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Staatspolitik und Wahlstrategie
Am 5. April schließt das englische Finanzjahr, und kurz darauf muß der Schatzkanzler seinen Budgetentwurf vorlegen, den letzten, über den das gegenwärtige Parlament von West- minster jibzustimmen haben wird. Ob dann noch Tage, Wochen oder sogar noch einige Monate vergehen werden, ehe die Auflösung des Parlaments und der Termin der Neuwahlen bekanntgegeben wird, liegt in der Hand des Premierministers, der natürlich bestrebt sein muß, einen für seine Partei möglichst aussichtsreichen Zeitpunkt zu bestimmen. Vermutlich hängt damit die Reise zusammen, die er kürzlich durch die mittelenglischen Industriebezirke unternommen hat, um’sich von der Stimmung in diesen Hochbürgen def Läbour Pärty ein unmittelbares Bild zu machen. Der herzliche Empfang, der ihm überall bereitet wurde, in den Fabrikhallen, wo ihn die Belegschaften hochleben ließen, in den Kantinen, wo er seine Mahlzeiten bei zwanglosem Gespräch mit Arbeitern einnahm, auf den Marktplätzen, wo sich vielgeplagte Hausfrauen um ihn drängten, um ihm die Hand zu schütteln, konnte ihn wohl davon überzeugen, daß die Wirksamkeit seiner Gabe, persönliche Sympathien zu gewinnen, nicht auf das konservative Lager beschränkt ist. Aber allein schon die Erinnerung an die bittere Niederlage, die Winston Churchill trotz seiner beispiellosen Popularität beim Wahlgang von 1945 erfahren mußte, wird Harold Macmil 1 a n vor der Illusion bewahrt haben, daß der Einfluß seines persönlichen Charmes, dessen er sich zweifellos bewußt ist, genügen könnte, um das bisherige konservative Gefolge bei der Stange zu halten, oder gar, um einen merklichen Einbruch in die Reihen der sozialistischen Wählerschaft zu erzielen. Er ist ein Realist, wie sich auch, namentlich in letzter Zeit, an seinem deutlichen Bemühen gezeigt hat, bei der Erwägung staatspolitisch notwendig erscheinender Maßnahmen die Wünsche der breiten Massen, also das wahlstrategisch Nützliche, nicht außer , acht zu lassen.
Der Tiefstand des konservativen Stimmungsbarometers war wohl im vorigen Jahr erreicht, als die Regierung, um den weiteren Verfall eines wesentlichen Teiles des Volksvermögens hintanzuhalten, die Auflockerung des Mieterschutzes in ihr Programm aufgenommen hatte. Dieser Maßnahme, aus der Labour begreiflicherweise reichlich Kapital zu schlagen hoffte, ist inzwischen ein Schritt gefolgt, der die Barometernadel wieder auf „freundlich” weisen ließ. Durch Bereitstellung bedeutender Kredite zu sehr mäßigem Zinsfuß wird auch Mietern von bescheidenem Einkommen die Möglichkeit zum Erwerb einer Eigentumswohnung oder eines eigenen Einfamilienhauses geboten; eine Chance, die den durchschnittlichen Engländer bestimmt mehr anspricht als der sozialistische Plan, Miethäuser zu verstaatlichen und damit den privaten Hausherrn durch einen vermutlich nicht viel rücksichtsvolleren bürokratischen Apparat zu ersetzen. Ein ähnliches Geschick in der Koordinierung volkswirtschaftlicher, sozialpolitischer und wahlstrategischer Momente bewies die Regierung Macmillan auch mit dem Erlaß von Bestimmungen, die dem kleinen Sparer den Kauf von Aktien erleichtern. Damit dürfte das schon längst nicht mehr sehr populäre sozialistische Schlagwort von der Notwendigkeit der Verstaatlichung wichtiger Industrien weiter an Zugkraft verlieren. Sp hat sich dieser Tage selbst ein prominentes Mitglied der seinerzeitigen Regierung Attlee, Sir Hartley Shawcross, über die sozialistischen Doktrinäre lustig gemacht, die ihre Verstaatlichungsparole mit dem Argument zu verteidigen suchen, die Aktionäre hätten zuwenig Kontrolle über die Geschäftsführung ihrer Gesellschaft. „Alleinbesitzerin eines verstaatlichten Unternehmens”, erklärte der bekannte Jurist, „ist sozusagen die Allgemeinheit, die aber hinsichtlich Kontrolle keineswegs besser gestellt ist, als es die seinerzeitigen Aktionäre waren. Diese waren wenigstens in der Lage, ihren Verwaltungsrat wegen mangelnder Obsorge vor Gericht zu zitieren; eine Möglichkeit, die für die Allgemeinheit gegenüber Parlament und Regierung nicht besteht.”
Bei ihrem Vorhaben, ein ihr günstiges Wahlklima zu schaffen, sind der konservativen Regierung glückliche Umstände zu Hilfe gekommen. Die amerikanische Rezession hat sich weniger fühlbar ausgewirkt, als befürchtet worden war; der Preisverfall auf den Rohstoffmärkten hat die durch Lohnsteigerungen bedrohte Konkurrenzfähigkeit der britischen Industrie verbessert und verstärkte Ausfuhren, namentlich auch nach dem Dollarraum, ermöglicht; die unverhofft günstige Entwicklung der Gold- und Devisenreserven erlaubte, trotz der damit verbundenen inflationistischen Tendenzen, die Aufhebung der den Ratenkauf beschränkenden Bestimmufigen, und schließlich auch, zunächst allerdings nur für den ausländischen Besitzer, die Wiedereinführung der Konvertierbarkeit des Pfundes; letzteres eine Maßnahme, die auch im Inland dem Vertrauen -zur Währung und damit dem Prestige der konservativen Staatsführung zugute kommen mußte.
