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Ein österreichisches Memento

19451960198020002020

Wir beenden im folgenden die Veröffentlichung der am 7. März 1938 überreichten Denkschrift Vizebürgermeisters a. D. E. K. Winter an Bundeskanzler Schuschnigg.

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Wir beenden im folgenden die Veröffentlichung der am 7. März 1938 überreichten Denkschrift Vizebürgermeisters a. D. E. K. Winter an Bundeskanzler Schuschnigg.

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Unter diesen fünf Voraussetzungen — Ausbau der Autonomie des Gewerkschaftsbundes und Ausbau der SAG als langfristige, Schaffung eines „Verfassungskonvents“, eines Nachrichten- und Verbindungsdienstes und einer Führung als kurzfristige Maßnahmen — ist es immer noch möglich, die Arbeiterschaft in den Abwehrkampf einzusetzen, gleichzeitig aber auch in der kurzen Zeit, die noch bleibt, Vorsorge zu treffen für ein organisiertes Levee en masse als zivile Rückendeckung für die militärische Selbstbehauptung Österreichs. Dabei muß man sich klar sein, daß auf diesem Wege auch ein historischer Irrtum gutgemacht würde, der darin bestand, daß man auf christlicher Seite glaubte, Österreich werde ohne sozialdemokratische Partei stärkeren Widerstand gegen den Nationalsozia lismus leisten können als mit ihr. Was hier vorgeschlagen wird, bedeutet nicht die organisatorische Wiederherstellung der sozialdemokratischen Partei, an die heute auch die Arbeiterschaft im Ernste nicht denkt, wohl aber die Schaffung von Ersatzgebilden, die psychologisch und organisatorisch die Funktion der ehemaligen Partei übernehmen können. Es liegt im Belieben der Regierung, diesen Ersatzorganisationen einen weiten oder engen Spielraum zu gewähren. Je weiter dieser Spielraum sein kann, das heißt, je mehr man den Personen, die ihn bestimmen, vertrauen kann, desto besser wird Österreich dabei fahren. Am Ende kann nur eine völlig ehrliche Kooperation katholischer und sozialistischer Kräfte Österreich retten oder nach der Katastrophe wieder aufbauen. Die Linke kann heute und auf absehbare Zeit überhaupt nur für und niemals gegen Österreich funktionieren. Die NSDAP aber wird heute und morgen unter allen Tarnungen und trotz aller geleisteten Eide nur gegen Österreich arbeiten!

Die neue Wirtschaftspolitik

Man muß auch die wirtschaftspolitischen Fragen, die Österreich angehen, auf einem weltumspannenden Hintergrund sehen. Die Zukunft der Weltwirtschaft liegt in der Weltkooperation England-Amerika. Diese Kooperation ist im Augenblick dadurch gestört, daß entscheidende englische Kreise noch nicht bis zur letz- : ten Konsequenz erkannt haben, wie sehr heute England nur noch vor der Wahl steht, seine Weltmacht mit Amerika zu teilen oder aber sie in dieser Generation noch zerfallen zu sehen. ] Die nächste englische Regierung wird ] diese Zusammenhänge besser begrei- i fen und neuerdings ihre Handlungen : darauf abstellen.

Nach dem Plan des amerikanischen ' Staatssekretärs Cordell Hull soll der 1 englisch - amerikanische Zusammen- 1 Schluß auf wirtschaftlichem Gebiet 1 einen neuen Kern der Weltwirtschaft . schaffen, an den sich die demokratischen Staaten anschließen können und 1 die auch die drei Antikomintern- 1 machte zur wirtschaftlichen Entschei- ‘ dung zwingt. Dieser angelsächsische ' Kern würde auch denjenigen Staaten ,

