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Halbzeit für Englands Konservative

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Im Gegensatz zu seinem Vorgänger in Downing Street 10 ist Harold Macmillan ein Mann, der seine Gefühle, Launen und Stimmungen — wie der Engländer sagt — nicht am Aermel trägt. Seine Meisterschaft in der nationalen Kunst des „Untertreibens”, seine gemessene Höflichkeit, seine Sparsamkeit mit Worten, seine ganze Haltung macht den Eindruck unerschütterlicher Ruhe und unbeirrbarer Zielsicherheit. Darin vor allem lag es, daß er sich bei Uebernahme seines Amtes auf einen erheblichen Vertrauensvorschuß, und nicht allein seitens seiner eigenen Partei, stützen konnte. Dieser Kredit wurde nicht beeinträchtigt durch Macmillans Eintreten für den gestürzten Regierungschef, dessen Politik, vor allem auch in der Suezfrage, er als weitblickend und durchaus gerechtfertigt erklärte; in weiten Kreisen galt das lediglich als ein Beweis der ritterlichen Gesinnung des neuen Prime Ministers, und nicht als ein Anzeichen dafür, daß er vielleicht nicht ‘ der richtige Mann . sein könnte, um aus dem Schiffbruch der Edenschen Politik zu retten, was eben noch zu retten war. Tatsächlich gab die dem Regierungswechsel folgende Entwicklung zu einem solchen Zweifel zunächst keinen Anlaß. „Der Suezkanal ist Englands Lebensader” — mit diesem Schlagwort hatte Eden versucht, und nicht ohne Erfolg, die öffentliche Meinung für seine gewaltsame Aktion gegen Aegypten zu gewinnen. Auch wer mit der angewandten Methode zur Sicherung der freien Kanaldurchfahrt nicht einverstanden war, dachte kaum daran, die Richtigkeit jener Devise einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Dann freilich, als sich herausstellte, daß England trotz Abschnürung seiner „Lebensader” weiterleben konnte, wenn auch unter verschiedentlich erhöhten Schwierigkeiten, geriet die nationale Empörung, die der beschämende Ausgang des bewaffneten Unternehmens ausgelöst hatte, relativ rasch in Vergessenheit, und auch was weiter folgte, das schrittweise britische Nachgeben bis zur schließlichen Lösung der Kanalfrage im Sinne des ägyptischen Diktators, wurde im allgemeinen — abgesehen natürlich von Lord Beaverbrook und seiner Presse — mit Gleichmut hingenommen. So brachte die Liquidierung des bedenklichen Erbstücks” aus der Verlassenschaft Edens keine so großen Schwierigkeiten, als zu erwarten gewesen war. Dafür aber häuften sich andere, sehr ernste, und nicht durchweg auf das Konto Eden zu schreibende Probleme.

Die Lohn-Preis-Spirale ist in England seit zwölf Jahren nie recht zum Stillstand gekommen. Die historische Verantwortung für ihren ersten Antrieb, die Initialzündung sozusagen, trifft die damalige Labour-Regierung, die, wie ihr Führer Clement Attlee später selbst zugab, versucht hatte, zu rasch zuviel zu erreichen. Die Nationalisierung wichtigster Zweige der Industrie und die dadurch bedingte Hypertrophie des staatlichen Verwaltungs- und Kontrollapparats, und vor allem die gewaltigen Kostew all der überstürzt geschaffenen Einrichtungen, die das Konzept des sozialistischen Wohlfahrtsstaates verwirklichen sollten, legten dem öffentlichen Haushalt Lasten auf, die trotz schärfstem Anziehen der Steuerschraube inflationistisch wirken mußten. Die Möglichkeiten, diese Entwicklung aufzuhalten, waren beschränkt, denn TUC, der Gewerkschaftsbund, auf dessen zahlenmäßige und finanzielle Unterstützung Labour ja angewiesen war, lehnte nicht nur jede Verhandlung über einen länger währenden Lohnstopp ab, sondern bestand gerade in volkswirtschaftlich kritischen Momenten immer wieder darauf, für diese oder jene Gruppe neue Lohnforderungen durchzusetzen, und oft in einem Ausmaß, welches bereits eingetretene oder bevorstehende Erhöhungen der Lebenshaltungskosten überstieg. Die Hauptleidtragenden in diesem Prozeß waren natürlich die kleinen Leute, deren bescheidenes Vermögen in Staatspapieren oder anderen festverzinslichen Werten angelegt war, und die hilflos zusehen mußten, wie die Kaufkraft ihrer Einkünfte immer mehr abnahm. Aber da es sich ja hier um Nutznießer eines sogenannten arbeitslosen Einkommens handelte, war ihr Los nicht etwas, worüber Regierung und parlamentarische Mehrheit sich besondere Sorgen machten; eine Bedenkenlosigkeit, die sich allerdings, als die Regierung Attlee nach sechsjähriger Amtsdauer durch den drohenden Staatsbankrott zum Rücktritt gezwungen worden war, an der Wahlurne rächen sollte.

