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Menschen einsichtig Institutionen stur

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„So geht es nicht weiter“ -viele sehen das heute ein. Dennoch läuft die gesellschaftliche Maschinerie weiter wie bisher. Wieso handeln Institutionen gegen menschliche Einsicht?

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„So geht es nicht weiter“ -viele sehen das heute ein. Dennoch läuft die gesellschaftliche Maschinerie weiter wie bisher. Wieso handeln Institutionen gegen menschliche Einsicht?

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Bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts stand ein Menetekel an der Wand, das für das heutige Thema bedeutungsvoll ist: Am 28. Mai 1904 fand die Seeschlacht zwischen der kaiserlichen Flotte Japans und der zaristischen Pazifikflotte Rußlands vor der kleinen japanischen Insel Tsuschima statt.

Diese Tragödie, die mit der völligen Vernichtung der russischen Seemacht endete, hat eine Vorgeschichte, die den Denkansatz zum heutigen Thema offenlegt: Nach dem Uberfall Japans auf Port Arthur dauerte der russische Aufmarsch genau 15 Monate, in denen eine neue Pazifikflotte zusammengestellt werden mußte, das Führungskader ausgewählt, die Matrosen ausgebildet und der Seeweg von der Ostsee rund um Afrika und Indien nach Wladiwostok bewältigt werden mußte.

Vom ersten Tag dieses Vorhabens an war es sowohl am Zarenhof wie in der Admiralität, den Marineoffizieren und den meisten Matrosen klar, daß dieses Unterfangen eine Fahrt in den Tod ist. Dennoch hat sich in eigensinnigem, ausweglosem, fantasielosem, maschinenhaftem Vollzug einer Systemdoktrin diese Tragödie erfüllen müssen. Der Einsatz individueller humaner Qualifikation war durch die immanente Logik des Systems ausgeschlossen.

Es gilt zu untersuchen, ob und warum Organisationen, Institutionen, Systeme die ihnen zugeordneten Individuen unterrepräsentieren.

Mit dem Begriff System, Institution, Unternehmung, Organisation verbindet man landläufig eine Entscheidungs-, Leistungsund Wirkungseinheit, deren Tätigkeit sich arbeitsteilig vollzieht und die Resultierende zahlreicher Einflüsse ist. Diese sind kaum noch auf individuelle Antriebe und Beweggründe rückführbar. Systeme entwickeln gemäß einer Verfassung, einem Programm oder einer Doktrin bzw. einem Unternehmensziel oder einem Gesetzesauftrag ein Eigenleben, engagieren für ihre Teilziele Menschen, von denen sie nur die Fachkenntnisse annehmen, einfordern, abkaufen.

Die Qualitäten der Person müssen als für die Systemlogik unbedeutend ignoriert werden. Der weitaus größte Teil der Mitarbeiter hat keinen Einfluß auf die Formulierung des Endzwecks des Systems. Stellen Sie sich einen Soldaten vor, der aus innerer Charakterreife heraus den Kriegsgrund für obsolet erklärt und durchaus bereit ist, die Position des angeblichen Gegners anzuerkennen. Oder stellen Sie sich den Autokonstrukteur vor, der seinem Vorstand bei der Ankündigung der zweiunddreißigsten Modellvariante ins Wort fällt und die moralische Unhaltbarkeit solcher Intelligenzvergeudung in den Entscheidungsprozeß einbringen möchte.

Beide Verhaltensweisen würden mit dem mehr oder weniger radikalen 'Entzug der Lebensgrundlage für diese übermütigen Menschen enden. Auch dieser Beitrag könnte hier enden mit dem Rat, bleibe Fachmann, werde Funktionär, unterwerfe dich der parteilichen Doktrin deiner Institution. Zugleich aber wäre dies die Bankrotterklärung vor dem augenscheinlichen Engpaß der nunmehr erkennbaren Fortschrittsphase, wäre die ökonomische Zustimmung zur weiteren Vergeudung menschlicher Fähigkeiten.

Im Österreichischen Bundesverlag erschien 1983 unter dem Titel „Die zweifelnde Gesellschaft“ das Ergebnis einer Meinungsumfrage in Österreich: Von 70 Prozent wurde die Feststellung bejaht, daß zum erstenmal in der Geschichte die Gefahr besteht, daß die Menschheit sich selbst zugrunde richtet und von 85 Prozent bejaht wurde die Aussage, man müsse sich für die Zukunft auf harte Zeiten gefaßt machen. 70 Prozent erklärten, durch die ständig steigenden Konsumansprüche richteten wir uns selbst zugrunde. Und 78 Prozent Zustimmung erhielt die Feststellung, der einzelne sei, wie anständig und opferwillig er auch sein möge, gegen die Probleme unserer Zeit völlig machtlos!

Wird die menschliche Gattung an der Komplexität der von ihr halbbewußt errichteten Zivilisation scheitern oder den Uberstieg zu Organisationsformen schaffen, die der Sensibilität und Inter-dependenz ihres Innenlebens und ihrer Umwelt entsprechen?

