesen werden. Gewiß ist es richtig, daß der Westen immer wieder seine Bereitwilligkeit, zu verhandeln, betont. Aber es fehlt die Konklusion: Bevor wir einen für das ganze deutsche Volk unglückbringenden Friedensvertrag abschließen, um damit in der Berliner Frage eine gleichfalls katastrophal schlechte Lösung herbeizuführen, ziehen wir es vor, im Einvernehmen mit der Bundesregierung und dem deutschen Volke, vorerst gar keinen Friedensvertrag ins Auge zu fassen. Freilich müßte man gleichzeitig bei den Ent-

wicklungsvölkern eine großzügige Aufklärungskampagne einleiten, ansonsten der Kreml bei diesen einen großen Propagandagewinn einheimsen könnte. +

Auch für die zweite obengenannte Aufgabe bieten die Verhältnisse dem Westen gute Stützen. Der Osten rüstet zu einem Wettkampf auf wirtschaftlichem Gelände. Er will das Lebensniveau bei sich selber in wenigen Jahren auf die westeuropäische Stufe bringen und in sieben Jahren auch die Vereinigten Staaten einholen. Jedenfalls muß der Westen die Herausforderung annehmen, und da er sich auf das Kampfgelände begeben muß, sollte er alles unternehmen, um sich dort zu behaupten. Dazu gehört eine vernünftige Politik in den überseeischen Gebieten, wie sie Belgien — leider mit großer Verspätung — einzuschlagen gedenkt und wie sie sich in Frankreich noch immer nicht durchsetzen konnte. Auch die britische Zypernpolitik bildet für den Westen ein Passivum, ebenso wie die amerikanische Formosapolitik. Alle diese offenen oder verkappten regionalen Konflikte zehren an den Kräften der westlichen Welt, stören die Zusammenarbeit und verlangsamen daher unsein Aufstieg. Im Wettkampf, den Chruschtscho angesagt hat, kann der Westen dieses Handikap schwerlich mitschleppen, ohne sich jeglicher Siegeschance zu berauben. Gelänge es ihm aber, die lokalen Streitigkeiten ehrenvoll zu beenden, alte Freundschaften zu konsolidieren, neue zu schließen und störende Mißverständnisse zu klären, so bliebe dem Osten wenig Hoffnung auf einen Erfolg im Wirtschaftswettkampf. Dann müßte der Kreml schleunigst Ausschau halten, wo und wie Ein sparungen möglich sind. Dabei könnte er nichi übersehen, daß die „De-facto"-Regelung ir Deutschland der Bundesrepublik weit mehr Vorteile brachte als der Ostzone, so daß das westliche Lager unter dem llebergangszustanc weniger leidet als der Ostblock.

Dann erst wäre der Zeitpunkt gekommen, um dem Kreml Vorschläge zu machen. Heute abei sollte ihm der Westen antworten: „Gewiß wollen wir mit euch verhandeln, aber darunter verstehen wir vernünftige Kompromisse, und nichi ein Nachgeben auf der ganzen Linie, ohne einen Gegenwert zu erhalten und ohne den hartbedrängten Satellitenvölkern damit zu helfen."

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