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Moskau und die Satelliten

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Darüber, daß es eine geistige Krise in der europäischen kommunistischen Welt gibt, ist schon seit langem kein Zweifel mehr. Die Versuche, aus dieser Krise herauszukommen, datieren nicht erst seit heute und werden noch einen lange andauernden Prozeß benötigen. Der überlebensgroße Schatten des toten Diktators lastet noch zu stark über Rußland, als daß sich die Sowjetpolitik schöpferisch und schnell genug umstellen könnte.

Groß, übergroß ist auch das Erbe, das Imperium Stalins. Und seine Nachfolger, selbst von russischen nationalistischen Instinkten angekränkelt, sind nicht ohne weiteres bereit, dieses überdimensionale Gebilde aufzugeben. Uebrigens, Ungarn hatte Stalin aus zweierlei Gründen so-wjetisiert, obwohl kein russischer Zar jemals darauf Anspruch erhoben hatte, obwohl die Ungarn weder'Slawen noch byzantinischer Kulturherkunft waren. Einmal, weil es sich „machen ließ“, zum andern aus strategischen Gründen als Verbindungsglied zu Jugoslawien. Es ist daher kein Wunder, daß gerade in Ungarn der Riß im Ostblock am schärfsten zutage tritt. Denn hier sind ja die geringsten Bindungen zu Rußland vorhanden. Auch daß die Ereignisse in Polen begannen, ist durchaus erklärlich. Im Laufe von Jahrhunderten ist es nicht gelungen, ein befriedigendes russisch-polnisches Verhältnis zu schaffen. Immer hat einer den anderen bedroht. Jedesmal ist ein selbständiges Polen eigentlich gezwungenermaßen zum Bundesgenossen der Feinde Rußlands geworden. Dabei ist die Verbindung mit Polen für den Kreml wichtiger als alle anderen Probleme Europas, einschließlich der deutschen Frage. Nur ein der Sowjetunion freundliches Polen gewährleistet die Sicherheit der europäischen Grenzen Rußlands.

Es“ geht derzeit um die Neuordnung des europäischen Kommunismus. Diese Neuordnung dachte man sich in Moskau in der Form, daß die einzelnen kommunistischen Parteien zwar in ihrem Bereiche eine größere Elastizität und Autonomie erhalten, die Sowjetpartei jedoch leitend und richtunggebend bleibt. Organisatorisch war das so gedacht, daß jede einzelne kommunistische Partei in Europa mit der Auslandsabteilung des Moskauer Zentralkomitees in ständigem Kontakt bleibt, von dort gegebenenfalls „Ratschläge“ und Weisungen erhält, die einzelnen Parteien aber untereinander nur formellen und losen Verkehr pflegen. Auch ihre gegenseitigen Beziehungen sollten über Moskau

Tito wollte man natürlich volle Unabhängigkeit zugestehen, nicht jedoch das Recht des von Moskau unkontrollierten Verkehrs mit den Satellitenparteien. Man hat in Jalta Tito völlige Gleichheit mit der Sowjetpartei zubilligen müssen. Er sollte tätig an der Neuordnung des europäischen Kommunismus mitwirken. Er bezahlte dieses Zugeständnis Moskaus mit der Lösung seiner finanziellen Beziehungen zu Washington. Dieses Zugeständnis an Tito beschleunigte den Gärungsprozeß in den Parteien Polens und Ungarns.

Gomulka, ein tief überzeugter Kommunist, ist der bessere Leninist. Was ihm vorschwebt, ist genau das, was Lenin eigentlich bei der Gründung der kommunistischen Internationale wollte. Gleichberechtigte Parteien, die jede für sich, den Verhältnissen ihres Landes angepaßt, die soziale Revolution anstreben, während das Gemeinsame durch eine Diskussion gleichberechtigter Partner beschlossen wird. Gleichheit aller kommunistischen Parteien ist seine Parole. Seine und seiner Genossen Stärke ist, daß sich der Kommunismus in Polen als viel stärker erwiesen hat, als man allgemein angenommen hat. Das neue polnische Politbüro konnte Moskau gegenüber als seines Hinterlandes sicherer Machtfaktor auftreten. Und Moskau gab nach. Moskau wird — bei der Bedeutung, die Polen für Rußland hat — den Polen sehr weit entgegenkommen. Doch auch die Warschauer Machthaber werden den Bogen nicht überspannen. Sie wissen ganz genau, daß sie schließlich die Unterstützung der großen Sowjetunion dringend brauchen. In allen diesen Phasen ist der Kreml in vielem innerpolitisch gehemmt. Die Entstalinisierung geht nicht so recht vorwärts. Wohl waren die Delegierten des 20. Parteikongreise nach der berühmten Rede Chruschtschows erschüttert. Nicht abei $s russische Volk. Es wird berichtet, daß die Stalin-Bilder beinahe in allen Priv&twohnungen noch hängen. Noch schlimmer für die Männer im Kreml ist. daß auch der ganze mittlere und untere bürokratische Apparat nicht viel für die Entstalinisierung übrig hat. Das hieße doch: eigene Initiative entfalten, noch schlimmer — Verantwortung übernehmen^ Stalins Stärke bestand vor allem auch darin, daß er der breiten Schicht der Bürokratie und der Funktionäre jene Atmosphäre geschaffen hat, wie sie seit Jahrhunderten in Rußland geherrscht hat. Mit einem Wort: bis jetzt hat die Entstalinisierung innerpolitisch noch keine irgendwie greifbaren Resultate gezeitigt.

