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Testfall Djilas

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Es hat viel Freude hervorgerufen, daß die jugoslawische Regierung Milo- van Djilas aus dem Gefängnis entlassen hat. Er war dort vier Jahre und vier Wochen eingesperrt und ist zu insgesamt neun Jahren verurteilt gewesen. Wenn es einen Nobelpreis für politische Zivilcourage gäbe, Djilas verdiente ihn.

Er hat die zweithöchste Stelle im Staate, alte Freunde und Kameraden in dessen Führung, gesellschaftliche und materielle Benefizien aufgegeben und bittere Armut und Verfemung auf sich genommen, als er Ende 1953 in einer Reihe von Artikeln erklärte, daß die monopolistische Stellung des „Bundes der Kommunisten“ das

Haupthindernis für die Entwicklung des Landes und der Demokratie sei. Ein Jahr später forderte Djilas in einem Interview mit einem Ausländskorrespondenten die Schaffung einer zweiten Partei. Darnach wurde er wegen staatsfeindlicher Tätigkeit vor Gericht gestellt. Djilas wurde zu 18 Monaten Gefängnis, bedingt mit dreijähriger Bewährungsfrist, verurteilt. Nach dem ungarischen Aufstand sprach er sich in einer amerikanischen Zeitschrift (in Jugoslawien stand ihm keine Zeitung mehr offen) scharf gegen die bewaffnete russische Intervention in Ungarn sowie dagegen aus, daß sich Jugoslawien bei deren Behandlung in der UNO seiner Stimme enthalten habe. Diesmal wurde Djilas zu weiteren zwei Jahren verurteilt, die er zusammen mit der bedingten Strafe ab zusitzen hatte. Während er das tat, wurde seine Strafe wegen Veröffentlichungen von im Gefängnis verfaßten und ins Ausland geschmuggelten Manuskripten immer wieder erhöht — bis auf neun Jahre. Insbesondere erweckte sein Buch „Die neue Klasse“ das größte Aufsehen, weil es die umfassendste, durchdringendste und vernichtendste theoretische Verurteilung des Parteikommunismus darstellt, die bisher verfaßt worden ist.

Freilich war Djilas vielleicht mit Voraussetzungen „belastet", die sich allerdings erst auszuwirken begannen, nachdem er über all die bewegten Zeiten, welche ein jugoslawischer Kommunist von 1930 bis 1948 erlebt hatte, zum Nachdenken gekommen war.

Die Schuld an Dostojewski)

Auf eine der Voraussetzungen für Djilas „Anfälligkeit" weist eine Stelle in seinem (gleichfalls im Gefängnis von Sremska Mitrovica verfaßten) schönen, selbstbiographischen Buch „Land ohne Recht“ hervor. Bei der Schilderung seines Gymnasial-Reli- gionslehrers, des orthodoxen Archi- diakons Bojovic, schreibt Djilas:

„Es gab fast niemanden unter uns, der nicht an die Existenz einer übergeordneten Macht oder eines Gesetzes, das alle Dinge regiert, geglaubt hätte … Was uns am wichtigsten erschien, das waren die Beweise für die Existenz dieser Macht, und nach ihnen suchten wir überall. Der Archidiakon Bojovic wunderte sich nicht einmal, wenn wir ihn nach Beweisen für die Existenz Gottes fragten. Er hielt das offenbar für ganz natürlich bei jungen Leuten. Seine Beweise glichen im wesentlichen denen von Dostojewskij. Ein Beweis für die Existenz Gottes ist zum Beispiel die Barmherzigkeit, die unbedingt in jedem Menschen wohnt. Dieses Argument war zwar recht anfechtbar, aber überwältigend für denjenigen, der glauben wollte. Der Mensch selbst Fühlt, was er. tun und was er nicht tun. darf. In. ihm wirkt ein moralisches Gesetz. Das ist Gott. Der Gottesbeweis muß zuerst im Menschen und in seinen ethischen Kategorien gesucht werden …. Der Archidiakon Bojovic führte niemals ein Wunder als Gottesbeweis an. Er sagte, die Menschen trügen den Glauben schon in sich, auch ohne Gottesdienst. Dieser sei nur nötig, um die Menschen an die ihnen innewohnenden Verpflichtungen zu erinnern. Die Erklärungen des Priesters stimmten ganz mit dem jugendlichen Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Barmherzigkeit überein. Sicher hat er uns nicht direkt in Richtung auf den Kommu-

