6671549-1961_01_04.jpg
Digital In Arbeit

Scheingefecht der Gladiatoren

Werbung
Werbung
Werbung

Seltsam antiquiert muten den, der, vom Ausland her und außerhalb der unmittelbaren Tagesstreitigkeiten stehend, das Ganze zu sehen versucht, die erstarrten Fronten der innerdeutschen Auseinandersetzung in jenem Teile des Landes an, der einer freien Auseinandersetzung überhaupt noch Raum gibt. Gewiß werden im nunmehr begonnenen Wahljahr die Parteien einander im Konkurrenzkampf begegnen müssen. Und es ist begreiflich, daß man für diese Auseinandersetzung nach scharfen, propagandistisch wirksamen Kontrasten suchen wird. Man wird nicht einmal allzu lange und allzu krampfhaft suchen müssen, besonders wenn man sich auf die konkreten innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen konzentriert. Die Kulturpolitik im fachlich umgrenzten Sinn ist ja in der Bundesrepublik Sache der Länder, und sie wird daher auch vor allem mit ländermäßig verschiedenen Akzenten auf die Wahlentscheidung einwirken. Die große, nach den letzten Meldungen über die wirtschaftspolitischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem deutsch-sowj etischen Handelsvertrag ins aktuelle Bewußtsein gerückte Frage ist aber, ob die dramatischen. Grundsatzfronten, die dem deutschen politischen Leben des letzten Jahrzehnts den Charakter gaben, überhaupt noch aufrechterhalten, ob sie gar in der Vorwahlzeit zu imponierenden Graben- und Festungssystemen ausgebaut werden können. Wir möchten dies ernsthaft bezweifeln. Wo sind die Tage, da das abendländisch-„karolin- gische" Konzept der ersten Männer um Adenauer gegen das national- „deutsche“ des Sozialdemokraten Schumacher ins Treffen geführt wurde? Wie verschollen muten heute die Kampftöne derer an, die unter den Fahnen „föderalistische Westeuropäi- sierung“ gegen „Wiedervereinigung um jeden Preis“, „Vatikan kontra Wittenberg“ gegeneinander zu Felde zogen … Aber was ist selbst aus dem „Kampf gegen den Atomtod“ oder dem Komitee „Rettet die Freiheit“ geworden? Die Lage scheint uns durch das Auftreten einer neuen, dritten Kraft charakterisiert zu sein, die neben, außerhalb und hinter den Parteien, aber auch in den Parteien selbst von Tag zu Tag wirksamer wird und die wahrscheinlich früher, als man heute glauben mag, die unversöhnlichen Kämpen von gestern in eine gemeinsame Abwehrfront zwingen wird.

Die „letzten“ Menschen

Nietzsche schreibt von ihnen im „Zarathustra“: „Wir haben das Glück erfunden — sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ Und weiter: „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren.“ — „Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt es den Magen.“

