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Woher kommen die Ruinen?

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Alle Tendenzen der Zeit kommen dem Kommunismus zugute. Die Forderung nach ökonomischer Gleichheit macht ihn zum weltweiten Appell an die große Masse der Besitzlosen und an die armen Völker. Dem Despoten frommt die materialistische Geschichtsauffassung und die Doktrin von der politischen Umformung der Menschen; er verneint jedes Recht, das nicht von ihm herrührt. Dazu kommt der merkwürdige Enthusiasmus unserer Ära für Planung und Bürokratie, die weite Zweige der Wissenschaft erfaßt hat — eine Entwicklung zur Servilität, die einen zur Verzweiflung. treibt, klagte schon vor drei Jahrzehnten der große Soziologe Max Weber. Auch außerhalb des Kreises der Interessenten erscheint vielen die kommunistische Diktatur als das politisch gerechte und überlegene — weil angeblich wissenschaftliche Wirtschaftssystem.

Aber weder das politische noch das ökonomische Argument kann ernsthaft aufrechterhalten werden.

Die Volkssouveränität wie die Forderung der Gleichheit gehen auf das Naturrecht zurück. Aber der Gedanke eines ewigen, unveränderlichen Rechtes ist unvereinbar mit materialistischer Geschichtsauffassung und Entwicklungsdoktrin. Darum beschränkte der Kommunismus das Naturrecht auf die aus- wertige Propaganda, während für die Begründung des Systems die Entwicklungsgesetze von Kart Marx herangezogen wurden.

Diese wollen freilich nur für ein bestimmtes Stadium der Wirtschaft gelten, daher nicht für alle Länder gleichzeitig. Ihr Charakter als Synthese sollte ihre Unveränderiichkeit begründen, die Gleichheit nicht als Forderung natürlicher Gerechtigkeit postuliert, sondern als Notwendigkeit der Wirtschaftsentwicklung erklärt werden.

Damit verliert aber der Kommunismus universellen Charakter, und damit ist auch die Volkssouveränität beseitigt — denn was bedeutet eine Souveränität, die das politische und ökonomische System nicht mehr ändern darf?

Nun mag der Vorwurf der Inkonsequenz und Haltlosigkeit der politischen Doktrin die Kommunisten kaltlassen; es genügt ihnen, ihr System als ökonomische Notwendigkeit in der den unwiederhoibaren Kapitalismus ablösenden Ära zu rechtfertigen. Auch dieses Argument kann nicht emstgenommen werden.

Normalform für Verfallszeiten

Vor sechs Jahrhunderten hat der maurische Erforscher historischer Zyklen, Ibn Khaldum, eine dem Bolschewismus ungewöhnlich gleichartige politische Entwicklung als Normalform für Verfallszeiten geschildert; eine Reihe von Politikern bildet eine Gewaltpartei, bemächtigt sich der Regierung und beseitigt alle anderen Parteien — erster Akt; sodann entledigt sich einer von ihnen aller anderen durch Mord oder Vertreibung — zweiter und schwierigster Akt; dann folgt eine Zeit militärischer Rüstungen und Paraden — dritter Akt; dann folgen die Epigonen und mit ihnen der Verfall — vierter Akt. Für jeden dieser Akte setzt der maurische Historiker eine Generation an — wir haben drei Akte in weiniger als einem Menschenalter vorbeiziehen sehen.

Im Abschluß daran hat Khaldum die Frage gestellt, woher die Ruinen kommen, und beantwortet sie in packender Weise. Die Völker im Aufstieg achten die Fremden und die Kaufleute, im Abstieg sind sie nationalistisch und etatistisch. Im Abstieg wenden Steuern ohne Maß zur Gewohnheit und widerspruchslos hingenommen; das Militär kostet unermeßlich viel, der Beamte gilt mehr als der Produzent, der Wirtschafts- kreislauf wird immer mehr eingeengt, die Ausfuhr von Vermögensgütern untersagt. Die höchste Gefahr tritt ein, wenn die Regierung bei sich mehr Vermögen konzentriert hat als die ganze übrige Bevölkerung. Wenn der Kaufmann vom Vermögen zehren muß, wenn die Regierung die Wirtschaft übernimmt, beginnt die Ära der Ruinen. Mit dem Verschwinden des Gewinnmoments weicht die Zivilisation zurück.

Die Synthese des Marxismus, das Ziel des Bolschewismus, erscheint dem großen maurischen Historiker als die Ursache der Ruinen!

Aber wird der Bolschewismus dadurch unmöglich, daß er im Konflikt mit den Wirtschaftsgesetzen steht? Der juristische Vorkämpfer des volkstümlichen Arbeitsstaates, der Schöpfer der neuen Staatslehre, Anton Menger, hat es laut verkündet, daß man mit starkem Heer und guter Polizei durch Jahrhunderte auch gegen die Wirtschaftsgesetze regieren könne: Bei gleicher Voraussetzung können auch Religion, Justiz, Wissenschaft und Kunst zu reinen Staatsmitteln henabgedrückt werden. Die Macht der öffentlichen Meinung schätzt dieser führende Jurist des Zukunftsstaates offenbar mit Null ein — mit Ausnahme der „Bildungsmillionäre“, deren Beseitigung er verlangt, da sie gefährlicher seien als die Geldmillionäre.