Der zitierte König

Einen weiteren Hinweis gibt Djilas, wenn er im gleichen Buch „Land ohne Recht“ schreibt: „Weder irgendeinfe marxistische Literatur noch eine kommunistische Organisation haben mir den Weg zum Kommunismus gewiesen. Weder das eine noch das andere existierte in der rückständigen und primitiven Umgebung von Berane (der kleinen montenegrinischen Stadt, in der er seine Gymnasialzeit verbrachte). Es war vor allem die Literatur der Klassiker und Humanisten, die mich für den Kommunismus reif machte.“

Gerade die Beziehung zu einem dieser Humanisten bildet den Ursprung zu einer köstlichen Begebenheit, als Djilas im Jahre 1933 zum erstenmal vor Gericht, allerdings noch wegen kommunistischer Betätigung auf der Belgrader Universität, stand. In seiner Verteidigungsrede zitierte er Stellen aus dem berühmten „Traktat über die Freiheit" von John Stuart Mill, darunter die folgende:

„Nehmen wir an, daß es ein Despot wirklich unternähme, sein Volk zu erziehen — bekanntlich entschuldigen alle Despoten damit ihre Despotie. Doch jegliche Erziehung, die darauf ausgeht, aus den Menschen etwas anderes als Automaten zu machen, verursacht die Menschen schließlich, ihre Handlungen selber bestimmen zu wollen.“

„Treatise on Liberty“ vor und verwies ihn auf den Namen des Übersetzers. Dieser lautete: Petar Kara- georgevic. Es war Serbiens alter König Peter, der, ehe er selber König und Vater eines Diktators wurde, als Exilierter und Student in der Schweiz das Werk des Engländers übersetzt hatte.

Damals hatte Djilas noch daran geglaubt, daß der Kommunismus „der Humanismus unserer Epoche“ wäre. Für diesen Glauben steckte er bei jenem Gericht drei Jahre Gefängnis ein, die er (ebenfalls in Sremska Mitrovica) abzusitzen gehabt hatte. Nachdem er als zweithöchster Staatsfunktionär des kommunistischen Jugoslawiens zu einer anderen Überzeugung gelangt war, nahm er, sie zu manifestieren, das dreifache Strafausmaß auf sich.

Es ist somit kaum anzunehmen, daß irgendeiner der beiden Beteiligten bei Djilas Freilassung etwas vergeben oder vergessen hat. Weder kann das Regime ihm vergeben noch kann er selbst vergessen, daß er sich so nachdrücklich und allgemein vernehmbar von ihm getrennt hat.

Beim ersten Konflikt hatte ihn ein österreichischer Sozialist, der seither verstorbene Benedikt K a u t s k y, „den Ketzer des Ketzers“ (Tito) genannt. Doch ein Ketzer verneint immer nur einen Teil des Systems, zu dem er sich ursprünglich bekannt hat, und akzeptiert immer noch den übriggebliebenen Teil. Tito und die übrigen Nationalkommunisten leugneten lediglich die Vorrangstellung des russischen Kommunismus, nehmen aber zu Hause die gleiche monopolistische Stellung für ihre Partei in Anspruch. Djilas hat sich von jedem Ausschließlichkeitsanspruch weit entfernt. In seiner „Neuen Klasse“ schreibt er:

„Das Streben nach dieser Vereinigung (der Weltproduktion) führt in Wirklichkeit zu einer größeren Vielfalt und gleichzeitig zu einer harmonischeren Koordinierung sowie zu besserem Gebrauch des Produktionspotentials der Welt… Es ist ein Glück, daß nicht ein einziges System in der Welt vorherrscht. Im Gegenteil, das Un-

nismus beeinflußt. Es war so, daß ex in uns große Gedanken und Gefühle um Gerechtigkeit und Gnade erweckte, die besonders mich zum Kommunismus führten. Natürlich wirkten dabei auch andere Faktoren, wie die mich umgebende Wirklichkeit … Aber der Wunsch nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Güte führte zu dem Entschluß, eine Welt zu schaffen, in der diese Dinge Wirklichkeit sein würden. Später, als ich schon Kommunist war, hatte ich immer das Gefühl einer unbeglichenen Schuld an Dostojewskij und an dem Archidiakon Bokovic, das ich nicht einmal mir selber einzugestehen wagte. …“

glück ist, daß es zuwenig verschiedenartige Systeme gibt. Immer größere Unterschiede zwischen den einzelnen sozialen Gemeinschaften, wischen den Staatsformen und den politischen Systemen und immer größere Kraftentfaltung der Produktion bilden eihes der Gesetze, die in der Gesellschaft wirksam sind … Die künftige Welt vvird wahrscheinlich mannigfaltiger und als solche vereinter sein. Die Vereinigung, die ihr bestimmt ist, wird ‘ durch Mannigfaltigkeit möglich gemacht werden, nicht durch die Gleichmacherei der Formen und Persönlichkeiten …"

Warum wurde er freigelassen?

