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Die Permanenz des Irrationalen

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Da hat nun um Pfingsten 1972 einer, der aus der Anonymität ausbrach, mit der Entrünipelung des sakralen Raumes Emst gemacht. Schenkt man den Berichten Glauben, war der Angriff auch gegen einen Glaubenssatz und gegen die Überlieferung gezielt. Möglicherweise die Wahnsinnstat eines, der Alarm schlagen wollte; wahrscheinlich eines Irren; vielleicht eines Fanatikers. Es könnte auch ein aus Prinzip amusischer Reformer gewesen sein. Übrigens Pfingsten; seither ist schon wieder so viel passiert an Wahnsinnstaten — nicht notwendigerweise von Irren —, daß, was damals zumindest Kulturbcsonucnen, gleichgültig welcher Observanz, den Atem stocken ließ, schon fast wieder vergessen ist.

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Da hat nun um Pfingsten 1972 einer, der aus der Anonymität ausbrach, mit der Entrünipelung des sakralen Raumes Emst gemacht. Schenkt man den Berichten Glauben, war der Angriff auch gegen einen Glaubenssatz und gegen die Überlieferung gezielt. Möglicherweise die Wahnsinnstat eines, der Alarm schlagen wollte; wahrscheinlich eines Irren; vielleicht eines Fanatikers. Es könnte auch ein aus Prinzip amusischer Reformer gewesen sein. Übrigens Pfingsten; seither ist schon wieder so viel passiert an Wahnsinnstaten — nicht notwendigerweise von Irren —, daß, was damals zumindest Kulturbcsonucnen, gleichgültig welcher Observanz, den Atem stocken ließ, schon fast wieder vergessen ist.

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Handlung und Motivierung an sich — keineswegs besonders originell und aus der Linie fallend — hätten auch zu Pfingsten für Schlagzeilen kaum ausgereicht, wenn es sich nicht eben um Michelangelos Pietä in der Peterskirche gehandelt hätte. Um die gleiche, fast fünfhundert Jahre alte Pietä, die vor wenigen Jahren noch zur New Yorker Weltausstellung auf Reisen geschickt wurde und von deren Transportbeschädigung auf ihrem Heimweg damals viel die Rede ging. Warum und von wem der kostbaren Skulptur unter anderem ein Arm abgeschlagen wurde und ob der Schaden zur Gänze behebbar ist, bleibt von sekundärer Bedeutung. Wesentlicher wäre es, zu wissen, ob Wiederkehr der Bilderstürmerei als typisch für unsere Zeit des realistischen Rationalismus und seiner Thesen anzusehen ist. Pietro Aretino, der zynische Spötter, würde, so er noch lebte, wohl eine Fernseh-diskussion zum Thema arrangieren, mit dem sich leicht schockieren läßt; sein Zeitgenosse Ariost bliebe ihm die Antwort kaum schuldig. Beide wären auch heute ihres Publikums sicher. Renaissance und Humanismus, wenn auch mit verschiedenen Akzenten, stehen wieder hoch im Kurs; eigentlich schon seit Jakob Burckhardt seine „Kultur der Renaissance in Italien“ geschrieben hat. Darum hat trotz aller Ablehnung von Sentimentalitäten und trotz der Betonung nüchterner Sachlichkeit der gebrochene Arm der Pietä die „Altglauber“, wie auch die überzeugten „Progressiven“ beeindruckt. In der Ablehnung offensichtlicher Sinnlosigkeit sind sich zumeist auch jene immer noch einig, die hinsichtlich des Sinnvollen verschiedener Meinung sind. Man spürt doch, daß wir es uns weniger denn je leisten können, weiter zu verarmen. Genau darum handelt es sich, wenn der Rationalismus zu weit getrieben wird. Denn „Schönheit ist eines der sei ton ru Wunder, die unsere Zweifel an Gott verstummen lassen...“ Anouilh). Wer bewußt Schönheit vernichtet, handelt gewöhnlich aus Haß. Kierkegaard definierte ihn als gescheiterte Liebe.

„... Auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat“ (Anouilh). Novalis meinte von ihr vor bald zweihundert Jahren, daß sie „der Endzweck der Weltgeschichte und das Amen des Universums“ sei. Der magische Idealismus der deutschen Frühromantik deutete die Zeitenwende von damals nicht viel anders als der magische Realismus unserer zeitgenössischen Sozialromantiker jene von heute.