Nun sind aber auch die Konservativen bereits sechs Jahre an der Macht, und selbst unter ihren überzeugtesten Anhängern werden wenige behaupten, daß sich die Dinge in dieser Zeit grundlegend zum Besseren gewandelt hätten. Es ist dabei geblieben, daß es gerade die verstaatlichen Industrien sind, vor allem der Kohlenbergbau und die Eisenbahnen, die mit Preiserhöhungen vorangehen und durch die Verteuerung lebenswichtiger Güter oder Dienste immer neue Steigerungen des allgemeinen Preisindex geradezu erzwingen. Auch an der Häufigkeit ausgedehnter Streiks, die ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage des Landes und oft nur wegen innergewerkschaftlicher Streitigkeiten durchgeführt werden, hat sich nichts geändert; ebensowenig wie an dem Unvermögen der Regierung, es der Nation zum Bewußtsein zu bringen, daß ohne Erhöhung der nationalen Arbeitsleistung der erreichte Lebensstandard nicht gehalten, geschweige denn verbessert werden kann. Etwas allerdings ist anders geworden, aber ebenfalls nicht in einem günstigen Sinn. Unter dem Regime der ersten Nachkriegszeit erhielt sich .in den weiten Kreisen, die den wachsenden Steuerdruck als unerträglich empfanden und das Sinken des Geldwertes mit Sorge verfolgten, immerhin die Hoffnung, daß in ein paar Jahren, nach dem unvermeidlichen Fehlschlag des sozialistischen Experiments, die Dinge doch wieder ins richtige Geleise kommen würden. Diese Hoffnung ist nun geschwunden. Nachdem auch die Konservativen keine glücklichere Hand bewiesen haben, als ihre sozialistischen Vorgänger, glauben nur wenige noch an die Möglichkeit, daß die steuerliche Belastung sich mildern und daß das Pfund in einem Jahr noch die Kaufkraft besitzen könnte, die es heute hat. Eine so fatalistische Einstellung der breiten Massen leistet der Inflation unmittelbar Vorschub.

Die konstitutionelle Lebensdauer des gegenwärtigen Parlaments von Westminster erlischt im Juni 1960, es ist aber anzunehmen, daß seine Auflösung und die Neuwahl der Legislative bereits im Herbst 1959 erfolgen wird. Somit wäre es jetzt Halbzeit für die Regierung Macmillan, das heißt höchste Zeit, das nachzuholen, was sie bisher versäumt hat, und das zu tun, was ihres Amtes ist, nämlich mit Entschlossenheit zu regieren. Zwar hat der Premier selbst dieser Tage erklärt, es sei besser, es gelegentlich auf einen offenen Bruch ankommen zu lassen — er sprach unter Bezugnahme auf Lohnkonflikte —, als immer nachzugeben und untätig zuzusehen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen, aber damit ist der Vorwurf nicht entkräftet, der nicht allein seitens der Opposition, sondern zunehmend auch aus den Reihen der eigenen Partei gegen ihn und seine Minister- kollegen erhoben wird; der Vorwurf dęr Plan- und Ratlosigkeit und des Zauderns auch in der Durchführung bereits gefaßter Beschlüsse. Steht das Unvermögen des Schatzkanzlers, dem Verfall der Währung Einhalt zu tun, im Mittelpunkt zorniger Kritik, so ist das nicht die einzige Frage, die die Gemüter bewegt. Wie stellt sich die Regierung nun wirklich, nach so langem Hin- und Herreden, zum Gemeinsamen europäischen Markt und zur projektierten Freihandelszone? Wird sie sich schließlich für den Beitritt Englands entscheiden oder nicht? Ist ihr jetzt verlautbarter Abrüstungsplan, demzufolge die britische Armee auf die Hälfte ihrer schon jetzt bescheidenen Stärke reduziert und die Dienstpflicht überhaupt abgeschafft werden soll, in allen Konsequenzen durchdacht? Auch im Hinblick zum Beispiel auf die eventuell eintretende Notwendigkeit einer militärischen Intervention mit beschränkten Zielen, bei der von einem Einsatz anderer als der sogenannt konventionellen Waffen nicht die Rede sein kann? Und wie steht es mit Zypern — ist man sich in Whitehall noch immer nicht über den Weg schlüssig geworden, der beschritten und bis zum Ende gegangen werden soll, um dieses Problem vernünftig zu lösen?

Zu vieles ist unbeantwortet geblieben, und schon zu lange, wie die schweren Stimmenverluste der Konservativen bei allen Ersatzoder Regionalwahlen nicht nur der letzten Monate deutlich zeigten. Das bedeutet nicht, daß eine allgemeine Schwenkung nach „links” eingetreten wäre; wenn von solchen Richtungsänderungen überhaupt gesprochen werden kann, so wäre eher zu sagen, daß sich eine Tendenz nach „rechts” bemerkbar macht. Symptomatisch ist die Mäßigung, die sich der turbulente, aber sehr hellhörige Aneurin Bevan bei der Besprechung der Labour-Ziele neuerdings auferlegt; und auch die offene Stellungnahme so prominenter Labour-Abgeordneter wie Richard Stokes und Sir Hartley Shawcross gegen die von einigen Gewerkschaften noch immer propagierte Idee, daß das Heil des Landes in der Rückkehr zur radikalen Verstaatlichungspolitik der Regierung Attlee zu finden sei. Zumindest in den Randschichten der bislang konservativen Wählerschaft greift die Meinung um sich, daß im Falle einer neuerlichen Uebernahme der Macht durch Labour eine Richtung zur Geltung kommen würde, die ungleich vernünftiger und für das Gemeinwohl weniger gefährlich wäre, äaW es die Labour-Programmatik und -Praxis vor zehn Jahren war. Aus’ solchen Erwägungen ist freilich noch kein Schluß auf den Ausgang der nächsten allgemeinen Wahlen zu ziehen. Trotz allen Fehlschlägen und Fehlleistungen der unter ihrem Namen geführten Politik haben die Konservativen immer noch eine Chance, diese Wahlen zu gewinnen: unter der zwingenden Voraussetzung allerdings, daß sie in der ihnen noch verbleibenden Zeit den Beweis liefern, daß sie es doch verstehen, zu regieren.

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