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Djilas, Nagy, Bibo

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Welche Fülle von Emotionen, wieviel Mitleid, Achtung, Bewunderung umgab zu früheren Zeiten die Gestalt des Revolutionärs, der im Kerker seine Theorien entwickelt, seine Zukunftsträume gesponnen, der Welt neue Aspekte des Fortschritts und des Glücks eröffnet hatte! Und wie oft wurden die Hoffenden enttäuscht, die Leichtgläubigen betrogen und Länder und Völker, wenn nicht die ganze Welt ins Unglück gestürzt, kaum daß sich die Gefängnistore öffneten! Bei den Autoren der vorliegenden drei Schriften verhält es sich in vielem anders. Ihre Werke sind keine Zukunftsvisionen, sie geben keine revolutionären Programme. Sie selbst wollten keinen Aufstand der Massen, sondern sie hofften und hoffen auf den Sieg der Vernunft und der Moral. Sie sitzen hinter Gefängnismauern und sprechen zu uns. weil das freie Wort und die Verständigung über Gefängnismauern hinweg ihre letzte Hoffnung ist. Sie werben nicht um Gefolgschaft, um graue Kolonnen, sie möchten bloß gehört werden. S i e wissen um die Kraft des Wortes.

Dabei war der erste von ihnen, dessen Name heute in aller Munde ist, Milovan Djilas, bereits von Jugend auf ein Revolutionär Schon in seiner Studentenzeit verbanden ihn enge Fäden mit dem revolutionären Sozialismus. Er kämpfte an der Seite seines Freundes Josip Broz-Tito für ein kommunistisches Jugoslawien. Zahlreiche Anekdoten über ihn sprechen dafür, daß er einer der volkstümlichsten Partisanenführer war. Auch als Politiker behielt er seine geradlinige, offene Art, auf die er Feind und Freund behandelte. Er sei zugleich grob und charmant und kenne keine Logik, klagten seine Freunde, die seinen Amoklauf durch die sich immer mehr erstarrende jugoslawische Parteihierarchie mit wachsender Sorge betrachteten. Das bisherige Schicksal des unerschrockenen, heute 46jährigen Montenegriners hat ihnen recht gegeben.

„Die neue Klasse”

Sein im Laufe dieses Jahres in New York bei Frederick A. Praeger erschienenes und sehr bald zum Weltruhm gelangtes Buch „The new Class” („Die neue Klasse”) hat eine reiche Vorgeschichte. „Ich habe”, schrieb Djilas irgendwo, „in meinem Leben die ganze Straße begangen, die einem Kommunisten offensteht, von der niedrigsten bi zur höchsten Stufe der Hierarchie.” Das sah zuletzt so aus: er war Vizepräsident der Regierung, Präsident des Parlaments, Mitglied des Politbüros und des Parteisekretariats. Auf der anderen Seite: er kehrte seinem kommunistischen Glauben den Rücken. Er schrieb und sprach davon. Verurteilt und eingekerkert ließ er sein vor kurzem erst beendetes Buch im Ausland veröffentlichen. Er wurde, zuletzt vor wenigen Tagen, wegen „Verleumdung und feindseliger Propaganda” zu einer Gefängnistrafe von sieben Jahren verurteilt. Das Gericht entzog ihm alle Orden und Auszeichnungen, die ihm früher verliehen worden waren. Mit dem Rest seiner früheren Strafe hat Djilas jetzt neun Jahre Kerkerhaft vor sich.