Im Grunde hat es diese zwei Schulen schon immer gegeben, deren Auffassung über den Weg zum Ziel, nämlich zur Revolution, ihr unterscheidendes Merkmal ist; die eine, die an den Gewaltverzicht glaubt und die andere, die brutale Gewaltanwendung in der Gegenwart für nötig hält, um — so paradox es klingt — das Gewaltverbot der Zukunft zu erzwingen. Die eine spracht von Liebe und versteht darunter Toleranz, passive Resistenz zum Schutz der Menschenwürde, absoluten Pazifismus, und glaubt auch daran (zum Beispiel Mahatma Gandhi, Martin Luther King, oder unter den Lebenden der brasilianische Erzbischof Dom Helder Cämara); die andere predigt Haß und Zerstörung als Voraussetzung des gesellschaftlichen Umbaus und ihres schließlichen Sieges.

Angela Davies, die Marcuse-Schü-lerin, frühere Philosophiedozentin der Universität von Kalifornien in Los Angeles und militante Vorkämpferin einer Black-Power-Revolution in den Vereinigten Staaten, erklärte nach ihrem Freispruch über das ostdeutsche Radio: „Ich träume von einer sozialistischen Welt, einer Welt ohne Krieg, Rassenvorurteile und Armut. Aber, wie Lenin sagte, es genügt nicht, zu träumen. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Träume durch entsprechendes Handeln zur Wirklichkeit werden“ („Internat. Herald Tribüne“, 15. Juni 1972, Seite 5).

Sequenz von Revolutionen?

Würde man den Gesellschaftskritikern bis herab zu den Pflichtübungen mancher Unterhaltungsmanager glauben, dann lebten wir in einer jener typischen vorrevolutionären Perioden sozialer Korruption, wie sie gewaltsamen Umstürzen in der Geschichte vorauszugehen pflegen. Nach der materialistischen Geschichtsphilosophie besteht der historische Ablauf in einer Sequenz von Revolutionen, die sich immer dann ereignen, wenn die Zeit reif ist für die Erhebung einer beherrschten und daher ausgebeuteten gegen die jeweils herrschende Klasse. Und die Zeit ist reif, wenn steigender Druck den überhitzten Kessel zur Explosion bringt.

Aber gibt es heute in unseren Breiten überhaupt noch eine herrschende und eine beherrschte Klasse? Und eine .echte Minderheit, die an Revolutionen und Explosionen interessiert ist?

Oder bereit wäre, sie zu tolerieren? Daran wird sich nichts ändern, solange der Auf- und Umstieg von einer Klasse in die andere durch Leistung möglich ist. Es ist hier nicht von anderen Kontinenten, nur von Europa, und zwar vom westlichen Europa und von den durchaus ähnlich gelagerten Verhältnissen in Nordamerika die Rede. Die übrigens von den USA begonnene Entwicklungshilfe hat unleugbar beträchtliche Chancen, soferne der frühere Fehler vermieden wird, — wenn auch guten Glaubens — das eigene politische und kulturelle Image als das alleingültige hinzustellen.

Es steht dafür, sich an all die propagierten und probierten Weltverbesserungsversuche auf nationaler und internationaler Ebene, etwa der letzten siebzig Jahre, zu erinnern und daran, was dabei herauskam. Wer vorurteilslos Vergleiche zieht und sich sein Augenmaß nicht durch zu langes Fixieren von Zerrspiegelbildern ruiniert hat, der wird kaum dazu bereit sein, einer bankrotten, ja der ältesten und reaktionärsten aller gesellschaftspolitischen Antithesen, nämlich dem Anarchismus, Kredit einzuräumen.

Damit sei nicht etwa unkritischer Gedankenlosigkeit das Wort geredet. Diese wäre heute genauso verwerflich, wie sie es jemals in der Vergangenheit war und in aller Zukunft sein wird, und zwar trotz allen Fortschritts; einfach deshalb, weil es die vollkommene Gesellschaft im vollkommenen Staat ebensowenig je gegeben hat und geben wird wie den vollkommenen Menschen; gewiß eine Binsenwahrheit, aber eine, die oft übersehen wird.

Damit scheiden alle Utopien aus; die vom überflüssigen Gesetzeszwang sowohl, wie die vom Weltstaat; die von der klassenlosen Gesellschaft, und leider auch die von der gänzlichen Beseitigung der

Armut, jener „weit aufklaffenden erbarmungslosen Hölle, die unter der zivilisierten Gesellschaft gähnt“ (Henry George). Gerade das sowjetische Beispiel mit seinen volksdemokratischen Varianten, das immerhin bereits fünfundfünfzig Jahre Zeit zur Verwirklichung hatte, verdankt seinen relativen Erfolg und seinen gesicherten Fortbestand dem Kompromiß mit der Wirklichkeit. Ob Opfer und Kosten im rechten Verhältnis zum Erreichten und auf anderen Wegen Erreichbaren stehen, ist die klassische

Frage der Konservativen an die Advokaten der Revolution.