Anders ist es mit der sowjetischen Außenpolitik. Hier ist die allgemeine Volksmeinung: „Wir haben Land und Leute genug! Wir brauchen nicht noch mehr!“ Man könnte durch die Volksrepubliken — Gott behüte — noch in einen völlig unnützen Krieg hineingeraten. Für die Weltrevolution hat der Russe, auch das kleine kommunistische Parteimitglied, nichts übrig. Ei ist auf jeden Fall nicht bereit, für eine solche Revolution Opfer zu bringen. Das ist es eben! In der letzten Zeit hat sich gegenüber den Volksdemokratien eine sehr weitgehende Mißstimmung verbreitet. Glaubt der einzelne Bürger in den Volksrepubliken, daß sein Land von den Russen ausgesogen wird, so glaubt umgekehrt der einzelne Russe, daß diese Volksdemokratien ihm auf der Tasche liegen. Dieser Glaube ist auch durchaus verständlich. In' seinen Zeitungen liest er es nicht anders ... ,„ *

Diese Einstellung begegnet sich mit der schon seit langem bestehenden Kritik innerhalb bestimmter Kreise der Pärteiintelligertz.' Schließlich kann man Karl Marx und Lenin lesen, und dann ist es doch offenkundig, daß die Sowjetpolitik in Osteuropa nicht den Lehren der Urväter des Korhhiunismus entspricht.

Lenin hat wiederholt erklärt,'daß jedes Volk seine eigene Revolution aus sich selbst heraus machen muß. Die Schaffung der Volksdemokratien, mit Ausnahme Chinas oder Jugoslawiens, war für diese Kritiker keine Revolution der Arbeiterklasse, sondern die Folge der direkten Einflußnahme der siegreichen Sowjetunion als Staat. Also das, was die bolschewistischen Theoretiker manchmal zu Lenins Zeiten eine „bona-partistische“ Entwicklung der Weltrevolution nannten. Die Völker würden — so meint man heute — die Grundsätze der kommunistischen

Revolution, die ihnen die Bajonette eines frem-- den Staates gebracht haben, als eine nationale ! Unterdrückung empfinden, die sie früher oder später abzuschütteln versuchen werden. Die Moskauer Satellitenpolitik führe dazu, daß man, , staatlich gesehen, unzuverlässige, ziemlich wertlose Bundesgenossen besitze, weltrevolutionär , werde der kommunistische Gedanke diskreditiert. Zu Zeiten Stalins wagte niemand, so , etwas zu publizieren. Nur der ehemalige Volkskommissar des Aeußeren, Litwinow, erklärte knapp vor seinem Tode jedem, der es hören wollte, unerschrocken: ,,Stalin sucht die Sicherheit der Sowjetunion mit veralteten Gedanken und Methoden, mit den Methoden des 19. Jahr-, hunderts, zu erreichen.“

Es besteht übrigens kein Zweifel, daß man im Kreml nach dem 20. Parteikongreß an eine Revision der ganzen Satellitenpolitik schreiten v/öllte. Doch man glaubte Zeit zu haben. Ebenso wie man immer nur vorsichtig und relativ langsam sich umstellt, ebenso wollte man stetig und langsam das Satellitenreich, ja die ganze kommunistische Welt umorganisieren. Man wollte in Moskau die leitenden Fäden noch in der Hand behalten, um in dieser langsamen Neugestaltung möglichst das allein entscheidende Wort zu sprechen.