Nur von drei Seiten her kann nach Menger der volkstümliche Arbeitsstaat ernsthaft gefährdet werden — wenn er seine Wirtschaftsherrschaft zur Fesselung der Individuen verwendet, wenn er den Regierenden eine bevorzugte Lebenshaltung zubilligt oder wenn er den Kult einer providentiellen Persönlichkeit pflege. Eine unheimliche Sehergabe hatte dieser Vorläufer des Kommunismus! Alle diese vor sechs Jahrzehnten als lebensgefährlich bezeichneten Momente sind schon in der ersten kommunistischen Generation einge- troffen.

Die Stärke des Bolschewismus liegt weder in der Ethik noch in der Dogmatik oder gar in der Wirtschaftsorganisation, sie beruht auf Macht und auf ihr allein.

Zwischen Tyrannen und Drohnen

„Die athenische Demokratie“, sagte einst Sokrates, „steht zwischen zwei Feinden: dem Tyrannen, der ohne Atempause Krieg vorbereitet und vorbereiten muß, aber die Gegner als Friedensstörer brandmarkt, und den politischen Drohnen, die die Produzenten systematisch ausrauben und ihnen, den Bienen, Unfruchtbarkeit vorwerfen.“

Die Diagnose stimmt für unsere Ära mit einer kleinen Variante: Der Tyrann beruft sich auf die Wissenschaft und der Demagoge auf die Ethik.

Der auf dem Machtprinzip beruhenden Organisation des Kommunismus kann nur eine straffe Gegenorganisation erfolgreich Widerstand leisten. Das steht aber mit den Grundprinzipien der Demokratie in Widerspruch. Wie eine diesen Prinzipien entsprechende Verfassung aussehen soll, läßt sich am besten am Beispiel der Schweiz ersehen.

Die Schweiz hat stärkste Kontinuität bei den höchsten Regierungs- funktionären (so gut wie lebenslängliche Positionen) bei strikter Begrenzung ausnahmslos aller Kompetenzen. Exekutive und Legislative können durch Volksalbstimmung desavouiert werden, ohne daß daraus praktische Konsequenzen (Regie- rungsrücktritt, Partamentsauflösung) entstehen. Die Regierung greift in dein Wahlkampf nicht ein. Die öffentliche Meinungsbildung ist vollkommen frei. Das Milizsystem mit der Waffe im Haus jedes Soldaten ist so recht der Ausdruck der vollen Demokratie. Die Schweiz konnte eine solche Verfassung ausbilden, weil ihr eine Reihe von Momenten zugute kam: kein größerer Krieg seit mehr als vier Jahrhunderten; ein kleines, leicht übersehbares Territorium; keine Großstädte, kein Großgrundbesitz, durchschnittliche Wohlhabenheit ohne große Gegensätze des

Lebensstils und vor allem eine wirklich reife und verantwortungsbewußte Bevölkerung. Alle Existenzfragen — Außen-, National- und Konfessdonspolitik — werden als überparteilich angesehen und sind vom Majoritätsprinzip ausgeschlossen. Der Freiheitssinn durchdringt die ganze Bevölkerung. Hier hat die Volkssouveränität Wirklichkeit. Und hier hat dieses System die größten Triumphe gefeiert: Das Fernbleiben von Kriegen von einem kleinen Land in der Mitte Europas und die Lösung der Nationalitätenfrage sind zwei so fundamentale Erfolge, daß sie alle Kritik an der Demokratie zum Schweigen bringen müßten.

Wäre der Friede gesichert, so wäre die Schweiz das Vorbild für jeden demokratischen Staat, vor allem in der starken Limitierung aller Kompetenzen. Aber gerade die führende Demokratie der Gegenwart, die Vereinigten Staaten, muß, um sich gegen organisierten Despotismus verteidigen zu können, die entgegengesetzte Richtung einschlagen und die Gewalt konzentrieren. Einen analogen Weg ist schon vorher die mittelalterliche Vorkämpferin der Demokratie, die katholische Kirche, gegangen — von der vollen Demokratie der Konzilien-bis zur Unfehlbarkeit des Papste®, Die Richtung ist für Amerika notwendig, aber sie kehrt der Demokratie den Rücken.

Und hier erscheint das komplizierteste Problem unserer Zeit.