Die Ernüchterung des Kommunisten Milovan Djilas erfolgt nicht über Nacht, sie war nicht eine Folge des 20. Moskauer Parteikongresses im Februar des Vorjahres oder etwa der darauffolgenden polnischen und ungarischen Ereignisse. Bereits nach dem Bruch zwischen dem Kominform und Jugoslawien im Jahre 1948 begann Djilas zuerst die „Außenpolitik” der Sowjetunion zu kritisieren. Er und seine Freunde weigerten sich damals, in ihrer Kritik weiter zu gehen. Dies änderte sich unter dem Eindruck der Schauprozesse in den Volksdemokratien, in denen die jugoslawischen Führer als . Banditen und Spione entlarvt” wurden. In der Kritik ging nun Djilas am weitesten Er fand, daß die Hauptursache der stets zunehmenden Bürokratisierung in den Ländern des „Sozialismus” die Kommunistische Partei selbst sei. Er verblieb bei seiner These auch dann, als sein Chef Tito allmählich den Rückzug antrat. 1953, also bereits nach dem Tode Stalins, forderte er in seiner Broschüre „Der Anfang vom Ende und vom Anfang” den Verzicht der Kommunisten auf unumschränkte Macht. Später forderte er noch besonders Gedanken- und Redefreiheit. den Abbau der Parteidisziplin und anderes mehr. Im Jänner 1954 wurde er seiner Parteiämter entkleidet. Nachdem sein vorliegendes Werk bereits fertig war, kündigte er unter dem Eindruck des Aufstandes von Budapest in der amerikanischen Zeitschrift „New Leader den „Anfang vom Ende des Kommunismus an, und er sprach von einem neuen Kapitel in der Menschheitsgeschichte. Hierauf wurde er - im Dezember des Vorjahres - verhaftet.

Sein Buch „Die neue Klasse” ist eine einige Anklageschrift gegen den Kommunismus gleich welcher Prägung.Von sich selbst sagt er folgen dermaßen aus: „Indem ich mich von der Realität des Kommunismus entfernte, näherte ich mich der Idee des demokratischen Sozialismus.” Das Buch „Die neue Klasse” ist zur Spitze getriebener Revisionismus, denn sein Autor behauptet nichts Geringeres, als daß die Kommunisten nach der Machtübernahme sich in eine Eigentümer- und Ausbeuterklasse verwandelten, nachdem sie erst die „Expropriateure” enteignet hatten. Wirkliche Macht sei erst im Kollektivismus möglich. Die neue Klasse übertreffe an Machthunger und wirk-

licher Macht alles, was früher miteinander rivalisierende Eigentümergruppen aufbringen konnten. Die neue Ausbeuterklasse berufe sich auf ihr „hohes Ziel”, das die Methoden rechtfertige. Aber die Methoden seien, und zwar in zunehmendem Maße, derart brutal, daß es kein moralisches Prinzip und kein hohes Ziel geben könne, das die Anwendung dieser Mittel entschuldigen könne. Und schließlich: „Wenn man das Ziel bemühen muß, um die Mittel, durch die es erreicht werden soll, zu rechtfertigen, dann muß dieses Ziel selbst falsch sein.”

Hier irrte Djilas

Djilas war der Meinung, als er sein Buch schrieb, daß der letzte Akt, die innere Verzweiflung und Zersetzung der neuen Klasse, noch in weiter Ferne liege. Er glaubte an eine Stabilisierung mit gleichzeitiger Entideologi- sierung der einzelnen kommunistischen Systeme nach dem 20. Parteikongreß. Er sah die Krise, die das Jahr 1956 für das östliche Machtsystem brachte, keineswegs voraus. Er verkannte auch den grundlegenden Unterschied zwischen Jugoslawien und den übrigen osteuropäischen Randstaaten, die zwar alle auf irgendeine Weise schon damals dem Beispiel Titos nacheiferten, dabei aber zu den verschiedensten, auch historisch, soziologisch und völkerpsychologisch bedingten Teilergebnissen gelangten. Budapest und Prag, Posen, Warschau und Bukarest sind nicht mit Belgrad gleichzusetzen. Ein Djilas-Prozeß in Warschau wäre heute bereits undenkbar!

Den schwersten Fehler begeht Djilas überhaupt, als er in seiner berserkerhaften Hast, die „neue Klasse” ihrer schändlichen Rolle zu überführen, auf die Menschen, die Massen, die von dieser Klasse beherrscht werden, vergißt. Er vergißt auch darauf, daß auch er schließlich Angehöriger der „neuen Klasse” ist und mithin nicht über alle anderen Angehörigen dieser Klasse gleich urteilen darf. Er beachtet die tiefgehenden historischen, religiösen, soziologischen Lebensbedingungen und Lebensumstände und somit die Unterschiede unter den Völkern Mittelost- und Osteuropas nicht, er spricht auch nicht von den Problemen, die durch die Begegnung des östlichen mit dem westlichen Wirtschaftssystem entstehen, oder er spricht von ihnen nur ganz schematisch — um von anderen, geistigen Impulsen ganz zu schweigen, Djilas gilt unter seinen Freunden auch als Dichter, und seine Worte erinnern manchmal an Köstler und wieder manchmal an Orwell. Das spricht freilich nicht gegen ihn, aber einigermaßen gegen die praktische Verwendbarkeit seiner Thesen. Er ist von seinem Thema wie besessen und hat kein Auge für die umliegende ganze Wirklichkeit. Sein Buch schließt er mit einem Blick in die „Welt von heute”, von der er summarisch bloß sagt, sie entwickele sich zu einer Einheit, was ihr wesentlichster Zug sei. Und die Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Produktion der ganzen Welt werde hauptsächlich nur durch den Kommunismus verhindert…

