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Ein Gespenst geht um in Osteuropa

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„Ein Gespenst geht um in Osteuropa“, so könnte man den berühmten Anfang des Kommunistischen Manifests zeitgemäß variieren, „der Revisionismus“. Es schreckt die aufgeklärtesten Materialisten und es spottet der Ungeistbeschwörer, die es bannen und ver-“ftBchenpAllein, obzwar sie alle,“ denen' det überwundene- idealistische dlaube fehlt, -die schlimme Bbt'schalflt oft genug vernommen haben, geraten w i r d draußen, jenseits der leninistischen Welt, in einige Verlegenheit, wollten wir definieren, was Revisionismus, wer ein Revisionist ist. Die beiden Siegelbewahrer des deutschen Bildungsschatzes, Brockhaus und Herder, sprechen, der eine von einer „den Marxismus kritisch behandelnden gemäßigten Richtung der deutschen Sozialdemokratie mit sozialreforma-torischen Zielen“, der andere, richtiger, grammatisch und dem Sinne nach klarer, allgemein als vom „Streben nach Aenderung eines politischen Zustands oder Programms durch Ueber-prüfung“ und im besonderen von einer „taktischen Neuorientierung des Marxismus (Evolution statt Revolution, aktive Mitarbeit am parlamentarischen Staat)“. Nach der heute im kommunistischen Bereich verpflichtenden Lesart ist der Revisionismus eine Richtung, die sich als Marxismus tarnt oder aus mangelnder, abirrender Einsicht sich für marxistisch hält, in Wahrheit jedoch (klein)bürgerlichen Vorstellungen huldigt, von der einzig wahren leninistischen Deutung des Marxismus abweicht und durch Verwirrung der Begriffe, falsche Taktik, unzulässige Querverbindungen mit dem Klassenfeind das sozialistische Lager spaltet, damit aber die Geschäfte der Ausbeuter bewußt oder unbewußt unterstützt.

Der außenstehende Beobachter nun könnte bei nüchterner Wertung des objektiven Sachverhalts etwa folgende Erklärung geben: „Revisionismus“ ist jede im Schöße der kommunistischen Parteien auftretende Richtung, die mit der im Kreml herrschenden und von dort aus anbefohlenen „Generallinie“ darum nicht übereinstimmt, weil diese als zu drückend, zu beschränkend, zu beschränkt empfunden wird. Im Gegensatz dazu heißen wir dann „Dogmatismus“ — die andere, freilich immer weniger in Moskau angeprangerte Häresie — jede Richtung, die mit der Generallinie darum nicht einverstanden ist, weil sie als zu liberal, zu entgegenkommend gegenüber den Nichtkommunisten abgelehnt wird.

„Dogmatiker“ machten und machen Chruschtschow viel zu schaffen; sie sind seine einzigen gefährlichen Gegner in der KPSS, der sowjetischen Partei, ob es sich um gestürzte, doch solange sie leben nie endgültig erledigte Größen handelt wie Molotow, Kaganowitsch, um scheinbar versöhnte Widersacher wie Zuslov. Sie zu entwaffnen, muß er jeden Verdacht eines Hinneigens zu Revisionisten entkräften. Denn diese Spielart des Kommunismus, die in den Satellitenstaaten und im Westen so verbreitet ist, hat in der Sowjetunion politisch nichts zu sagen, obzwar sie sehr viel zu sagen, zu singen und zu schreiben hat. Eine Koalition der „Voprosy Istorii“, der philosophischen und literarischen Zeitschriften, aller - Ehrenburg, Pa-ustovskij und Dudincev, ' besitzt Weniger wirkende Kraft, als die grollende Unzufriedenheit kleiner und mittlerer Apparatleute aus der Parteibürokratie, als die Stimme in den Kolchosen oder in den parteitreuen Führergremien der Armee und der Polizei. Der scheinbar allmächtige Ministerpräsident und Erste Sekretär ist also genötigt, die Parole auszugeben: „Der Feind steht...“ Da stutzen wir, sollen wir setzen „links“ oder „rechts“? Linker Hand und rechter Hand sind nämlich derzeit im Osten vertauschbar. Die Revisionisten behaupten links, auf der sozialistisch-revolutionären Ehrenseite, zu marschieren, und sie verweisen die Dogmatiker auf die abscheuliche rechte Flanke. Die Dogmatiker nennen sich, als authentische Erben Lenins und Stalins, Bannerträger der Linken, und sie verdammen den Revisionismus als Rechtstendenz, die hinüber zur Bourgeoisie lenkt. Wie dem auch sei: „Der Feind heißt Revisionismus.“