Die Ereignisse haben sich jedoch nicht an die Wünsche gehalten. Sie drohen über den Kopf der Moskauer Zentrale ihren elementaren Weg zu gehen. Wenn auch nach der Moskauer Ansicht, wie es zweifellos aus der Publizistik ersichtlich ist, der Nordatlantikpakt im Absterben ist, so bleibt für den Kreml der Warschauer Pakt doch von Wichtigkeit, ein nützliches diplomatisches Kompensationsobjekt, das nicht aufgelöst werden kann, bevor die europäischen Fragen geregelt sind. Doch es ist zweifellos so, daß die heutigen Machthaber im Kreml unter doppeltem Stimmungsdruck stehen. Auf der einen Seite die Widerstände gegen die Entstalinisierung und die Unlust, geistig neue, schöpferische Wege zu beschreiten, auf der anderen Seite der tiefgehende Wunsch nach Frieden, einer risikolosen Außenpolitik, jener Stimmung also, welche die eigene Koexistenzpropaganda geweckt hatl Die Widersprüche im russischen Leben selbst machen es unmöglich, eine feste Generallinie der sowjetischen Außenpolitik zu bestimmen. Theoretisch wäre die einzige Lösung die offene Rückkehr zur wirklichen Demokratie, die Aufgabe des Einparteisystems. Doch, wie alle russischen Regierungen seit urdenklichen Zeiten, hat auch die heutige Angst vor einem Dammbruch, vor einem Chaos, heraufbeschworen von den in Bewegung kommenden Massen. Diese Angst vor den unberechenbaren russischen Massen hat in der ganzen Geschichte dazu geführt, daß längst als notwendig erkannte Reformen ein halbes, ja ein ganzes Jahrhundert warten mußten, bis alles in die große Revolution mündete.

Diesmal ist dabei das ganze Satellitenreich ins Rutschen gekommen. Man läßt dem Kreml keine Zeit, alles neu zu organisieren. Mit der Sowjetunion im Zentrum bildet heute die kommunistische Staatenwelt ein widerspruchsvolles Bild. Die Sowjetunion hat heute praktisch drei kommunistische Bundesgenossen — China, Polen und Jugoslawien —, die selbständig geworden sind. Die Gleichberechtigung erreicht haben, die selbständige Theorien aufstellen.

Und fünf Satelliten: Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Albanien und das wieder unterworfene LIngarn. So kann es nicht bleiben. Behält die Sowjetunion den heutigen Zustand bei, dann ist eine fortschreitende Entfremdung Polens und Jugoslawiens unvermeidlich. Versucht Moskau, etwa Polen gewaltsam wieder zu unterwerfen, dann droht das Mißtrauen Chinas und die Entfremdung Titos. So bleibt der So-v/ietunion nichts anderes übrig, als auf dem von Tito und Gomulka vorgezeichneten Wege fortzuschreiten und eine weitgehende Umorganisation des Wvltkommünismus vorzunehmen. Ein Bündnissystem unabhängiger und gleichberechtigter kommunistischer Staaten und Parteien, wie sie sich einst Lenin mit seiner Internationale vorgestellt hat, die aber in dieser Art nie Wirklichkeit wurde.

Darin liegt auch eine leise Hoffnung für Ungarn. Früher oder später wird Moskau dieses Ungarn freigeben müssen. Heute denkt man es sich so, daß die russischen Truppen zurückgezogen werden können, wenn eine kommunistische Regierung, sei sie auch der nationalen Richtung, fest im Sattel sitzt.

Nach dieser Richtung drängen auch, einschließlich der Kommunisten, die russischen Massen, die nichts für eine Weltrevolution opfern wollen.

Doch vorläufig, noch ganz verschwommen, noch nebelhaft, zeichnen sich in Moskau neue Theorien ab, welche die Tendenz zeigen, den Weltrevolutionsgedanken ganz über Bord zu werfen und so aus dem verhexten Kreis .herauszukommen. Das sind die Andeutungen, daß man auch ohne Diktatur des Proletariats zum Sozialismus gelangen könne. Also schon keine Rückkehr zu Lenin mehr, sondern eine Revision des Leninismus. Anastas Mikojan hat diesen, für die Sowjets neuen Gedanken in Peking noch am klarsten formuliert, als er behauptete, asiatische Staaten wie Indien könnten durch die Entwicklung der Staatsindustrie nicht nur unter Vermeidung der Periode des Kapitalismus, sondern auch ohne Diktatur des Proletariats zum Sozialismus gelangen.

Geistig ist die Sowjetunion noch immer ein festgefrorenes Meer. Nur da und dort beginnt eine leichte Schmelze. Alles ist noch in der Zukunft...

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