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Sorgenkind: Frank Cousins

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Die Schlagzeilen der populären Presse weisen auch in England nicht immer auf die Dinge hin, die das Interesse der Allgemeinheit jeweils am meisten fesseln. Gewiß, man hat auch dort in weitesten Kreisen die sich überstürzenden Meldungen über die Entwicklung im Kongo mit Spannung und nicht geringer Sorge verfolgt; man fragt sich mit einem lästigen Gefühl der Unruhe, wie die Lage in Berlin, an diesem unbestritten neuralgischen Punkt erster Ordnung, sich weiter gestalten wird und was wohl die nächste Überraschung sein mag, die der fatale Nikita Chruschtschow aus dem Ärmel zu beuteln gedenkt; aber die seit langem kaum unterbrochene Reihe internationaler Komplikationen und Krisen hat die lebendige Anteilnahme des englischen Volkes an weltpolitischen Problemen ein wenig überfordert. Niemand widerspricht den bei jeder Gelegenheit wiederholten Erklärungen, daß der Kanal aufgehört habe, das Vereinigte Königreich vom übrigen Europa und dem Schicksal des kontinentalen Westens zu trennen, aber für den Mann auf der Straße ist England eben doch noch eine Insel, zumindest im politischen Sinn, und es müssen schon ganz besondere Ereignisse draußen in der Welt eintreten, um ihn in höherem Maß in Anspruch zu nehmen, als das, was sich im nationalen Leben, auf heimatlicher Erde, abspielt. So haben auch in letzter Zeit weder die Kapriolen eines Lu-mumba noch die massiven Drohungen des .,Mr. K“ aus Moskau eine so nachhaltige Aufmerksamkeit der breiten Schichten auf sich gezogen wie dje Vorgänge in den Gewerkschaften, die einerseits den finanziellen Rückhalt der Labour-Partei bilden und dafür ein politisches Mitentscheidungsrecht beanspruchen, anderseits durch ihre Disziplinlosigkeit — ein typisches Beispiel war kürzlich der wilde Streik der Seeleute, der der britischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt hat und von weitesten Kreisen aller Parteirichtungen sehr übel vermerkt wurde

— den gewerkschaftlichen Gedanken bis auf den Grund diskreditieren und der Labour-Führung arge Ungelegenheiten bereiten.

VORBILD TITO? Das Durcheinander im TUC, dem Gewerkschaftsbund, der mit 8,5 Millionen Mitgliedern mehr als 80 Prozent aller gewerkschaftlich Organisierten umfaßt, hat auf dem Anfang September auf der Isle of Man abgehaltenen Jahreskongreß alle bisherigen Rekorde übertroffen. Nach viertägigen heftigen Debatten lagen dem Plenum der Delegierten zwei Anträge, betreffend die britische Verteidigungspolitik, zur Abstimmung vor — die offizielle Resolution des TUC-Vorstands, die den von Gaitskell und seinem „Schattenkabinett“ vertretenen Standpunkt unterstützt und sich für die atomare Bewaffnung Großbritanniens als Abschreckungsmittel im Rahmen der NATO ausspricht, sowie die von Frank Cousins, dem streitbaren Generalsekretär der numerisch führenden Transportarbeitergewerkschaft, eingebrachte Resolution, die kategorisch den bedingungslosen Verzicht auf Ausrüstung der britischen Streitkräfte mit Kernwaffen fordert. Daß trotz ihrer offenkundigen Unvereinbarlichkeit beide. Anträge von der Versammlung der Delegierten angenommen wurden — der offizielle, der zwischen dem TUC-Vorstand und der Labour-

Exekutive vereinbart worden war, mit einer Mehrheit von 690.000 Stimmen, und der Antrag Cousins' mit einer solchen von weit über einer Million —, war an sich schon mehr als hinreichend, um selbst im sozialistischen Lager die Frage aufzurollen, inwiefern das TUC-.,Par-lament“ qualifiziert sei, in hochpolitischen Angelegenheiten, die völlig außerhalb des statutenmäßigen Wirkungskreises der Gewerkschaften liegen, Stellung zu nehmen.

Dazu kommt aber noch etwas anderes. Aus einem Interview, welches Frank Cousins auf seiner heurigen Ferienreise nach Jugoslawien der kommunistischen Tageszeitung „Politika“ gewährte, geht deutlich genug hervor, daß seine dann auf dem Gewerkschaftskongreß vorgelegte antinukleare Resolution nicht lediglich als ein taktisches Manöver gedacht war, um die schwankende Position Hugh Gaitskells als Parteivorsitzender noch weiter zu erschüttern. „Man kann unter dem System des Kapitalismus leben“, so erklärte Cousins in seinem Gespräch mit dem kommunistischen Redakteur, „aber damit darf sich die Labour-Bewegung nicht abfinden. Unser Ziel ist es nicht, dem arbeitenden Menschen das Leben unter dem Kapitalismus zu ermöglichen, sondern den Kapitalismus zu beseitigen. Die Gewerkschaften sind das organisierte arbeitende Volk, und wenn Labour die Partei der Arbeiter ist, muß die Politik der Partei von den Gewerkschaften diktiert werden...“ Cousins führte dann weiter aus, wie gut ihm die in Jugoslawien durchgeführte Verstaatlichung des Erwerbslebens gefalle. „Sie ist beispielgebend“, sagte er, „und sehr nahe dem, was ich in Großbritannien verwirklicht sehen möchte...“

