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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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112MAL „SCHULDIG“ sprachen die Geschworenen, als sie nach dem während drückend schwüler Julifage im Wiener „Grauen Haus“ anberaumten Prozeß gegen aus sowjetischer Gefangenschaft vor kurzem zurückgekehrte ehemalige Schutzpolizisten die einzelnen Schuldfragen zu beantworten hatten. Sie machten sich diesen Spruch bestimmt nicht leicht. Auch kann niemand sagen, daß die Verhandlung in einer von Rachedurst gekennzeichneten Atmosphäre vor sich gegangen ist. Dazu lagen die schrecklichen Vorkommnisse schon zu weif zurück. In unserer schnellebigen Zeit bedeutet ein Jahrzehnt schon eine Zeitspanne, in der sehr viel, manchmal auch zuviel vergessen wird. Darum intervenierten auch mitunter sehr exponierte Politiker — wie wir annehmen wollen im guten Glauben — zunächst für die Angeklagten. (Sie dürften jetzt nicht schweigen!) Und Mittagsblätter schrieben von einem bevorstehenden „ersten Heimkehrerprozeh“. Sie änderten ihre Meinung sehr rasch. Aus den umworbenen „Heimkehrern“ wurden über Nacht „Mordpolizisfen“. „Die Furche“ hat sich von allem Anfang an gegen eine falsche Gleichung „Heimkehrer“ — Heimkehrer ausgesprochen. Sie darf nun, da der durch das Eingreifen der Besatzungsmacht beinahe um ein Jahrzehnt vertagte Prozeß zu Ende und das Urfeil gefällt ist, über die verurteilten Angeklagten, denen bei Anrechnung ihrer in sowjetischen Gefängnissen verbüßten Haft in einigen Jahren die Freiheit winken dürfte, hinweg, auf den Angeklagten zeigen: Auf der Anklagebank saß wieder ein — nein jedes — politisches System, das in harmlos aussehenden Kleinbürgern die wildesten Instinkte freigibt. Denn täuschen wir uns nicht: jene Typen von Zeitgenossen, die, wenn sie losgelassen, gestern Juden liquidierten, massakrieren morgen Kommunisten, übermorgen Priester usw. Die ehemaligen Schutzpolizisten voh Borislaw wurden schuldig, als eine böse Zeit die Riegel menschlicher Gesittung lockerte und nur noch einsame Gewissen zu widerstehen wagten. Sehen wir deshalb zu, daß unsere Zeif in den Fugen bleibt. Das isf das grofje Menetekel des Grauens von Borislaw, das in diesen Tagen noch einmal vor unseren Augen vorüberzog.

MODENSCHAU IM ARSENAL. Im Rahmen einer Pressekonferenz im Heeresgeschichtlichen Museum zog der Minister für Landesverteidigung eine Zwischenbilanz der Aufbauarbeit seines Ressorts, stellte einige der neuernannten Kommandanten — unter ihnen vor allem den Truppeninspekior Oberst Erwin Fussenegger — der breiteren Oeffentlichkeit vor und führte auch unter allgemeinem Interesse einige Modelle der Uniformen des neuen Bundesheeres vor, wie sie nun wirklich getragen werden sollen. Der Minister betonte dabei, dafj es sich um „provisorische“ handle. Die Erfahrungen sollen das letzte Worf sprechen. Der Grundsatz ist gut. Die Erfahrungen des einfachen Soldaten wie des Offiziers werden auch sicher die Frage Hemd und Krawatte oder Feldbluse einmal in dem Sinn korrigieren, wie wir schon immer angenommen haben. Zur Zeit möchte man es aber mit den „Schlipssoldaten“ versuchen. Nun gut; hat man doch endlich die hierzu notwendige Verlängerung der Bluse und Ergänzung durch einen Stoffgürtel durchgeführt. So sieht der Soldat und auch der Unteroffizier nicht mehr so übel aus, wie es manche behaupten. (Den Manfel wird man aber besser nach wie vor hochgeschlagen tragen lassen. Saloppheit um jeden Preis ist weder schön noch für Soldaten erstrebenswert.) Ob die Offiziere auf die Dauer mit ihrer Montur zufrieden sein werden, wird sich noch herausstellen. Die Fürsprecher der Tellerkappe sind jedenfalls zur Zeit still geworden. Niemand sprach diesmal von ihr. Und das ist recht so. Dah der neue Panzersoldat — vor allem wenn er Gefreiter ist — wie ein uniformierter Sohn der Mutter Italia aussieht, isf auf die ebenfalls aus amerikanischen Magazinen — „Räumungsverkauf“ beim Auszug der Besatzung — stammenden Monturen zurückzuführen. Sie sollen bei dieser Truppe ausgetragen werden.