Diese „letzten Menschen“, die bloß als Produkt des volkswirtschaftlich durchaus rational erklärlichen „Wirtschaftswunders“ zu analysieren von dilettantischer Einseitigkeit zeugen würde, sind weit über den ökonomischen Rahmen der alten oder neuen Bourgeoisie hinaus zu einem Faktor der deutschen Politik geworden. Sie waren es, die im Hintergrund standen, als die zwar niemals fanatisch-doktri näre, aber in den Jahrzehnten ihres Bestehens immerhin grundsatztreue SPD auf ihrem jüngst vergangenen Parteitag nicht nur den Marxismus, sondern so gut wie alle Prinzipien der „Linken“ über Bord gehen ließ. Sie sind es aber auch, die seit Jahr und Tag in den mittleren Gremien der CDU sitzen und so gut wie jeden der europäischen oder christlich-sozial re- formerischen Königsgedanken korrumpiert, zur Phrase gemacht oder dem gehässigen Spott des politischen Amüsierpöbels preisgegeben haben. Sie haben — und das ist eines ihrer „Hauptverdienste" — den mit einiger Hoffnung begrüßten schwarzrotgoldenen Liberalismus, wie er sich noch in einem Heuss verkörperte, bis zur Unkenntlichkeit verwässert und verfälscht, so daß die FDP kaum noch ein Gesicht hat. Und sie haben es in jüngster Zeit zuwege gebracht, zwei durchaus respektable kleinere Visionen der deutschen Politik: den in der Deutschen Partei repräsentierten konservativ-bodenständigen Gedanken und die Idee einer politischen Zusammenfassung der Grenz- und Vertriebenen- deutschen im BHE, durch die rein taktische Verschmelzung dieser beiden Kräfte mit dem bewußten „Blinzeln“, von dem Nietzsche; spricht, ad absurdum zu führen. Aber mehr noch: Sie bilden die Mauern des Schweigens, hinter denen ja erst die KZ-Mörder und -Schinder jahrelang unbehelligt ihr friedliches Spießerdasein führen können, sie arrangieren die Pfeifkonzerte für „entartete Bühnenwerke“. Sie — und nicht die mit soviel Schauerromantik umkleidete Polizeiherrschaft von Bonn — üben das Meinungsdiktat aus, das die bereits wieder recht offen als „zersetzend“ bezeichneten Intellektuellen würgend zu empfinden beginnen. Es ist angesichts dieses Phänomens überholt, von den alten Begriffen der „Linken“ und der „Rechten“ dhenf fö Begrertfrcin es auch ist, wenn die Männer des poli- tischeii’ Nahkkrtijifes ‘die b&eitiidgeÄcie Schlagwortmunition immer wieder zur Hand nehmen und dabei die Splitterwirkung solcher Handgranaten für den eigenen Graben nicht in Rechnung stellen.

Der Geburtstagsgruß

In diesen Tagen wird der nach wie vor bedeutendste humanistische Intellektuelle der deutschen Sozialdemokratie, Prof. Carlo Schmid, dem 85jährigen deutschen Bundeskanzler die Glückwünsche der Opposition in einer großen Ansprache auszudrücken haben. Wer Carlo Schmid kennt, weiß, daß es sich gewiß nicht um eine konventionelle Floskel handeln wird. Aber werden diese beiden Männer — jeder für sich Repräsentant einer legitimen Seite deutschen Geistes, deutscher Geschichte — wenigstens sekundenlang, wenn sie einander Aug in Auge gegenüberstehen, gewahr werden, daß sie eigentlich als Verbündete begonnen haben, vielleicht schon sehr bald zum Bündnis gezwungen sein werden? Konrad Adenauer hat sein Werk, das auch der Gegner und Feind respektieren muß, weder als eine Fortsetzung noch als eine Verbesserung des Hitler-Staates konzipiert. Er war und ist vom Glauben durchdrungen, daß nur eine feste Bindung an die Ordnungswelt lateinisch-katholischer Humanität die Dämonen — die wütenden wie die heimlich schleichenden — zu bannen weiß, die das deutsche Volk immer wieder gefährden. Glaubt nicht die in Carlo Schmid repräsentierte „linke" Intelligenz im Grunde dasselbe? Sie ersetzt das konservative Vorzeichen Adenauers durch ein liberales. Aber ist es deswegen eine so ganz andere Welt? Man darf sich durch vordergründige Klischees und aufgezwungene Bundesgenossenschaften ebensowenig täuschen lassen wie durch eine primitive Ketzerriecherei, zu der sich heute nur noch immer kleinere und grotesk unzeitgemäße Geister hergeben. Die Gefahr der „letzten Menschen“, die massiv ins Spiel kommen, sehen heute nicht nur die lautstarken Berufskassandras, die ihren Klageliedern über das „Wirtschaftswunder“ stets neue Strophen hinzufügen: es gibt auch im engsten Führungskreis des Regierungslagers, in den Zentren der „schwarzen“ Bundesländer, einflußreiche und tatbereite Menschen, die die Gefahr zumindest ebenso ernst sehen. Ein konservativer -Freiherr’’ von Guttenberg hat recht genau zugehört, als niah anläßlich der ‘ Beschimpfung des „Emigranten“ Brandt auch von ihm, der im „Feindsender“ gegen Hitler sprach, zu reden begann …