Für die Sowjetunion mag es dabei leicht sein Bewenden haben. Die Revisionisten sind dort klein und häßlich. Sie bekennen ihre Irrtümer, arbeiten schlecht zensurierte Werke um, denken vermutlich genau so wie zuvor, wagen jedoch nicht, Zeichen von Unbotmäßigkeit zu verraten. Anders verhält es sich jedoch mit den europäischen Satelliten, wo die Seuche des Revisionismus endemisch verbreitet ist und sich mit einem zweiten Uebel, dem Nationalismus, verbindet; eine schwere Bedrohung der, verzeihen Sie das harte Wort, geistigen Volksgesundheit und so nebenbei der politisch-militärischen Position des sowjetischen Oberherrn ... und jedes totalitären Cberherrn, dürfen wir hinzufügen. Wir müssen den stalinistischen und überhaupt den echtleninistischen Kritikern des Revisionismus zugestehen, daß sie in der Beurteilung dieser Richtung als eines Wegs eher vom als zu einem, sei es eigenhändigen Sozialismus nicht so unrecht haben. Konsequentes Weiterbeschreiten eines Pfades, der vom eigenen Urteil, vom eigenen Gewissen gewählt und der nicht diktiert, nicht vorgeschrieben ist, muß nicht nur weit fort von Stalin, sondern auch von Lenin und von Marx geleiten, wenigstens darin, daß auch die beiden Erzväter des Marxismus nicht als unfehlbar, nicht als ewig unwandelbar heilspendende Quelle der letzten und jeder Wahrheit gelten. Logischerweise müssen kommunistische Revisionisten dort enden, wohin die Köstler, Silone, Djilas, Milosz, Biebl. Meray schließlich gelangt sind: parteifrei im Westen, daheim im Kerker oder... im Jenseits. Bevor aber eine dieser drei Möglichkeiten oder noch eine vierte, die demütige äußerliche Unterwerfung des Abweichers, Wahrheit geworden sind, richtet sich gegen die verführerischen Verführten und Verführer der donnernde Ingrimm der berufenen Führer.

In Polen hat Gomulka die unbequem gewordenen Bahnbereiter seines Sieges vom Oktober 1956 auf die noch immer landesübliche mildere Weise abgeschüttelt, abgekanzelt und zum Schweigen, bestenfalls zu der von Kisielewski so treffend benannten „verabredeten Rede“, dem Sprechen oder Schreiben in Eingeweihten verständlichen konventionellen Phrasen, genötigt.

In Ungarn geht die Offensive wider die Revisionisten weit schärfer vor sich. Der grimmige Jözsef Revai ist wieder da, um als Zions-wächter der leninistischen ideologischen Reinheit zu wirken. Seine zwei hervorragendsten Opfer hat er insofern zur Strecke gebracht, als der eine, Geza Losonczy, als Mitangeklagter Imre Nagys in dessen Prozeß verwickelt und bereits im Kerker zu Tod gequält wurde (ob nur mittelbar oder unmittelbar, das steht nicht fest), während der andere, der weit über die Grenzen seines Landes und seiner Partei hinaus hochgeschätzte Literaturforscher und Kritiker György Lukäcs, wenigstens mundtot gemacht worden ist. Die glänzendsten Dichter und Schriftsteller Ungarns — und kaum in einem zweiten volksdemokratischen Staat hat das Regime so zahlreiche große literarische Begabungen eingefangen — sind als Revisionisten verfemt, eingesperrt oder ins Exil gejagt worden. Von den älteren, längst anerkannten Vertretern des bäuerlichen Schrifttums, wie Äron Tamäsi, Gyula Illyes angefangen zu den in der Emigration weilenden Stalin-Preisträger Tomas Aczel und Tibor Meray, zu Tibor Dery, Pal Szabö und Gyula Häy. Bemerkenswert ist, in Ungarn noch stärker als in Polen (Hochfeld, Slonimski, Wazyk, Tyrmand), der Anteil am Revisionismus, der einem Element zukommt, das als „ohne Zusammenhang mit den Massen“, „volksfremd“, „überintellektua-listisch“ bezeichnet wird.

