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Politische und soziale Demokratie

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Unter den vielen Irrtümern unserer Zeit gehört der Glaube an die alleinige Zauberkraft der politischen Demokratie wohl zu den gefährlichsten; denn er nährt eitle Illusionen und läßt die Zeitgenossen hinwegschauen über die gesellschaftliche Zersetzung und wirtschaftliche Anarchie, denen man auch durch ein noch so reibungsloses Funktionieren des demokratischen Staatsapparats nicht beizukommen vermag. Ohne Zweifel ist es gut und notwendig, ja unbedingt geboten, die parlamentarische Demokratie, die ohne ein Mehrparteiensystem nicht gedacht werden kann, gegen die aus dem Osten heranbrandende Welle einer neuen Despotie bis zum äußersten zu verteidigen, aber dieser Abwehr allein kann die Rettung des Abendlandes nicht gelingen. Schon deshalb nicht, weil die soziale Problematik der Gegenwart weit hinausgreift über den Bereich, den wir als den politischen anzusehen pflegen. Noch bedenklicher aber erscheint das Vertrauen in die allein heilende und segenspendende Kraft der politischen Demokratie, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt, daß es beileibe nicht nur dämonische Kräfte sind, die den Willen zum sozialen Umsturz unentwegt lebendig und aktionsbereit erhalten, überall in der Welt stehen — allem demokratischen Optimismus zum Trotz — die Spartakusse des 20. Jahrhunderts bereit und lauern auf den Augenblick, der ihnen eine Chance zur „direkten Aktion“ bieten könnte. Diese Chance wird so lange nicht end-, gültig geschwunden sein, als der Gegensatz zwischen politischer Macht und sozialer Ohnmacht, der dem Gesellschaftsleben von heute das Gepräge gibt, weiter besteht.

Die Frage, die damit berührt ist, lautet schlicht und einfach: Werden wir mit der politischen Demokratie allein das Auslangen finden, oder bedarf diese vielmehr, um überhaupt dauerhaften Bestand haben zu können, der Ergänzung durch eine soziale D e m o-k r a t i e, die erst den gefährlichen Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft überwinden könnte? Es ist kein Geheimnis, daß diese Frage zumeist als sehr peinlich empfunden wird. Bedeutet sie doch eine ernste Beunruhigung derer, die keine Störung im Gefüge der überkommenen Sozialordnung wünschen. Und doch wird man gut daran tun, sich eine solche Beunruhigung gefallen zu lassen, damit nicht eines Tages die scheinbare Ruhe, deren sich das soziale Ordnungssystem von heute erfreut, von einem Erdbeben verhängnisvollsten Ausmaßes erschüttert werde.

Es braucht wahrhaftig keiner besonderen Hellsichtigkeit und Feinfühligkeit, um zu erkennen, daß wir uns bereits mitten in jener sozialen Entwicklungsphase befinden, wo das unausgeglichene Nebeneinander von politischer Demokratie und sozialer Autokratie als Quelle beständiger revolutionärer Wirren und vielleicht sogar schwerer Katastrophen deutlich offenbar wird. Die Selbstbestimmung in der Sphäre des Staates fordert eben gebieterisch die Überwindung der Fremdbestimmung im Bereiche des Berufs- und Arbeitslebens, wenn anders nicht das Interesse an der politischen Demokratie allmählich absterben und die Empörung über den Zustand der sozialen Unmündigkeit, zu der das Gros der arbeitenden Menschen unseres industrialistischen Zeitalters verurteilt zu sein scheint, in elementaren Ausbrüchen zutage treten soll.

Gesteht man zu, daß die demokratische Ordnung des Staates die Frucht eines Hochstandes politischer Kultur ist, so wird man schwerlich in Abrede stellen können, daß der Entwicklungsstand sozialer Kultur, den wir immerhin schon erreicht haben, eine ähnliche Frucht zeitigen muß, daß also die soziale Demokratie fällig zu werden beginnt. Wie dem Patrimonialstaat das Sozialsystem der Leibeigenschaft und des Feudalismus, dem absolutistischen Staat die frühkapitalistische Autokratie des Unternehmertums und dem monarchischen Konstitutionalismus das System der Sozialfürsorge und Sozialpolitik stilecht entsprach, so gehört zum demokratischen Staat der Gegenwart als sein soziales Gegenstück die demokratische Ordnung des Berufsund Arbeitslebens. ,