Die Überlegungen dazu seien mit der Wiedergabe eines Wunschszenarios für das nächste Jahrhundert eingeleitet, das der Chef der Basler Prognos-AG, H. Afheldt, vor einigen Monaten entworfen hat: Die Großtechnologien werden durch die Adaptierung mit neuen Informationstechniken

„Stellen Sie sich einen Soldaten vor, der den Kriegsgrund für obsolet erklärt!“ beherrschbar und durchschaubar. Neue Arbeitswelten werden sich entwickeln: Es wird erkannt, daß wirtschaften und unternehmen mehrdimensionale Vorgänge sind. Sie dienen der Produktion von Gütern, Produkten und Diensten — aber sie sind auch Soziali-sationschancen, Tätigkeitsräume, Lernveranstaltungen, substantielle Lebensinhalte.

Eine lebensfreundliche Umwelt wird gesichert sein. Weiterentwickelte Techniken zum Messen und Regeln werden hiezu beitragen. Verbesserte, zum Teil neue Modelle für die Steuerung der politischen und der wirtschaftlichen Systeme werden gefunden.

Die Nachteile des alten Nationalstaats werden überwunden, seine Kompetenzen werden zum Teil nach oben, zum Teil nach unten delegiert: Auf internationaler Ebene werden Fragen der Umweltpolitik, der Währung, der Wettbewerbsordnung, der Sicherheitspolitik, der Meeresnutzung und der Raumnutzung geregelt. Nach unten delegiert wird alles, was in der direkten Demokratie ohne unwirtschaftlichen Umweg in kleinen Kreisläufen zweckmäßiger wahrgenommen werden kann. Es wird keine konfliktfreie Welt und kein risikoloses Leben geben, aber die Qualität der Problemlösungsansätze wird steigen. Es wird keine absolute Friedenssicherung geben, aber die AB C-Waffen werden abgeschafft worden sein.

Dieses utopische Dokument führt zu der radikalen Frage, welche objektiven Hindernisse eigentlich eine weithin so leidende und unglückliche Menschheit daran hindert, schlagartig mit dem Vollzug eines solchen Programms zu beginnen? Welche Mechanismen sind es eigentlich, die in einer demokratischen Gesellschaft von unbeschränkter Informationsdurchlässigkeit langfristig und grundsätzlich nicht repräsentative Institutionen sich etablieren und überleben lassen? Ich riskiere die provokante These, daß es objektive Hindernisse überhaupt nicht gibt. Woran wir leiden, wovon die Mängel und Defizite kommen, die Arbeitslosen, die Armen, die Hungernden, das sind samt und sonders subjektive Gründe.

Richtig ist, daß viele Probleme sich von einem bestimmten Punkt an mit den Instrumenten der bestehenden Strukturen nicht mehr bewältigen lassen. Wir versuchen noch zu sagen, daß ein bißchen mehr Wirtschaftswachstum zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit führen wird, aber wir spüren schon, daß das nicht mehr, mindestens nicht mehr ganz stimmt.

Zugleich wächst als Idee und Vermutung zunächst das Potential ganz andersartiger, neuer Lösungen.

Ein Wandel auf halbbewußter Ebene, einer Ebene menschlicher Werte und kultureller Muster, zeichnet sich ab. Jetzt ist es an der Zeit, auf Verhaltensweisen einzulenken, die unsere Lebensformen ohne Gewaltanwendung umstrukturieren können und wollen. Revolutionen vom Typ aller bisher stattgefundenen brauchen wir nicht mehr. Mit einer Ausnahme freilich: Die Weltwirtschaftsgeschichte berichtet von einer revolutionären Tat, einer legistischen Großleistung, die als Unikat gelten muß.

Die österreichische Bauernbefreiung von 1848 gilt als ausgewogenste, klügste, relativ gerechteste Großumstrukturierung einer kontinentweiten Wirtschaftsverfassung.

Die Bauern mußten ein Drittel der ihnen übertragenen Vermögenswerte in langfristigen Hypotheken bezahlen. Der Staat bezahlte den bisherigen Grundbesitzern ein Drittel des enteigneten Wertes, und die Grundeigentümer verloren ein Drittel der abgegebenen Latifundien. Die für uns Heutige entscheidende, ja überwältigende Lehre aus diesem Vorgang ist eine doppelte: Es gab damals einflußreiche Stimmen, die nachwiesen, daß ganz Wien verhungern müsse, wenn die Bauern keine Robot mehr leisten. In Wahrheit stieg im Gefolge dieser Reform der Ertrag der landwirtschaftlichen Arbeit auf das Doppelte an!

Weiters wurden aus den sich über Jahrzehnte erstreckenden Verpflichtungen der Bauern börsenfähige Wertpapiere, die jene Kapitalmittel aufbrachten, mit denen sich die Gründerzeit der österreichischen Industrialisierung finanziell versorgte.