So will uns dünken, daß Djilas seine Freilassung vielleicht in gleichem Maße wie seine Einkerkerung eher politischen Umständen und Ursachen verdankt, die freilich nicht von seiner persönlichen Rolle zu trennen sind.

Man entschloß sich, ihn (trotz alter Freundschaften, trotz seiner Prominenz und der internationalen Auswirkungen) einzusperren, als das kommu-

nistische System in Jugoslawien (nicht viel weniger als die anderen) unter der schweren Schockwirkung des ungarischen Aufstandes und dessen Niederschlagung durch sowjetische Intervention stand. Diese Wirkung war sowohl extern an den jugoslawischen Staatsgrenzen in Zwischenfällen und Aufmärschen fühlbar als auch intern hei der Bevölkerung. Djilas’ Auftreten konnte in diesem und in späteren Augenblicken gefährliche Weiterungen verursachen.

Umgekehrt ist der Fall Djilas vom Augenblick seiner Einkerkerung an zu einem ‘Testfall des jugoslawischen Regimes in seinen auswärtigen Beziehungen geworden. Wie weit in seinen innerstaatlichen, fühle ich mich zu beurteilen nicht berufen. Allen jugoslawischen Beteuerungen, einen eigenen Mittelweg zwischen Ost und West zu suchen, und der Versicherung, Verantwortung für das Gleichgewicht der Welt, ihrer Zivilisation, ihren moralischen Standard mittragen zu wollen, stand der Fall Djilas als schwerer, ewiger Vorwurf hinderlich im Wege. Infolge des politischen und ideologischen Charakters seines Regimes weist Jugoslawien sowieso immer eine viel stärkere Ost- als Westneigung auf. Gerade deshalb ist Jugoslawien bemüht, sich niemals ganz vom Westen zu isolieren und seine Art von Doppelkurs aufrechtzuerhalten. Und die Freilassung Djilas’ war eine solche Maßnahme, obwohl mancher seiner alten Kameraden sicherlich auch so schon genug Gewissensbisse gehabt haben mochte.

Aus ersterem Grund sind keine Schlußfolgerungen in bezug auf die jugoslawische Innenpolitik aus der Freilassung Djilas’ zu ziehen. Dennoch haben auch Gesten in der Politik es in sich, Grundwellen hervorzurufen, und es ist nun einmal eine seltsame Situation durch die Freilassung Djilas’

entstanden. Nicht, daß man irgendein Auftreten von ihm erwarten kann und soll. Es wäre ebenso wahnsinnig wie sinnlos und unmöglich. Der jugoslawische Staatssicherheitsdienst wird Djilas von jedem gefährlichen Kontakt mit der Bevölkerung isolieren. Aber er kann ihn nicht hindern, das Phänomen Djilas, die geistige Kapazität, mit allem, das sie symbolisiert, zu sein: für die ganze Welt eine lebende Leuchtboje der Sehnsucht der Menschen, aus der hoffnungslosen Geschlossenheit und Verklemmtheit der Systeme zu entkommen, den wahren Verhältnissen auf moralische Art zu entsprechen und durch Selbstverständigung zur Verständigung mit den anderen zu gelangen.

Die Welt schuldet Tito und seinen Leuten Dank für die Aufbrechung der stalinistischen Versteinerung, deren Zement die Legende von der kapitalistischen Verschwörung gegen die kommunistischen Länder, von der unter allen Umständen notwendigen Verschärfung des Klassenkampfes gewesen ist. Dieser Mann Djilas, trotz oder vielmehr wegen seiner Loslösung von einem fixierten System ehrlich bemüht, viel weiter zu gelangen, als dieses es ihm je ermöglichte — zu größerer Humanität und größerer Frei- heitlichkeit —, ist inmitten seines Landes, inmitten furchtbarster Feindseligkeit und Isolierung, seinen Gefährten weit vorangeschritten. Sie konnten sich, wie das auf dem April-Kongreß 1958 angenommene Parteiprogramm beweist, seinem noch au dem Gefängnis wirkenden Einfluß nicht entziehen. Für die westliche Welt ist Djilas weiterhin ein Testfall. Daß die Dinge auf der ganzen Welt weitergehen, wird sicherlich auch davon ab- hängen, wie sehr diesem Mann Djilas verstattet sein wird, sein starkes, feines Denken weiterhin in die Welt zu tragen.

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