Realismus und Wirklichkeit

Das Schicksal des ehemaligen Ministerpräsidenten Ungarns, Imre Nagy — er bekleidete diesen Posten bisher zweimal —, ist schon dadurch bemerkenswert, weil in ihm sich das Schicksal seines Volkes in mannigfacher Weise spiegelt. Dies wäre nicht der Fall, wenn nicht auch die Eigenschaften seines Charakters und seiner Politik bereits historisch gewordene Erscheinungsformen des ungarischen Charakters in manchen Zügen widerspiegelten. Es ist keine Kleinigkeit, das von einem Kommunistenführer sagen zu können — und schon daraus sieht man, wie einmalig und unwiederholbar die historische Rolle dieses Mannes war. Imre Nagy schrieb ein Jahr vor dem Oktoberaufstand von Budapest sein Elaborat „Zur Verteidigung des ungarischen Volkes”, um lediglich seine Politik nach seiner Entlassung als Ministerpräsident im Frühjahr 1955 vor dem Zentralkomitee der Partei zu rechtfertigen. Es kam nie zu dieser Rechtfertigung, denn die Ereignisse überstürzten sich, und das schmale Schriftstück kursierte bloß eine Zeitlang in Arbeiterkreisen, um schließlich in einigen Kopien ins Ausland zu gelangen.

Was sagt Imre Nagy dem Leser aus der Entfernung von zwei Jahren, während er heute, man weiß nicht wo, konfiniert ist? Vor allem bekräftigt er feierlich, nachdem er die Fehler und Verbrechen des ihm vorangegangenen und im Frühjahr 1955 ihn ablösenden Rakosi- Regimes brandmarkt, die Grundtendenzen einer ungarischen Volkspolitik. Er zählt fünf Punkte einer Souveränität auf, die er strikte zu befolgen damals und bekanntlich auch während der fieberhaften Tage der Revolution sich anschickte. Er schildert den Verlauf von Konferenzen, die im Kreml in Sachen Ungarns 1953 zwischen den- sowjetischen und ungarischen Führern stattfanden, und in deren Verlauf besonders Chruschtschow. Malenkow und Molotow sich mit scharfen Worten von Mätyas Räkosi distanzierten. Allein diese Stellen, die interessante Einblicke in die politische Technik der Kremlführer gewähren, würden eine Veröffentlichung der Schrift Nagys in einer westlichenSprache empfehlen. Die politischen Hauptthesen Nagys sind: Befolgung der Moralgesetze in der Politik, freie Föderation der Donauvölker, so wie dies Lajos Kossuth in der Emigration vorschwebte, Neutralität durch friedliche Koexistenz mit allen Völkern.

Die ungarische Unabhängigkeit im Rahmen einer „Donauföderation” ist schon seit langem ein immer wiederkehrender Traum der guten Geister, die auf diesem Platz Europas den Einzug friedlicher Verhältnisse herbeiwünschen. Diese Schwerpunktbildung war bisher noch immer durch die umliegenden Großmächte verhindert oder durch unglückselige nationale Rivalitäten schon im Keime erstickt worden. Bis jetzt deutet nichts darauf hin, daß es Imre Nagy gelingen würde, seine Konzeption unter der Aegide eines friedlichen demokratischen Sozialismus bei der heutigen Weltlage zu verwirklichen.