Südosteuropas, aber auch Südamerikas, die heute durch Clearingverträge mit Deutschland in eine immer größere Abhängigkeit von der deutschen Autarkiewirtschaft geraten, eine neue Chance der Rückkehr zur Weltwirtschaft geben. Deutschland hat die kleinen Staaten des Südostens gerade als nicht sehr zahlungsbereiter Schuldner, als rohstoffhungriges Land, das jedoch nur im Kompensationsweg zahlen kann, in den Kreis seiner Wirtschaft hineingezwungen. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit bereitet die politische vor. Die österreichische Wirtschaftspolitik hat in grundlegenden Fragen (Währungs-, Devisen- und Kreditpolitik) die Idee der Weltwirtschaft festgehalten und ist nur unter stärkstem Druck in das deutsche Clearingsystem hineingegangen. In dem Maße, als die englisch-amerikanische Kooperation sichtbar in Erscheinung treten würde, könnte daher Österreich leichter als andere Staaten den Anschluß an den angelsächsischen Kern einer neuen Weltwirtschaft vollziehen. Schon jetzt aber kann Österreich sich Schritt für Schritt auf diese Entwicklung einstellen, deren Unvermeidlichkeit den besten Kräften Englands längst klar geworden ist. auch wenn sie durch die letzte Wendung der englischen Politik noch einmal verdunkelt erscheint.

Auch in der Wirtschaftspolitik gibt es kurzfristige und langfristige Maß-nahmen. Zum Unterschied von der Arbeiterpolitik sind die langfristigen hier die wichtigeren.

Das kurzfristige Programm hätte in erster Linie Maßnahmen zur Senkung des überhöhten inländischen Preisniveaus zu umfassen. Die Abwertungen ringsum haben diesen bereits durch Zollsätze, Agrarprotektionismus, zünft- lerische Gewerbepolitik, Zurückdrän- gung der Arbeiterbewegung an sich beträchtlich hohen Preisspiegel neuerdings im Verhältnis zur Umwelt erhöht, daher den Abbau der sonstigen preissteigernden Umstände erst recht nötig gemacht. Überprüfung der Zollsätze, Eindämmung der zünftlerischen Auswüchse, Preissenkungsaktionen zwecks Umlagerung der unverhältnismäßig hohen Handelsspannen und moralische Stärkung der Arbeiterbewegung, durch die sie zu neuen Kollektivverträgen gelangt, liegen auf diesem Weg. Wie sehr diese Dinge zu bedenken wären, ergibt sich auch daraus, daß die korrekte, weltwirtschaftlich orientierte Währungspolitik unserer Nationalbank unserer Bevölkerung Opfer auferlegt, die um so schwerer zu tragen sind, als in Deutschland die gegenteilige Wirtschaftspolitik scheinbar zu einer Konjunktur von Dauer geführt hat. Daß in Deutschland nicht die Zauberkünste der Kreditausweitung, sondern der rücksichtslose Substanzverbrauch unter konzentriertem Einsatz für einen Zweck, die Aufrüstung, diese Scheinkonjunktur erzeugt, ist nur dann dem österreichischen Volke klar zu machen, wenn das gegenteilige Verhalten nicht offensichtlich zu im Augenblick wenigstens viel drückenderen Nachteilen führt.

Die kurzfristigen Maßnahmen genügen freilich nicht, so unerläßlich sie auch sind. Das Clearingguthaben, das wir bei Deutschland stehen haben, zeigt, daß unsere Wirtschaft trotz ihres Festhaltens an der weltwirtschaftlichen Zielsetzung Gefahr läuft, gleich einzelnen Balkanwirtschaften, in bleibende Abhängigkeit von Deutschland zu geraten. Die deutsche Südostraum-Wirtschaftspolitik geht darauf aus, durch Schuldenmachen und Schuldigbleiben die kleinen Gläubigerländer am Ende politisch willfährig zu machen. Da überdies auch noch die sonstige österreichische Basisindustrie (Eisen, Holz, Papier) .aufs allerstärkste von der deutschen Rüstungsindustrie abhängt, so ist klar, daß Österreich wirtschaftspolitisch keine leichte Aufgabe zu bewältigen hat. Es muß mit seiner Wirtschafts- und Währungspolitik durchhalten, bis es Schritt für Schritt den Anschluß an die neue angelsächsische Weltwirtschaft vollziehen kann. Es darf nicht in immer stärkere Gläubigerabhängigkeit von Deutschland geraten. Beides kann es nur, wenn es auch wirtschaftlich (nicht nur militärisch und politisch) den Mut hat, sich auf eigene Füße zu stellen.

