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Jene große Wendung?

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Hat Ostern 1953 jene große Wendung zum Besseren gebracht, auf die nicht nur die von einem der beiden weltpolitischen Lager immer wieder zu Zeugen aufgerufenen „Millionen einfacher Menschen“ warten und hoffen, sondern auch jene anderen komplizierteren Zeitgenossen — sind es ihrer Zehntausende oder nur wenige Dutzend? —, von denen die Entscheidung Krieg oder Frieden in Wahrheit abhängt? Die Antwort auf diese Schicksalsfrage wird hüben und drüben mit zwei Problemen verknüpft, die offen zu erörtern sind, wollen. wir nicht die schüchtern umherflatternde Friedenstaube sofort dazu verurteilen, daß ihre Botschaft in ein bald abreißendes und durch seine möglichen Folgen gefährliches Gespräch mündet, von der Art, wie es die Franzosen „la conversation des deux sourds“, die „Unterredung zweier Tauben“ nennt, zweier Partner, die gegenüber den Parolen des echten Friedens ihr Ohr verschließen.

Auf sowjetischer Seite, um das vorwegzunehmen, heißt es, eine doppelte Illusion begraben. Können die zagen Versuche, einem Nebeneinander der beiden einander, widersprechenden politischen und wirtschaftlichen Systeme den Weg zu ebnen, die militärischen Abwehrvorbereitungen der Atlantikpaktstaaten unterbrechen und deren und der anderen westlichen Länder natürliche Interessengemeinschaft mit den USA auslöschen. Die hellsichtigen Staatsmänner, an denen es gewiß im Kreml nicht fehlt, werden sich, wofernc sie ihn je gehegt haben, vom Glauben an zwei S c h 1 a g w o r t e befreien müssen.

Die Rüstungen der nichtkommunistischen Völker sind — einmal — nicht das üble Werk einer kleinen Gruppe gewinnsüchtiger Kriegshetzer (wenn wir auch die Rolle nicht unterschätzen, die wirtschaftliche Nutznießer der unheiligen Kreuzzugspredigt beim Kalten Krieg spielen und die sie bei einem Warmen Krieg verstärken möchten). Zu den finanziellen, moralischen und an die Lebensfreude rührenden Opfern, die das Wettrüsten mit sich bringt, finden sich sowohl die Mehrheit der durchaus friedliebenden und verständnisbereiten Staätenlenker als auch die der breiten Massen des Westens nur deswegen bereit, weil sie sonst befürchten, das Los der gegen ihren Wullen in die sowjetische Machtsphäre einverleibten Oststaaten zu teilen. Schon die bloße Gewißheit, auf längere Zeit keinem direkten Angriff von außen, noch einer von außen geschürten inneren Zersetzung preisgegeben zu sein, würde genügen, um die militärischen Maßnahmen des Westens von selbst einschränken und abebben zu lassen.

Zum Zweiten: Es bestehen zwar erhebliche Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze zwischen den USA und den anderen Hauptmächten der Westallianz, ferner zwischen einzelnen dieser Verbündeten Amerikas — um nur an die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Italien und Jugoslawien zu erinnern —, doch reichen diese Tatsachen nicht aus, um einen Abfall auch nur einer der europäischen Nationen des Südens, der Mitte, des Westens und des Nordens zu bewirken oder gar um dem Sowjetblock neue freiwillige Anhänger zuzuführen. Moskau besitzt für den Kalten oder für den Warmen Krieg keine Chance, durch diplomatisch-politische Aktivität neue Alliierte aus dem Kreis der heutigen Westgemeinschaft zu werben. Dagegen kann die UdSSR damit rechnen, daß mehrere Regierungen, insbesondere London, Paris, Brüssel, jede ehrliche Entspannung, auch um den Preis erheblicher Zugeständnisse, unterstützen würden.