Die entscheidende Botschaft dieses Vorgangs lautet, eine dem Kulturstand einer Epoche entsprechende ökonomische Reform, eine moralisch gebotene und legi-stisch beherrschbare Umwandlung der Strukturen hatte schließlich segensreiche Auswirkungen.

Bleibt mir der Versuch eines Nachweises, welche organisatorischen Änderungen heute konkret anzustreben wären. Ich zähle sechs Mängel unserer etablierten Einrichtungen auf:

# Mangelnde Definition und allgemeine Kenntnis des jeweiligen Endzwecks. Folge: unklare Handlungsansätze.

# Mangelnde Flexibilität. Folge: Unternehmens- und Institutionsstrukturen werden weit über ihre Nützlichkeitsphase hinaus am Leben erhalten und verteidigt, oft sogar noch ausgeweitet.

# Ungebührlich eingeschränkte Modelle der Wirklichkeit. Folge: primitive Gesetzgebung, undifferenzierte Bestimmungen, nicht verursachungsgerechte Preise, Belastungen, fehlweisende Kostenrechnung.

# Einrichtungen, die dem Leben, seiner Entfaltung und Beschützung dienen sollen, verwandeln sich in Machtfaktoren, in maschinenhafte, nur ihrer eigenen Expansion nachhängende Systeme.

# Die Unbeeinflußbarkeit der Systeme. Folge: Es erscheint denkunmöglich, daß ein Apparat einem anderen substantiell rechtgäbe. In allen Konferenzpalästen der Erde vom East River bis Kaisermühlen werden Monologe zur eigenen Verewigung und Verdrängung des anderen Standpunkts geführt. Niemand gesteht Fehler ein, niemand verzeiht.

• Der Türklineffekt. Was bedeutet, daß durch juristische und politische Fiktionen Veränderungen immer nur in einer Richtung möglich sind: stärker, größer, mächtiger.

Aus Aktualitätsgründen sei an diesem Punkt kurz verweilt. Die 30 Millionen Arbeitslosen in den Industrieländern und etwa 300 Millionen in den Entwicklungsländern bei gleichzeitiger weltweiter Not an Nahrung, Wohnung, Kleidung, Medikamenten, ist ein System- und Organisationsmangel, dem wahrhaft die gesamte Geistkapazität der Erde zugewandt werden müßte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Thematik Arbeitszeitverkürzung für die bestausgestatteten und

„Veränderungen sind immer nur in eine Richtung möglich: stärker, größer, mächtiger...“ höchstausgebildeten Menschen dieser Welt von geradezu tragischer Zwiespältigkeit.

Etwa die Hälfte der mit hohem Mittelaufwand erstellten Konstruktionsprojekte für Infrastrukturinvestitionen in Entwicklungsländern wird nicht verwirklicht, weil das Projekt für das bedürftige Land unbezahlbar blieb.

Nach den klassischen Regeln von Angebot und Nachfrage und auch nach gewöhnlicher menschlicher Verhaltensweise würde nun ein Aushandlungsprozeß einsetzen, der diese Kluft überspannen könnte. Unsere unvollkommenen Mechanismen gestatten dies jedoch nicht. Die gar nicht so selten zu beobachtenden freiwilligen Lohn- und Gehaltssenkungsangebote werden als systemfremd und doktrinwidrig im Keim erstickt.

Unser Wirtschaftssystem verhält sich so, wie es ein nicht guter, sondern verblendeter Samariter aus dem Evangelium tun würde, wenn er den Kranken am Weg findet. Er bietet ihm wohl seine Hilfe an, kalkuliert hiefür jedoch tausend Schilling je Stunde. Da der Kranke das nicht bezahlen kann, muß er sterben, und der Samariter verliert seine Chance auf eine gute Tat, sprich Beschäftigung und auf ein gutes Gewissen, sprich Identität. Das Ergebnis dieser hy-brischen Fehlkalkulation ist also nur Unglück.

Kaiser und Gott das Ihre zu geben, heißt, auf dieses Thema angewandt, der Organisation mit allen intellektuellen und geistigen Fähigkeiten zu dienen, zugleich aber nie abzulassen, sowohl an der Verfassung der einzelnen Institutionen wie auch an der des Staates kritisch, sinnstiftend, zielführend mitzuarbeiten.

Der Gerechte muß sogar ein System, das vom Ziel abweicht, systemimmanent reformieren wollen. Das erst bewiese geistige Belastbarkeit, Weisheit, Geduld. Jede zurechnungs- und handlungsfähige Person soll Grundsatz-und Langfristarbeit für ihre Epoche einbringen. Die Abschiedsworte des Herrn - nach Johannes — sind das Programm der gebotenen Qualifikationssteigerung der Systeme, die über die heutigen Schwächen organisatorischer Kulturleistung hinausführen: „Ich nenne Euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Ich habe Euch Freunde genannt.“

Auszug aus einem Vortrag, den der Zentraldirektor von Waaener-Biro auf der Personalleitertagung des ÖPWZ kürzlich zum Thema „Der Einzelne und die Organisation“ gehalten hat

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