Hier soll nicht von Transparenz die Rede sein; nur von Glaubwürdigkeit. Um die steht es nicht zum besten. Und dies kommt wohl daher, daß verschiedene Klischees je nach Bedarf verschiedene Deutung finden, und zwar oft genug in ein und derselben Sprache. Man braucht doch nur an Liebldngsworte der internationalen Rhetorik zu denken, wie Selbstbestimmung, Nichteinmischung, Gewaltverzicht, Vertragstreue; ja auch an die verschiedenen Varianten des Ideals vom geeinten Europa. Nicht, als ob dies alles nur leeres Schellenläuten wäre. Jede einzelne dieser populären Formulierungen hat ihre internationalen Meriten und wäre versprechend, wenn sich nidit zu oft in der Praxis nationale Interpretationsdifferenzen ergäben. Das alles ist nichts Neues. Zum Teil, wie zum Beispiel im Fall des Gebots von der obligaten friedlichen Schlichtung internationaler Konflikte und der internationalen Gerichtsbarkeit, geht die Debatte auf die Haager Konventionen, also auf die Zeit um die Jahrhundertwende, zurück; und über alles andere wird nun seit mehr als fünfzig Jahren geredet, ohne daß dabei praktisch viel herausgekommen wäre. Fortschritt soll nicht geleugnet werden. Er wurde erzielt. Aber leider nicht dort, wo es ums Ganze geht, nämlich um die Garantie der friedlichen Austragung nationaler Konflikte. Auch die wahrhaftig begeisternde Idee des geeinten Europa als politisches

Traumziel ist nichts Neues. Sie bestand schon in der Antike, dann wieder im Mittelalter und später im 16. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Ende war immer — gottlob bleibt anzufügen — die Überzeugung: so nicht! Nur auf demokratischem Wege! Daran ist aber bisher noch jeder — auch Winston Churchill — gescheitert. Darum hat man im Osten — und zwar erfolgreich — versucht, den Begriff der Demokratie umzufunktionieren, um vielleicht doch das gewünschte Ziel nach altem Stil (Stalin) zu erreichen. Jacques Maritain hat recht: man kann, wenn man durchaus will, eine Violine Flöte nennen.

Man kann auch anderen bekannten Vorstellungen, Begriffen und Werten einen verschiedenen Sinn unterlegen; zum Beispiel Gewaltverzicht — ja; aber nicht, wenn es sich um eigene, selbstbestianmte vitale Interessen handelt. Ein gemeinsamer Markt und ein politisch geeintes Europa — ja; aber doch nur, so weit die eigenen Kartoffelpreise und das eigene Prestige nicht darunter leiden. Vertragstreue — ja; aber nicht, wenn es sich um „erzwungene Verträge“ handelt; und erzwungen ist jeder Vertrag, bei dem ein Stärkerer dem Schwächeren gegenüber sich durchsetzt. ..

Eine Million Leben

Das Generationenproblem, das übrigens heute nur lauter, aber kaum mehr als früher zu schaffen macht, hat einiges damit zu tun, daß die Glaubwürdigkeit der programmatischen Verkündigung verloren ging.

Da wird in aller Welt von der Notwendigkeit der Beendigung de Mittel-Ost-Konflikts gesprochen. Wenn man Berichten glauben darf, erklärte der ägyptische Präsident Sadat auf einer Kundgebung in Alexandria, er sei angesichts der unausbleiblichen Auseinandersetzung bereit, eine Million Leben zu opfern und an Israel werde es sein, das gleiche Opfer zu bringen. Das mag nicht wörtlich gemeint sein, aber der Ägypter war eine Woche zuvor zur Konsultation in Moskau gewesen und das Abschlußkommunique sprach davon, daß „angesichts der fortdauernden israelischen Aggression die arabischen Länder das volle Recht hätten, andere Mittel als die politischen anzuwenden, um die besetzten Gebiete zu befreien.“ Diese anderen Mittel werden zur Zeit mit alarmierender Vehemenz, und zwar von beiden Seiten, was vielfach übersehen wird, in Indo-china eingesetzt. Wenig vorher war im fernen Osten ein anderer „Befreiungskrieg“ zu Ende gegangen. Westpakistan pflegte seine Wunden, während die Ministerpräsidenten von Indien und Bangla-Desh (Ostpakistan) in einer gemeinsamen Deklaration den Abzug der während des Befreiungskampfes in Bangla-Desh stationierten indischen Truppen vereinbarten und gleichzeitig

Fortsetzung auf Seite 15,

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