WOLKEN UBER DEN BRITISCHEN INSELN. Der britische Premierminister hat einen Alarmruf ausgestoßen; Großbritannien, so erklärte er, sei in tödlicher Gefahr, allmählich zu verarmen. Es war vielleicht kein Zufall, dafj zur Abgabe dieser düsteren Prognose Manchester gewählt wurde, eines der großen Zentren, von denen aus der englische Handel mit Erzeugnissen aller Art seine beherrschende Position auf den Weltmärkten erobert hatte; in einer Vergangenheit freilich, der,-die Gegenwart sehr unähnlich geworden ist. Die einst unaufhaltsam siegreiche Offensive des englischen Handels hat sich längst in eine schwer ringende Defensive gewandelt. Dazu haben Umstände beigetragen, die zum Teil unabwendbar waren; so die rasch wachsende Industrialisierung früherer Kolonialgebiete, die vor Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit fast ganz auf die Einfuhr industrieller Erzeugnisse angewiesen waren; die geradezu phantastische Entwicklung der amerikanischen Produktionskapazität; die Absperrung normaler Handelswege .durch das Niedergehen „eiserner Vorhänge“ oder solcher „aus Bambus“ Aber die entscheidenden Ursachen lagen im Lande selbst. Sir Anthony haf das angedeutet, allerdings mit einer Behutsamkeit, die es fraglich erscheinen läßt, ob seine Worte die gewollte Wirkung erzielen werden. Die Feststellung, dafj England nun ständig mehr konsumiert als produziert, sich also tatsächlich auf dem Wege zunehmender Verschuldung und Verarmung befindet, wird kaum hinlangen, den kurzsichtigen Egoismus zu überwinden, der mit parteipolitischen Schlagworten schon während des Krieges und seither in den breiten Schichten hochgezogen worden ist. Allzu vielen fehlt die Einsicht dafür, dafj die Gaben des sogenannten Wohlfahrtsstaates nichf vom Himmel fallen, sondern von der Gesamtheit des Volkes und schließlich jedem einzelnen be- • zahlt werden müssen; dah durch die als Allheilmittel gepriesene „Neuverteilung des Nationalvermögens“ zwar eine Nivellierung des Einkornmens nach unten erfolgte, die Nation aber nicht reicher geworden ist; und daß, wie jetzt unter anderem die Vorgänge in der britischen Schiffbau- und Automobilindustrie zeigen, die Grenze überschritten ist, bis zu der die britische Wirtschaff das ständige Steigen der Lohnquoie bei gleichzeitiger Abnahme quantitativer und qualitativer Arbeitsleistungen ertragen konnte. Es ist zu befürchten, daß die Lage sich noch empfindlicher wird verschlechtern müssen, ehe das Bewußtsein der untrennbaren Verbundenheit jedes einzelnen mit dem Schicksal des Volksganzen wieder zur Geltung kommt und der „common sense“, der praktische Verstand des Engländers, sich neuerdings bewährt.

DER IDEOLOGISCHE BALLAST. Kaum war Rakosi weg und der neue ersfe Sekretär der Partei, Ernö Gero, im Amt, veröffentlichfe das Zentralkomitee der Partei der ungarischen Werktätigen seine neuen Richtlinien für den neuen Fünfjahrplan. Die Erläuferungen, die Ministerpräsident Hegedüs hier einer Fluf von Planziffern mitgegeben hat, lassen aufhorchen. Hegedüs begründete die übrigens bekannte Tatsache, wonach Ungarn gegenwärtig eine stark passive Außenhandelsbilanz aufweist, damit, daß man „zwischen 1949 und 1953, da die internationale Lage außerordentlich gespannt war, große Beträge für die Landesverteidigung und die damif zusammenhängenden Investitionen aufwenden“ mußte und daß sich dadurch Ungarn gegenüber den Ostblockstaaten tief in Schulden stürzte. Da aber zugleich der Lebensstandard der Bevölkerung erheblich gesunken sei, mußfe Ungarn ab 1953 aus den „kapitalistischen“ Ländern landwirtschaffliche Produkte „in sehr bedeutenden Mengen“ importieren, wodurch wiederum die Schulden Ungarns gegenüber diesen Ländern erheblich heranwuchsen. Man sieht aus diesen Worten Hegedüs', daß die Zugehörigkeit zum Ostblock dem ungarischen Normalverbraucher einiges kostet, da solche Dinge, zumal sie sich herumsprechen, auf die Stimmung der Bevölkerung erheblich drücken — ein Umstand, der den heutigen Führern in Ungarn anscheinend gar nicht gleichgültig isf — würde man also glauben, daß der neue Fünfjahrplan, der ja unter dem Motto der „Hebung des Volkswohlstandes“ verkündet wurde, diesen früher begangenen Fehlern Rechnung frage und andere Gesichtspunkte als die Doktrin von der „Bedrohung durch den Imperialismus“ und ähnliches geltend mache. Zwei Beispiele zeigen, daß diese Hoffnung auf einen Gesinnungswandel noch verfrüht ist. Der Ministerpräsident sprach in seiner erwähnten Rede erstens von dem bevorstehenden weiteren Ausbau der Eisenindustrie, „obwohl das Rohmateria! importiert werden muß“, und von einem gesteigerten Getreideanbau, obwohl der Anbau arbeitsintensiver Pflanzen mit gleichzeitigem Getreide-imporf für Ungarn nach Erkenntnis der Fachleute weif rentabler wäre. Als Grund für die schlechtere Lösung, die er als solche selbst klar anerkannte, gab Hegedüs an, daß sowohl Walzstahl als auch Weizen nur aus kapitalistischen Ländern importiert werden könne, während die Sowjetunion Ungarn bloß Eisenerz zu liefern imstande sei. „Wir können uns aber von kapitalistischen Märkten nicht abhängig machen.“ Dieser Satz soll aber, meinte er, der Ausgangspunkt jeder wirtschaftspolifischen Ueberlegung sein. Seifen noch wurde die Malaise, unter welcher die Wirtschaft eines kommunistischen Landes chronisch leidet, von kompetenter Seite klarer ausgedrückt.

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