In der Tschechoslowakei, wo ähnliche Klänge schon vor einem Lustrum, zur Zeit des Slänsky-Prozesses, laut vernommen wurden, sind sie heute verstummt Die wenigen Parteiwürdenträger jüdischer Abkunft, die sich auf Posten zweiten Grades behauptet haben, sind aller leninistischen, ja stalinistischen Ehren wert, und die schlimmen Revisionisten, deren sich — wie Novotny stolz auf dem jüngsten Prager Parteitag, dann in Moskau beteuern konnte — die kommunistischen : Führer schnell entledigten, sind höchst badenständig ... Soweit man das von Poeten und Gelehrten behaupten kann, die keinen festen Boden unter den Füßen haben und in ätherischen Sphären schweben. Zwar sind, im kritischsten Moment, die beiden am meisten den Schreibenden verhaßten Tyrannen des Geistesgebietes, Professor Stoll und Drda, etwas in den Hintergrund gezogen worden, doch der unentwegt verbliebene Herr über die Gesamtproduktion der Seeleningenieure, Minister Kopecky, hält seine Untergebenen jetzt wieder stramm in der Zucht. Das Frühlingserwachen der Käfia, Hrubin und Seifert, das im sehr tollen Jahr 1956 auch in der Tschechoslowakei Unruhe anzurichten schien, ist bald in Schlummer übergegangen. Sogar in der Slowakei, wo man am deutlichsten die polnischen und ungarischen Geistesrevolutionsdonner nachgrollen hörte, hat Bacilek den Revisionisten das Rückgrat gebrochen.

Aehnlich verhält es sich mit den anderen Volksdemokratien, Rumänien, Bulgarien, Albanien, wo überall die polnische und die madjarische Erhebung zunächst tiefen Eindruck gemacht hatten; freilich nur, wie in der Tschechoslowakei, bei der Intelligenz, zumal den Schriftstellern und den Studenten. Das Spiel ist — vorläufig — aus. Die von Moskau her kontrollierte Generallinie triumphiert. Ueberau, außer im widerspenstigen Jugoslawien. Doch da haben wir das Satyrspiel der Tragödie. Hier, wo Tito mitsamt seiner Schar getreuer Oligarchen uneingeschränkt die Macht ausübt und in seinem Laibacher Programm von Ende April 1958 Grundsätze verkündet hat,- die Moskau durch die beglaubigtesten Kritiker, Chruschtschow voran, als revisionistisch verdammt, die ferner in Peking als verbrecherische Ketzerei verurteilt werden, gibt es doch wieder etwas, das Revisionismrs geheißen werden dürfte, nämlich die streng verpönte und mit langjähriger Haft bestrafte, sich ihrerseits als den wahren Sozialismus, ja Kommunismus ansehende Lehre von Djilas.

Frucht des nie völlig zu unterdrückenden Geistes des Widerspruchs und der Nachprüfung überkommener Urteile und Vorurteile, löst der Revisionismus eben eine Kettenreaktion — oder eine Kettenrevolution — aus, die niemals ganz erlischt. Das totalitärste Regime ma“ den Revisionismus in Schach halten; ihn völlig matt zu setzen, ist es außerstande.

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