Istvän Bibös dritter Weg

Denselben Vorwurf, den des (bei einem im Gefängnis sitzenden Politiker durchaus verständlichen) Utopismus, kann man, wie Imre Nagy, auch dem ungarischen Professor Istvän B i b 6 nicht ersparen. Er ließ einen „Vorschlag zur Lösung der Ungarnfrage” nach dem Westen, nach Wien, schmuggeln und hier veröffentlichen. Istvän Bib6 war Staatsminister der Regierung Imre Nagys während der Revolution, wurde später verhaftet, sein Schicksal ist heute unbekannt. Er war nie Kommunist, sondern gehörte der linksgerichteten Nationalen Bauernpartei an, in deren Führerschaft er sich nach Kriegsende mit einigen der bedeutendsten Schriftstellern und Soziologen Ungarns teilte. Mit seinen publizistischen Arbeiten zielte er damals auf eine „Flurbereinigung” zwischen der Sowjetunion und Ungarn ab; er wollte, ähnlich wie damals der Historiker Julius Szekfii, daß Ungarn in seiner neuen, bedrängten Lage den Gesetzen des politischen Realismus folge und nicht durch Provozierung der Sowjetmacht einer endgültigen Katastrophe den Weg ebne. Nichts anderes wünscht heute Professor Bibo in dem vorliegenden Dokument, das am 8. September dieses Jahres in der Wiener Tageszeitung „Die Presse” abgedruckt wurde. Aber es gibt dabei einen Unterschied: heute stellt er seine Gedanken der Weltöffentlichkeit zur Diskussion. Gibt es genug gewissenhafte Politiker in verantwortlichen Stellungen, die sich mit den Vorschlägen des ungarischen Professors beschäftigen? Wir wünschen ihm und uns, daß es viele solche Politiker gäbe!

Professor Bibo schlägt vor: Nach Abzug der Sowjettruppen Wahlen in Ungarn nach polnischem Muster, wirtschaftlich enge Zusammenarbeit mit dem Sowjetblock, militärisch die Neutralität. Als Kompensation solle der Sowjetunion die Neutralisierung eines der skandinavischen Staaten einschließlich Island vorgeschlagen werden. Mit diesen seinen Vorschlägen erweist sich Istvän Bibo als der Verfechter eines „dritten Weges”, der Vermittlung zwischen den beiden Machtblöcken, als Freund des Kompromisses und des ost-westlichen Dialogs.

Einleitend spricht er von dem „Skandal des Westens”, der die gegenwärtige Lage Ungarns weitgehend mitverschuldet hat. Die kommunistische falsche Volksfrontpolitik bewies neuerlich, daß das friedliche Nebeneinanderleben unter Partnern, die nicht an bestimmte gemeinsame moralische Grundprinzipien glauben, unmöglich ist. Den Westen trifft aber die Schuld, daß er in Ohnmacht verharrt und keine Anstrengungen macht, die Bedingungen zu einem dritten Weg zu schaffen.

Istvän Bibös dritter Weg müßte von Völkerrechtlern und nicht zuletzt auch von Volkswirtschaftlern — denn er bringt ein Gemisch zwischen freier und kollektivistischer Wirtschaft — sorgfältig geprüft werden. Von allen Kritikern des Bisher — von Togliatti und Kardelj zu Sartre — scheint er sich darin zu unterscheiden, daß er keine Theorien anbietet, sondern über praktische Lösungsformeln nachdenkt. Wahrscheinlich ist das, was er in seiner einsamen Zelle über das Schicksal seines Vaterlandes zu Papier gebracht hat, nur ein kleiner Beitrag zu einer Lösung, die letztlich auch über Sein oder Nichtsein unserer bisherigen menschlichen Welt mitentscheiden wird. Während diese Zeilen geschrieben werden, kreist der russische Erdsatellit mit einer Geschwindigkeit von 28.500 Stundenkilometer in 900 Kilometer Flöhe um unsere Erde. Gleichzeitig grübeln Männer hinter Gefängnismauern politischen Wahrheiten nach, und sie Werden dort festgehalten, weil andere wegen ihrer Gedanken Angst haben. Wo bleibt der Geist, der in diese Enge hineinleuchtet? Davon sprachen die drei Botschaften aus der Gefängniszelle nicht. Nicht gering ist die Veranwortung derjenigen, die frei sind, aber ihre Freiheit nicht nützen!

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