In verschiedenen Staaten des westlichen Kulturkreises steht auch in der Tat das Problem der sozialen Demokratie schon seit einiger Zeit auf der Tagesordnung. Namentlich katholische Kreise sind es, die sich mit anerkennenswertem Mut und Eifer darum mühen. Wir hören von theoretischen Auseinandersetzungen, die zuweilen bis zur Formulierung naturrechtlicher Ansprüche der Arbeitnehmerschaft auf betriebliche Mitbestimmung gelangen, und von der Erörterung praktischer Möglichkeiten, die jetzt und heute für die Erprobung der sozialen Demokratie in Berufsstand und Betriebsgemeinschaft gegeben erscheinen. In Frankreich erheben katholische Sozialreformer die Forderung nach „Cogestion“, das heißt nach einer effektiven Teilnahme der Belegschaft an der Leitung der Industriebetriebe; in Belgien gibt es Vereinbarungen zwischen den katholischen Arbeitgeberverbänden und den christlichen Gewerkschaften, die auf praktische Verwirklichung der .Cogestion“ abzielen. Nicht zuletzt sind dann die Ansätze sozialer Demokratie, die sich bei uns in Österreich zeigen, zu nennen. Die sogenannten Werks- und Arbeitsgenossenschaften, für welche es schon gesetzliche Grundlagen gibt, stellen fraglos einen besonders aussichtsreichen Weg dar, auf dem der sozialen Demokratie der Durchbruch in die sozialwirtschaftliche Wirklichkeit gelingen kann, wenn die tatkräftige Mit-

Wirkung der Arbeitnehmerschaft, an der es jetzt noch vielfach fehlt, dafür gewonnen wird. Die genossenschaftliche Betriebsgestaltung, die da angestrebt wird, könnte sehr wohl das heute erreichbare Maximum an sozialer Demokratie bedeuten.

Neben dem genossenschaftlichen Grundsatz, der einstweilen nur in beschränktem Ausmaß auf allmähliche Verwirklichung rechnen Jcann, bildet selbstverständlich auch das bereits mehr oder minder gut bewährte System der betriebsrätlichen Kontrolle und Mitbestimmung ein sehr gewichtiges Element sozialer Demokratie. Es wäre darum ein schwerer Fehler, wenn sich die katholischen Sozialreformer seinen Ausbau weniger angelegen sein ließen als die Sozialisten.

Zwischen der Betriebsgenossenschaft als der vielleicht schlechthin vorbildlichen Form sozialer Demokratie und der Kontrolle und Mitleitung des Betriebes durch betriebsrätliche Funktionäre sind aber noch manche Zwischen- und Übergangsformen denkbar und erwägenswert. Bei Betrieben, welche die Rechtsform der Aktiengesellschaft haben, könnte die Mitbestimmung der Belegschaft etwa dadurch gesichert und unterbaut werden, daß man einzelne Arbeiter und Angestellte in den Aufsichtsrat beruft. Bei anderen Betrieben ließe sich in entsprechender Form dafür Vorsorge treffen, daß die Überprüfung der Produktivität und Rentabilität des Unternehmens stets auch durch Vertrauenspersonen der Belegschaft zu erfolgen hat. Endlich wäre als Minimalforderung geltend zu machen, daß die Schließung eines Werkes, an dessen Bestand die Existenz von Hunderten oder gar Tausenden von Arbeiterund Angestelltenfamilien hängt, nicht ohne das Votum der Belegschaft geschehen darf.

Die „Magna Charta“ der sozialen Demokratie hat wohl der vorjährige deutsche Katholikentag von Bochum in jener aufsehenerregenden Entschließung vorgelegt, deren wesentliche Sätze hier zitiert werden sollen: „Der Mensch steht im Mittelpunkt jeglicher wirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Betrachtung. Das bisherige Wirtschaftsrecht war zu sehr den Dingen und zu wenig den Menschen zugewandt. Es muß durch ein Betriebsrecht ersetzt werden, das den Menschen in seinen Rechten und Pflichten in den Vordergrund rückt. Die katholischen Arbeiter und Unternehmer stimmen darin überein, daß das Mitbestimmungsrecht aller Mitarbeitenden bei sozialen, personalen und wirtschaftlichen Fragen ein natürliches Recht in gottgewollter Ordnung ist, dem die Mitverantwortung aller entspricht. Wir fordern seine gesetzliche Festlegung. Nach dem Vorbild fortschrittlicher Betriebe muß schon jetzt überall mit seiner Verwirklichung begonnen werden. — Wie durch das Mitbestimmungsrecht aller das gemeinsame Interesse des gesamten Betriebes gefördert wird, so entspricht es der Natur der menschlichen Gesellschaft, daß auch sonst alle Menschen, die durch gemeinsame Leistung verbunden sind, ihre gemeinsamen Angelegenheiten selbstverantwortlich in einer berufsständisch-leistungsgemeinschaftlichen Ordnung verwalten.“