Das bisherige Bestreben der Vereinigten Staaten, allen anderen Nationen die Demokratie zu bringen, erwies sich als noble, aber gefährliche Utopie. Es ruinierte die Barrierestaaten an Rußlands Grenze zugunsten schwacher Gebilde, die beim ersten Windhauch umsbürzten, und es gefährdete das britische Reich Kaum jemals war eine siegreiche Nation in ihren Friedensschlüssen so unglücklich wie bisher Amerika; daran waren weniger die Menschen schuld als das Grundprinzip.

In den angelsächsischen Ländern ist der Irrglaube weit verbreitet, daß die Mehrheit der Erdbevölkerung innerlich demokratisch sei. Die wirklichen Demokratien umfassen aber kaum zehn Prozent der Menschheit — und den Völkern, die den Gedanken der Volkssouveränität schon vor eineinhalb Jahrhunderten gehegt haben, hat sich seither keine neue Nation dauernd angeschlossen.

Bei drei großen Völkern, bei den Franzosen, Deutschen und Russen, wurde die Demokratie nach kurzem Beginn von der Diktatur unterbrochen, die Träger des Despotismus wurden durch das anfängliche Kriegsglück zu nationalen Heroen und konnten jede Opposition beseitigen. Den Diktaturen in Frankreich und Deutschland machte nicht die freie Entwicklung, sondern die Niederlage auf den Schlachtfeldern von 1870 und des zweiten Weltkrieges ein Ende — und da war es der Demokratie nicht förderlich, daß sie als Folge des feindlichen Sieges wiederauflebte.

Soll Demokratie Bestand haben, so darf sie nicht von außen — am wenigsten von einem Feind von gestern — in ein Land gebracht werden, sie muß organisch entstehen.

In der Beurteilung der Welt begeht Amerika einen schweren psychologischen Fehler: Es glaubt an die Wirkung der Generosität — so wie 1789 der Adel in Frankreich. Aber Generosität erzeugt nicht Dankbarkeit, sondern das Gegenteil. Man denke nur an das Ergebnis der Chinapolitik, diesen Akt säkularer Undankbarkeit.

Nach Dantes weisem Urteil soll der Regent ohne Wunsch, Neid und Haß sein. Kann dies jemals im System der Volkssouveränität zutreffen? Am ehesten unter den Großen der Erde in den Vereinigten Staaten, den einzigen Saturierten. Wo Amerika sonst Demokratie einführen mag, wird es sich der großen Masse gegenübersehen, die von Gier, Neid und Haß erfüllt ist und unter Führern steht, die dies alles schüren. Und nach jedem amerikanischen Sieg würde dieser Antagonismus sich verschärfen. Um diese Lebensgefahr zu vermeiden, muß sich Amerika Alliierte schaffen, bei denen die Regierungsform die Gewähr bietet, daß Dantes Forderungen zumindest von den Regenten erfüllt werden. Das japanische Beispiel .weist die Richttung des Weges.

Gewiß, die Amerikaner verabscheuen solche Gedanken. Sie gehen nicht aus eigenem Willen weiter, sie werden weitergetrieben. Sie widerstreben ihrem Schicksal, sie wollen nicht Imperialisten sein — aber sie sind dazu berufen, wie ehedem die Römer der Kaiserzeit, eine festgefügte politische Organisation zu schaffen, um durch sie die Gleichberechtigung von Nationen, Religionen und die Rechtsgleichheit und -kon- tinuität zu sichern, und der Welt den Frieden zu geben.

Gedanken dieser Art sind den Demokraten fremd und abstoßend. Tradition und Erziehung stehen dazu im schärfsten Gegensatz. Eine solche Entwicklung scheint alles umzustürzen, was den Besten in Amerika teuer ist und wofür die Nation seit einem Menschenalter unter ungeheuren Opfern in den Kampf ging.

Die amerikanische Nation ist nach dem Urteil von Bryce, einem der scharfsinnigsten Beobachter, besonders schlecht begabt für Außenpolitik — zum Glück braucht sie das nicht, fügt er hinzu. Das traf zu vor drei Menschenaltern. Heute aber ist Amerika die führende Rolle in der Außenpolitik zugefallen. Kann dies die Demokratie leisten?

Wenn Amerika die Organisierung des Friedensreiches nicht durchführen kann oder nicht durchführen will, dann wird sich — an Amerika und uns allen — das Wort Vicos erfüllen: Die Epochen der Zivilsation sind eine Ausnahmeerscheinung und von kurzer Dauer.

Aber könnte sich die Demokratie umformen ohne Aufopferung des Besten, das sie hat — all dessen, was ihr mit der Stoa und dem Christentum gemeinsam ist —, so wlre die größte Aufgabe unserer Zeit bewältigt. Noch sind nirgends die Männer sichtbar, die ein solches Problem lösen könnten. Wenn sie erschienen, würden sie höheren Ruhm verdienen als die geistigen Heroen von 1776.

Wir erleben heute einen großen Tag der Geschichte, und unermeßlich Viel hängt davon ab, ob ihm die lebende Generation gewachsen ist.

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