Diese „eigenen Füße“ bedeuten für Österreich natürlich nicht die Autarkie, wohl aber den ernsten Willen zur wirtschaftlichen Selbsthilfe, die ebenfalls wieder allein durch fremde Hilfe honoriert wird.

Der Wille zur Selbsthilfe schließt drei Bereiche in sich, die hier nur skizziert werden können:

a) die Klärung des berufsständischen Aufbaues;

b) die genossenschaftliche Durchorganisation;

c) die Siedlungspolitik.

Der berufsständische Aufbau hat bisher einerseits der Zünftlerei, anderseits der Entmachtung der Arbeiter-

schąft Vorschub gęleistet, nicht jedoch einer konstruktiven Neuordnung der Wirtschaft. Daß die Bünde Behördencharakter besitzen, muß zur Auflösung des Staates führen. Daß der Gewerkschaftsbund als notwendige Querverbindung auch im berufsständischen Aufbau immer angezweifelt und immer wieder von seiner Aufkerbung gesprochen wird, ist geradezu verbrecherisch. Das Positive am bisherigen berufsständischen Aufbau, die berufsständischen Ausschüsse, hätte man billiger haben können, denn sie sind im Prinzip nichts anderes als die alten Kollektivvertragsausschüsse, wo sie aber mehr sind, ist es von Übel!

Vielleicht kann später einmal der berufsständische Aufbau mehr sein als bloße Zünftlerei, Auflösung des Staates und bestenfalls Wiederherstellung des früheren Zustandes auf allen möglichen Umwegen. In den USA vertreten heute Roosevelt, Lewis (CIO) und namhafte Katholiken die Idee eines Eigentumsrechtes des Arbeiters an seinem Arbeitsplatz. Darin liegt die alte Idee der Gewinnbeteiligung (natürlich auch der Verlustbeteiligung). Vielleicht ist diese Perspektive später einmal aus ideologischen Gründen nicht bedeutungslos. Heute steht aus praktischen Gründen die Sicherung des Gewerkschaftsbundes vor allen berufsständischen Diskussionen im Vordergrund. Die Arbeiter müssen das unbedingte Gefühl haben, daß der Gewerkschaftsbund ihre bleibende Interessenvertretung ist, nur dann taugt der berufsständische Aufbau.

Entscheidender ist die genossenschaftliche Durchorganisation von Stadt und Land. Auf diesem Gebiet liegen Möglichkeiten des inneren Durchhaltens, die nicht unterschätzt werden sollten. Die Entwicklung der •Konsumentenorganisation sollte also nicht erschwert werden. Ihr Ausbau zu einer allgemeinen Konsumenteninteressenvertretung liegt im Zuge der Entwicklung. Ebenso sollte man die unmittelbare Kooperation der agrarischen Genossenschaften mit der Konsumentenorganisation mannigfach fördern. Solide Wirtschaftspläne, die keineswegs mit einer gesunden Währung kollidieren müssen, halten es für möglich, auf dem Wege einer Organisierung des genossenschaftlichen Kontingentverkehrs zwischen Stadt und Land die industrielle Produktion für die

Landwirtschaft und die agrarische Produktion für die Industrie wechselseitig und aneinander zu steigern, soweit eben inländische Rohstoffe hierfür ausreichen. Die Anomalie der Produktionsdrosselung in Stadt und Land infolge Nichterreichens von Preisen, welche die Produktionskosten decken, bei gleichzeitigem Bedarf in beiden Sektoren der Wirtschaft, kann nur auf dem Wege der genossenschaftlichen

Organisation der Produktion füreinander aus der Welt geräumt werden.