Wie sieht nun die Sache von Osteh her aus? Da gilt es, sich vor einer Täuschung zu bewahren, die ebenso bedrohlich wäre wie die sowjetischen Erwartungen auf Verhinderung der amerikanisch-europäischen Rüstungen oder auf Sprengen des Atlantikbundes. Der westliche Irrtum lautet: Ein „Thermidor“ wie einst in der Französischen Revolution, ein B.utsch im Kreml sei erfolgt. Die Enthaftung der unter grotesker Anklage eingekerkerten Aerzte, die Säuberung im sowjetischen Sicherheitswesen, die Einladung an amerikanische Journalisten, denen man die altüberlieferte russische Gastlichkeit bezeigte, die plötzliche Wendung im koreanischen Waffenstillstands-Stillstand, die Berliner Konferenz der vier Befehlshaber, die verheißene Oeffnung der Sowjetgrenzen für Besucher aus dem Westen, die sich der Führung des Intourist anvertrauen wollen, die Geldspenden an Opfer von Elementarereignissen im Westen, das Abschwellen der in Fortissimo dahin-brausenden Zornessymphonien, die aus dem Blätterwald den „Bakterienmördern“ bisher entgegentönten: das betrachtet man vorschnell als Beweis dafür, daß in der Sowjetunion nun alles vertauscht und daß dort jählings eine den örtlichen Verhältnissen angepaßte westliche Demokratie eingerichtet wird. Aehnliche Fehlurteile haben während des zweiten Weltkrieges nach dem Anschluß der UdSSR an die Westkoalition die öffentliche Meinung, vorab der Angelsachsen und Frankreichs, verwirrt und dann später, als man aus einem sorgsam gehegten Traum erwachte, die Atmosphäre vergiftet, indem man unerfüllte eigene Trugbilder für gebrochene Zusagen des anderen Partners ansah.

Es ziemt also festzustellen: In der Sowjetunion scheint bisher noch kein „Thermidor“, kein Regimewechsel erfolgt. Das System, seine ideologischen Grundlagen und deren praktische Anwendung im Stil des täglichen Lebens bleiben vorerst unverändert. Auch die Endziele der UdSSR in bezug auf die kapitalistische Welt sind die gleichen wie zuvor. Die Veränderungen betreffen einerseits die Organisation des Staates und der Partei, anderseits den Machtbereich der leitenden Männer, unter denen sich Malenkow, Berija und Bulganin mit voller Deutlichkeit als die entscheidenden bestätigen. Wenn in der A n-wendung der in der UdSSR gewohnten Methoden ein Wechsel zu spüren ist, wenn eine Gruppe von wichtigen Mitgliedern des „Apparats“ unter die Räder geraten und eine zweite Gruppe, die schon beinahe zermalmt war, wieder an die Räder gelangt, so hat das wohl folgende zwiefache Bedeutung: daß die drei oder vier leitenden Köpfe des Regimes in dessen Interessen und zum Besten sowohl der Partei als auch der Sowjetunion es für nötig halten, eben diese „Umgruppierung“ zu verfügen, ferner daß sie in den nun Geopferten und in deren Tun eine Abweichung von den in ihrer Exegese sehr dehnbaren Grundsätzen des Marxismus-Leninismus erblickten. Um es noch deutlicher zu sagen: Der immer mehr in nationalistische und antisemitische Bahnen einmündende Kurs, den der Kreml während der letzten Jahre und Monate Stalins eingeschlagen hatte, wird abgebremst, und zwar weil er im Inneren unliebsame Wirkungen auslöste und weil er im Ausland, sowohl bei den kommunistischen Bruderparteien des Westens als auch bei einigen der getreuesten und begabtesten Führer in den Volksdemokratien Unbehagen auslöste. Es mag auch in die Waage gefallen sein, daß dabei die amerikanischen Juden, die zu verstimmen Moskau beileibe kein Interesse hat, ins antisowjetische Lager gedrängt wurden.

So fügt sich die sensationelle Wendung in der Aerzteaffäre gut zu einer Gesamtheit von Schritten, die im Westen den Eindruck wecken sollen, Moskau sei es mit einem Waffenstillstand nicht nur für Korea, sondern auch auf weltweiter Basis ernst und eilig. In diesem Sinne glauben wir andenErnstund andieEiledieser Bestrebungen. Gerade in Oesterreich, wo die Provisorien das einzig Dauernde sind, würde man in einem Waffenstillstand die Wahrscheinlichkeit eines lange währenden Friedens begrüßen, der Oesterreich endlich die ersehnte wirkliche Freiheit und Unabhängigkeit bescheren würde. Und so hoffen wir, daß, auch ohne Moskauer Thermidor, die Friedenstaube ihre Botschaft an Hellhörige, nicht an Friedenstaube überbringe.

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