Man kann sich vorstellen, wie gering die Freude war, die Cousins mit diesen Herzensergüssen bei den vernünftigen Männern der Labour-Exekutive ausgelöst hat. Teilen vielleicht auch manche von ihnen die in England weitverbreitete Illusion, daß sich der Kommunismus titoistischer Prägung von der moskowitischen Originalausgabe wesentlich und grundsätzlich unterscheide, so ist es zweifellos ihnen allen klar, daß nichts weniger geeignet wäre, den innerparteilichen Zersetzungsprozeß zum Stillstand zu bringen, als ein Versuch, dem Labour-Programm der Verstaatlichung, welches vom britischen Volk in dreimaligen Wahlschlachten und mit zunehmender Deutlichkeit abgelehnt worden ist, durch kommunistische Injektionen neue Zugkraft zu verleihen. Ob es auf dem bevorstehenden Parteitag in Scarborough gelingen wird, über diese und andere vordringliche Fragen, so das Verteidigungskonzept und die von der Parteileitung verlangte Vervierfachung der von den Gewerkschaftsmitgliedern zu entrichtenden politischen Umlage, eine Verständigung zwischen dem gemäßigten Flügel unter Gaitskell und den Ultralinken oder „Krypto-kommunisten“ unter Führung Cousins' und seiner Genossen zu erzielen, oder ob es, was viele für wahrscheinlicher halten, zum offenen Bruch und zur Spaltung der Partei kommt, bleibt abzuwarten; aber schon jetzt wird es im gemäßigt sozialistischen Lager nur wenige geben, die es für möglich halten, daß Labour früher als bestenfalls bei den übernächsten, in neun Jahren fälligen allgemeinen Wahlen den Kampf um die Macht im Staate mit einiger Aussicht auf Erfolg wiederaufnehmen könnte.

Es ist begreiflich, daß die Konservativen keine Tränen über die mißliche Lage des politischen Gegners vergießen. Die Stärke ihrer gegenwärtig und voraussichtlich für eine lange Reihe von Jahren unangreifbaren Position sollte sie aber nicht vergessen lassen, daß das Fehlen eines beträchtlichen politischen Gegengewichts für die regierende Partei selbst gefährlich werden kann, weil ihre Führer dann nur zu leicht in die Versuchung geraten, die Devise, unter der sie die Macht errangen, nicht mehr ernst zu nehmen. In dieser Hinsicht sollte der bedeutende Stimmenzuwachs, den die Liberalen seit geraumer Zeit bei Gemeindewahlen zu verzeichnen haben, als Warnung dienen. Im übrigen wäre es nicht zu früh, wenn sich die konservative Parteiführung etwas mehr mit den Zuständen in den Gewerkschaften beschäftigen würde. Millionen von Gewerkschaftsmitgliedern wählen konservativ, und ein großer Prozentsatz von ihnen ist der gewerkschaftlichen Organisation nur deshalb beigetreten oder in ihr verblieben, weil der Arbeitsplatz von einer solchen Zugehörigkeit abhängt. Daß es den Kommunisten, die es seit vielen Jahren zu keinem parlamentarischen Mandat mehr gebracht haben, trotzdem gelungen ist, wichtige gewerkschaftliche Posten mit Mitgliedern oder Mitläufern ihrer Partei zu besetzen — der Fall Cousins ist ja bei weitem nicht der einzige —, bestätigt die auch in anderen Ländern gemachte Erfahrung, daß die Nicht-kommunisten durch politische Interesselosigkeit, Indolenz und mangelnde Teilnahme an gewerkschaftlichen Angelegenheiten in der Regel selbst daran Schuld tragen, wenn radikalste Elemente die Führung an sich reißen und als voll legitimierte Sprecher der Gewerkschaften: auftreten können. Unter den „in der Mitte“ oder „rechts“ eingestellten Gewerkschaftsangehörigen aufklä> rend zu wirken und sie zu größerer Wachsamkeit und Aktivität anzuspornen, wäre für den konservativen Parteiapparat eine ebenso dringende wie lohnende Aufgabe. Sie ernstlich in Angriff zu nehmen, läge im Interesse nicht bloß des britischen Konservatismus, sondern der Gesamtheit des britischen Volkes.

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