Jetzt, da Deutschland unser Eisen, Holz, Erdöl, unsere Wasserkräfte, Agrarprodukte, qualifizierten Arbeitshände für seine Rüstungsindustrie verlangt, sehen wir plötzlich, daß wir gar kein armes, sondern ein rohstoff-

Resümee

Daß die Politik der letzten fünf Jahre falsch war, ist heute klarer denn je. Daß sie nicht einfach rückgängig zu machen ist, wissen diejenigen am besten, die sie seinerzeit verurteilten. Was fünf Jahre existiert, verpflichtet auch denjenigen, der es nicht geschaffen. Der zweimalige Bruch der verfassungsrechtlichen Kontinuität, 1918 und 1933, kann nicht durch einen dritten Bruch gutgemacht werden, sondern nur durch Erfüllung und Entwicklung der Maiverfassung. Auch wer der Überzeugung ist, daß Österreich glücklicher und sicherer wäre, wenn es noch die Demokratie, das Parlament und die Parteien gäbe, muß dies anerkennen. Wer insbesondere als österreichischer Katholik die Entwicklung 1933 miterlebt hat, wird sich der Gesamtschuld des österreichischen Katholizismus verhaftet fühlen und bis zum letzten Atemzug bereit sein müssen, sie gutzumachen zu helfen — wenn die Führung selbst sie gutmachen will.

Man mag auch die Linie für falsch und verhängnisvoll halten, die seit dem 11. Juli eingeschlagen wurde.

reiches Land sind. Es ist eine Frage der Organisation, was man aus diesen Schätzen für das eigene Volk macht. Gleichwie man militärisch den Gedanken erwägen muß, auch allein Widerstand zu leisten, so muß man auch ökonomisch ernsthaft daran denken, aus eigener Kraft durchzuhalten, bis der Anschluß an eine neue Form der Weltwirtschaft möglich ist.

Zu diesem Durchhalten gehört am Ende auch eine großzügige und planmäßige Siedlungsaktion, die nicht bloß Schrebergärten schafft, sondern einen neuen Typus der industriellen Kurzarbeit mit zusätzlicher qualifizierter agrarischer Arbeit verbindet. Der Einwand, daß es dazu gro-

ßer finanzieller Mittel bedarf, ist nicht stichhältig, wenn die Siedlungsaktion in richtiger Form organisiert wird. Der Wille des Staates zu großzügiger Organisation kann das Kapital höherer Ordnung sein, das noch immer genügend privates Kapital aus den Sparstrümpfen lockt.

Der „deutsche Kurs“ und die „deutsche Ideologie“ haben schon einmal Österreich zugrunde gerichtet; sie sind jedenfalls nicht das Mittel, Österreich auf die Dauer zu retten. Nicht das imaginäre deutsche Volk und die noch viel imaginärere deutsche Kultur, sondern Österreich und Europa kann auf die Dauer allein die Losung sein. Aber nicht die deutsche Ideologie ist das entscheidende Kennzeichen des Kurses vom 11- Juli,' sondern der Wille zum Frieden. Sofern dieser Wille nicht die Ehre und damit die Zukunft preisgibt, sofern er nicht auf Illusionen aufbaut, sondern wachsam bleibt und vorbaut, ist er dieselbe Haltung, die das englische Volk beseelt und die es immer noch einmal eine Brücke bauen und eine Chance gewähren läßt, um den Frieden zu retten. In der englischen Mentalität steht hinter dieser Friedensbereitschaft, falls sie sich nicht bewähren sollte, der stahlharte Wille, den nicht verschuldeten Krieg zu gewinnen. Das österreichische Volk ist weicher. Um so härter müßte die Führung sein! INDE

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