Bemerkenswert an dieser Resolution ist vor allem die These, daß das hier zur Debatte stehende „Mitbestimmungsrecht aller Mitarbeitenden“ den Charakter eines natürlichen Rechtes in gottgewollter Ordnung“ habe. Diese These blieb im Verlauf der Diskussion, die sich an die Entschließung knüpfte, nicht unwidersprochen. Die Kritiker betonten begreiflicherweise, man könne doch schwerlich von einem Naturrecht auf Mitbestimmung sprechen, da jahrhundertelang dieses naturrechtliche Postulat nicht erkannt, geschweige denn erhoben worden sei. Demgegenüber vertrat Kardinal-Erz-bischof Frings, in dessen sozialpolitischem Arbeitskreis die naturrechtliche These formuliert worden war, die Ansicht, daß es einen notwendigen Zusammenhang zwischen naturrechtlichen Forderungen und dem sozialen Entwicklungsstand gebe, daß also naturrechtliche Ansprüche, die bisher latent gewesen sind, in einer bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung offenkundig und erkennbar werden können. Von dem Augenblick an, wo dies der Fall ist, stellen solche Ansprüche einen Appell an das Gewissen aller Verantwortlichen dar. Damit sei indes keineswegs gesagt, daß nun sozusagen Hals über Kopf von heute auf morgen die Honorierung der Mit-bestimmungsansprüche der Arbeitnehmerschaft erfolgen könne oder müsse. Die Verwirklichung des Naturrechtes auf Mitbestimmung habe vielmehr Schritt für Schritt und unter gewissenhafter Be-dachtnahme auf die wirtschaftliche Tragbarkeit, die gegebenen Konjunkturverhältnisse und die besonderen Formen der verschiedenen Betriebsarten (Groß-, Mittel- und Kleinbetrieb) zu geschehen. Die Richtung allerdings, in der die sozial-reformerischen Bemühungen der Katholiken verlaufen müssen, sei klar gewiesen. Sie dürfe nicht mehr aus dem Auge verloren werden.

An der Bochumer Entschließung fällt ferner auf, daß sie nicht lediglich den Einzelbetrieb als Feld zur Erprobung der sozialen Demokratie nennt, sondern mit Nachdruck auch den Berufsstand erwähnt und von einer „berufsständisch-leistungsgemeinschaftlichen Ordnung“ spricht. Für uns Österreicher klingt diese Be-griffsprägnng wohl ein wenig anders als für die Deutschen, die in ihrem Vaterland keinen Versuch einer Staatsbildung „auf berufsständischer Grundlage“ erlebt haben. Gleichwohl wird es für uns gut sein, die Grundsätze berufsständischer Selbstverwaltung, die aus dem Konzept einer umfassenden sozialen Demokratie kaum herausgelöst werden können, endlich wieder ohne Bezugnahme auf das autoritäre Staatssystem von 1934/38 zu betrachten und durchzudenken. Versuchen wir dies, so werden wir unschwer zu der Einsicht kommen, daß es sich da nicht um ein Staatsprogramm, sondern ausschließlich Um ein Programm zur demokratischen Staatsverwaltung der einzelnen Wirtschaftszweige handelt, das freilich mir in ripm Mafip realisiert werden kann. als an Stelle der Klassenkampfparole die — sagen wir: Koalitionsparole tritt. Da diese sich im Staate als fruchtbar im Sinne der Demokratie erwiesen hat, ist nicht einzusehen, weshalb sie nicht auch im Bereiche der sozialwirtschaftlichen Organisation sich bewähren sollte.

Das Wissen um die unentrinnbare Notwendigkeit, der politischen Demokratie als sinngemäßes Komplement die soziale Demokratie an die Seite zu stellen, kann heute geradezu als eine soziale Grunderkenntnis von schicksalentscheidender Bedeutung bezeichnet werden. Dieses

Wissen zu vermitteln und damit die Voraussetzungen zur Demokratisierung des Berufs- und Arbeitslebens zu schaffen, heißt einen wesentlichen Beitrag zur Immunisierung des Abendlandes gegen den planwirtschaftlichen Totalitarismus leisten.

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