Anderes freilich wirkt sich weniger günstig aus. Da ist vor allem die Arbeitslosenzahl, die jetzt auf mehr als 600.000 gestiegen ist. Wenn das laut offizieller Statistik auch nur etwa 2,9 Prozent der gesamten Arbeitskräfte sind, so genügt es für immer erneute Angriffe auf die Wirtschaftspolitik der Regierung. Einen weiteren schwachen Punkt bildet die nicht bloß von der Opposition kritisierte Unsicherheit, um nicht zu sagen Planlosigkeit der Regierung in den Fragen der Landesverteidigung. Wenn auch die angekündigte Abschaffung der Wehrpflicht — ab 1963 soll die Armee nur noch aus Freiwilligen bestehen — fast allgemein begrüßt worden war, so erregen die ständig wechselnden Konzepte des Verteidigungsministers Sandys ein fast ebenso weit verbreitetes Mißtrauen. Ob eine nur 180.000 Mann starke Berufsarmee, wie Sandys sie gegenwärtig plant, hinlangen wird, um den weitreichenden Bündnis- und sonstigen militärischen Verpflichtungen Großbritanniens nachzukommen, erscheint ebenso zweifelhaft wie die Vorstellung, daß die in allen Zweigen der bewaffneten Macht durchgeführte nukleare Ausrüstung die Beibehaltung konventioneller Streitkräfte überflüssig machen werde. Als ganz verfehlt hat sich jedenfalls die Annahme erwiesen, daß der Abbau im Personal-stand der militärischen Dienste den finanziellen Aufwand wesentlich verringern würde. Infolge der hohen Kosten supermoderner Rüstung ist das Gegenteil eingetreten- Im September 1956 betrug der Gesamtstand der britischen bewaffneten Macht 780.000 Männer und Frauen; 318 Millionen Pfund waren die Kosten für das Jahr. Im September 1958 zählte man nur noch 600.000 unter den Fahnen Dienende, der Jahresaufwand war .aber bloß auf 313 Millionen gesunken. Mit der Herabsetzung des Personalstandes um 180.000 waren also lediglich fünf Millionen Pfund eingespart worden. Ob und wann die von der Regierung für „später” versprochene bedeutende Verminderung der Verteidigungsausgaben Tatsache wird, bleibt abzuwarten.
Ziele der Kritik, ob sie berechtigt sein mag oder nicht, bieten auch das Foreign Office und das Kolonialministerium. Die offenbar völlige Ueberraschung, die der blutige Umsturz in Bagdad und jetzt der Ausgang der Kämpfe in Kuba bei den Herfen in Whitehall ausgelöst hatten, mußte die Frage aufrollen, ob die Informationsdienste der Regierung so schlecht funktionierten, daß sie selbst von den bevorstehenden Ereignissen keine Ahnung hatten, oder ob man sich in London einfach nicht die Mühe gemacht hatte, von den einlangenden Meldungen und Warnungen Notiz zu nehmen. Mangelnde Voraussicht oder Ungeschicklichkeit wird der Regierung auch in Angelegenheiten des Empire, und zwar wiederum nicht nur seitens der sozialistischen Opposition, vorgehalten. Diese Vorwürfe richten sich unter anderem gegen die nicht sehr glückliche Art, in der versucht wurde, die im Verhältnis zu Malta entstandenen Schwierigkeiten und Spannungen zu überwinden, wie auch gegen die Unschlüssigkeit des Kolonialministeriums in der Frage des Zusammenschlusses und der Autonomie von Kenya, Tanganjika und Uganda; ganz zu schweigen von der Frage Zypern, die der Opposition seit Jahr und Tag reichliche Munition für ihre Attacken gegen die konservative Regierung geliefert hat, unbeschadet des Umstandes, daß Großbritannien aller Wahrscheinlichkeit nach auch unter sozialistischer Führung der Lösung dieses verwickelten Problems nicht hätte näherkommen können. Es wird daher ein sehr bedeutender Erfolg für die Regierung Macmillan sein, wenn das jetzt endlich zustande gebrachte Gespräch zwischen Griechenland und der Türkei zum erstenmal eine wirkliche Aussicht für die friedliche Bereinigung des Streites um Zypern eröffnet.
Was in England den vielzitierten „Mahn auf der Straße” zur Zeit am meisten beschäftigt, ist die Erwartung dessen, was ihm das neue Budget wohl bringen mag. Wird es tatsächlich, wie vielfach vermutet wird, zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer kommen? Wird der Schatzkanzler es übers Herz bringen, den einen oder anderen Artikel des täglichen Bedarfes von der Last der Umsatzsteuer zu befreien? Heathcoat A m o r y ist sich der Bedeutung dieser und ähnlicher Fragen für die allgemeine Stimmung im Lande natürlich sehr genau bewußt und wird sein Bestes tun, um in seinem Budgetentwurf möglichst vielen zumindest etwas zu bringen. Ebenso wie man sich darauf verlasset kann, daß Harold Macmillan nach seiner Rückkehr aus Moskau zwar nicht, wie weiland Nevįlle Cham- berlain, einen Zettel schwingend, rufen wird: „Das bedeutet Frieden in unserer Zeit”, es aber wohl verstehen wird, glaubhaft zu machen, daß seine Reise nicht umsonst war, sondern den Interessen Großbritanniens und der gesamten westlichen Welt gedient hat.
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