„Der dritte Mann“

Und noch einer ist nicht ohne Erfolg bemüht, ins Spiel zu kommen. Der Diktator der deutschen Sowjetzone: Walter Ulbricht. Seine kurz vor Weihnachten veröffentlichte, aber im Wortlaut wenig beachtete Rede vor der 11. Tagung des Zentralkomitees der SED hatte trotz rhetorischer Beschwörung der angeblich „revolutionsbereiten“ westdeutschen Arbeitermassen, an die er wohl nicht einmal selbst recht glaubt, einen einzigen, wahren Hauptadressaten. Mit einem „Offenen Wort" wandte sich der anheimelnd sächselnde Kleinbürger ausdrücklich an die „Angehörigen, der Kapitälisten-

IVmÖihfe’um die Sache nicht herumreden: Die Arbeiterklasse ist stark genug, um Angehörigen der Kapitalistenklasse, die einsichtig, guten Willem und verständigungsbereit sind, eine in jeder Beziehung gesicherte Lebensgrundlage und schöpferische (!) Arbeit zu gewährleisten (!).“

Mit diesem Appell hat Ulbricht kaum den legendären kapitalistischen Haifisch erreichen wollen, der vom roten Handel träumt. (Der ist direkter anzusprechen und zu kontaktieren.) Er hat zu jenen Menschen gesprochen, die gewohnt sind, dem werbenden Anruf ausführlicher Zeitungsinserate (für Whiskymarken, Ostasienreisen, pikante Lektüre, Eigenheimsparen) Gehör zu schenken, deren gedanklich willensmäßiges Steuerungssystem nur noch solchen Impulsen gehorcht. Und wir möchten nicht bezweifeln, daß er mit diesem Ton ein besseres und breiteres Echo finden wird als etwa jene Männer und Frauen, die sich kurz vor Weihnachten zu einer linken „Union" mit einem leidenschaftlich undurchdachten Anti-Adenauer-Programm zusammen geschlossen haben, es jemals erlangen werden. Denn auch sie — die Verzweifelten unter ihnen, natürlich nicht die ziemlich leicht erkennbaren Agenten — stehen auf der bewußten hiesigen Seite der Barrikade. Auch diese

„Linke", in aller ihrer Zerfahrenheit und hektischen Schlamperei, ist nicht die wahre Gefahr der nun zwölf Jahre bestehenden deutschen Demokratie, die — alles in allem — ihren Charakter als freiheitlicher Rechtsstaat bei manchem Anlaß immerhin bewiesen hat. Die wahre Diktaturgefahr kommt von jenen einander nicht an der Parteinadel, auch nicht am neonazistischen Verschwörergruß erkennenden Millionen, die einander dennoch von Tag zu Tag besser zu „wittern“ beginnen. Die einander erkennen am „Blinzeln“, wenn von ehemaligen Emigranten die Rede ist, am gesenkten Blick, wenn man von ehemaligen großen Tagen der jüngeren Vergangenheit spricht, am unverhohlenen Grinsen bei der Nennung eines Namens, wie — sagen wir — Finkeistein oder Liftschitz…

Wer glaubt, bei der Dingfest- machung eines KZ-Verbrechers oder bei der Ausräucherung eines Sonn- wendklubs dieser „Macht der letzten Menschen" auch nur an einem Zipfel habhaft geworden zu sein, irrt bitter. Dort, wo die Demoskopen die Meinung testen, die Blätter ihre Auflagen prüfen, die Kinobesitzer ihre Kassenlosungen kontrollieren, dort aber auch, wo die Propagandaexperten des beginnenden Wahlkampfes ihre Plakate auf psychologische Wirkung hin entwerfen, die „Slogans" komponieren, die „Kandidaten“ herausstel- len, weiß man mehr. Man weiß viel. Aber weiß man auch, daß man selbst bereits unter einer sehr bestimmten, sehr konkreten Diktatur steht? Und daß für den immer mächtiger werdenden „letzten Menschen“ die Auseinandersetzungen zwischen „links“ und „rechts" nur noch mäßig amüsante Gladiatorenkämpfe darstellen, denen er vielleicht einmal schnell das Daumenzeichen zum Abschluß geben wird?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung