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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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EIN BINDEGLIED zwischen dem alten Oesterreich und dem so veränderten Heute nennt Theodor Hornbostel in einem Nachruf den „ritterlichen Streifer für Oesterreich“ (Friedrich Funder) Carl Freiherr von Karwinsky, der am 10. April in Schruns im 70. Lebensjahr gestorben ist. Carl von Karwinsky war gebürtiger Innsbrucker, empfing im Theresianum die traditionelle Ausbildung des begabten, staafstreuen und pflichfverschworenen Oesterreichers, im Jusstudium die Grundlage (ür seine verdienstvolle Tätigkeit im Staatsdienst. Als hochdekorierter Offizier kehrte er aus dem ersten Weltkrieg ins Amt der niederösterreichischen Landesregierung zurück, rückte bis zum Präsidialchef vor und wurde in entscheidungsreicher Zeit, 1933, zum Sicherheitsdirektor für Niederösferreich und Burgenland ernannt. Seine tiefe persönliche Verbundenheit mit Werk und Persönlichkeit des Kanzlers Dollfufj führte ihn noch im Herbst des gleichen Jahres als Staatssekretär für Sicherheit ins Kabinett. Das trug ihm die Verfolgung durch die nationalsozialistischen Machthaber ein: er kam nach Mauthausen und Dachau und holte sich dort vermutlich den Todeskeim — eine chronische Leberatrophie, die ihm nunmehr im Zusammenhang mit einer akuten Magenblutung den Tod gebracht hat. Die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg hatten den Rührigen nicht untätig gesehen. Besonders die Gründung des Forschungsinstituts für Fragen des Donauraumes ist sein Werk, das weiterwirken wird. Oesterreich verliert in Carl von Karwinsky einen der vornehmsten Vertreter des Beamtentums von altem Schlag — den Lesern der „Furche“ wird sein unerschrockenes Eintreten für die Klärung der Vorgänge im Juli 1934 unvergessen bleiben.

DIE „URLAUBSMESSE“ in der Wiener Secession, unter dem Titel „Reiseland Oesterreich“, hat mit gutem Grunde sich das Motto gewählt: „Schön ist der Urlaub in der Heimat.“ Die gewiß erfreuliche Entwicklung des Ausländerfremdenverkehrs, der seit 1937 um 175 Prozent gestiegen ist und mit dem Schillinggegenwert der valutarischen Eingänge der Oesterreichischen Nationalbank im Jahre 1957 rund 3,8 Milliarden erbrachte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dafj der Inländerfremdenverkehr seit 1937 nur um fünf Prozent gestiegen ist. Und weiter, dafj zwar die Nächtigungs-anteile der Wiener, die nach wie vor Niederösterreich und Burgenland bevorzugen, in den Bundesländern im Jahre 1957 gestiegen sind, dagegen die Nächfigungen in Wien von Besuchern aus den Bundesländern um nahezu sechs Prozent zurückgingen. Der Bundesminister für Verkehr und Elektrizitätswirtschcrfi wies in seiner Eröffnungsrede darauf hin, dafj der Fremdenverkehr nach der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Holzwirtschaft zum drittgrößten Devisenbringer wurde, dafj wir im Ausländerverkehr nur noch von Italien überfroffen werden, und betonte, dafj die überwiegende Mehrheit der werktätigen Menschen, besonders jene mit Kindern, das Inland aufsuchen. Für diese Gruppe haben Verkehrssensationen, wie der vielzitierte „Transalpin-Expreß“, untergeordnete Bedeutung. Diese Erholungsuchenden warten nach wie vor auf eine effektive Förderung der Familienerholung durch Familienfahrkarten, warten auf eine fühlbare Kinderermäßigung in den einzelnen Fremdenverkehrssfäften, warten auf Urlaubsheime, wo es geschulte Kindergärtnerinnen gibt, die sich der Kleinen annehmen. Was den Rückgang der Nächtigungen von Besuchern aus den Bundesländern in Wien betrifft, haben sich jene Kreise die Schuld zuzuschreiben, die seit Jahr und Tag die Errichtung tatsächlicher Miffelstandhotels (Kategorie C) auf die lange Bank schieben und glauben, mit dem Bau von zwei oder drei Profzpaiästen den Arbeiter aus Jenbach oder den Angestellten aus Sfeyr anziehen zu können. Die anzuerkennende Mühe der Verkehrsmittler, bei der die Postautobusse nicht vergessen werden dürfen, und die Arbeit des Wiener Kulturamtes mit den Festwochen verdient von der Seite einer umfassenden sozialen Familienurlaubsplanung dringend Unterstützung.

DIE FREIHEIT DER PRESSE gehört zu den wichtigsten Trägern der freien Welt. Volk wird zu Masse, zu einem Kollektiv, wenn es nicht durch die freie Meinungsäußerung ständig gezwungen wird, sich eine Meinung zu bilden, als Person Stellung zu nehmen. Nun gehört es zu den gern übersehenen und überschwiegenen Konflikten in der freien Welt, daß es zu schweren, ernsten und fragischen Auseinandersetzungen kommen kann zwischen freien Publizisten, freien Organisafionen und freien einzelnen gerade in der Frage: Wie wird die Freiheit richtig verteidigt? Es ist kein Zufall, daß mehrere international aufsehenerregenden Konflikte in den letzten Jahren alle sich an einer Frage entzündeten: Wie wird die Freiheit im Westen richtig verteidigt? Durch Atomrüstung oder durch andere Mittel und Wege politischer Auseinandersetzung und innerer „moralischer Aufrüstung“? In diesem Sinne kam es vor mehr als einem halben Jahrzehnt zum Kampf um „Le Monde“, die weltbekannte Pariser Zeitung. Relativ einfach war dort der Fall. Die Redaktion weigerte sich geschlossen, eine von der Mehrheit der Aktionäre verlangte Kursänderung durchzuführen, setzte sich durch und hält bis heute sehr erfolgreich ihre Unabhängigkeit. Viel schwieriger war bereits der zweite Fall, der Fall Reinhold Schneider, um 1949/50: viele westdeutsche, zumal christliche Organe sperrten ihm faktisch die Mitarbeit, da er in der Frage der Atombombe eine eindeutig ablehnende Halfung bezogen hatte. Es waren damals einsichtige Amerikaner (um die „Neue Zeitung“ in München), deutsch-evangelische Kreise und Altliberale vom Schlage des deufschen Bundespräsidenten, die dem plötzlich Verfemten die Tore wieder für ein publizistisches Wirken öffneten. Der dritte Fall betraf das Ausscheiden Dr. Sethes aus der Leitung der „Frankfurter Allgemeinen“. — Der vierte Fall liegt gegenwärtig vor und ist in Kürze in einem Briefwechsel zwischen Lorenz Stucki, dem Herausgeber der „Weltwoche“ in Zürich, und seinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Robert Jungk der Oeffentlichkeit bekanntgeworden. Dr. Stucki nahm das Auftreten Robert Jungks bei einer Frankfurter Kundgebung gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik mit Atomwaffen zum Anlaß, die Beziehungen abzubrechen: „Damit sind wir bestimmt nicht persönliche Feinde geworden, aber wir stehen in zwei getrennten Lagern, die sich in einer höchst fundamentalen und für ganz Europa vitalen Frage bekämpfen, beide, so wollen wir's annehmen, aus ehrlicher Ueberzeugung, beide in der Oeffentlichkeit.“ Robert Jungk hatte auf den Absagebrief erwidert: „Sie, Herr Doktor, sprechen von einer ,Barrikade', die uns nun trenne. Mir scheint, es trennt uns etwas anderes, nämlich die Verschiedenheit unserer Erfahrungen. Wären Sie selbst in Hiroshima gewesen, Sie müßten heute vielleicht ähnlich schreiben und sprechen wie ich!“ — Die in vornehmen äußeren Formen abgewickelte Trennung dieser beiden angesehenen Publizisten stellt die Tragödie, das Drama der Freiheit und der freien Welt besonders eindrucksvoll heraus: groß wie der drohende äußere Konflikt ist der innere Konflikt im Abendland, in der freien Welt, ist das Ringen: Was ist Wahrheit? Wie kann die Freiheit realisiert werden? — Dieser Konflikt muß durchgehalten werden, er muß, in immer neuen Ansätzen, gerade auch in der Oeffentlichkeit ausgetragen werden: Es würde Selbstverstümmelung und Selbstmord der freien Welt bedeuten, würden nicht einmal hier jene Stimmen von einzelnen und oft Einsamen zu Wort kommen können, denen ihr Gewissen verwehrt, auf der Rollbahn der Waffen in Gleichschritt zu treten. Der Tod Reinhold Schneiders am Osfer-sonnfag 1958 bedeutet auch in diesem Sinne eine ernste, unüberhörbare Mahnung.

GROMYKO KOMMT NACH BONN. Noch in diesem April wird zum erstenmal ein Mitglied der Regierung der Sowjetunion in Bonn eintreffen. Der Außenminister der UdSSR wird die Verträge unterzeichnen, die nach achtmonatigen Verhandlungen in Moskau abgeschlossen wurden. Sonderbotschafter Lahr erklärte dazu: „Wir haben in den achteinhalb Monaten einiges gelernt.“ Die Verträge betreffen bekanntlich: ein langfristiges Abkommen über den Waren- und Wirtschaftsverkehr im Gesamtvolumen von über acht Milliarden D-Mark; ein Protokoll über den Warenverkehr im Jahre 1958 und ein Abkommen über allgemeine Fragen des Handels und der Schiffahrt, ein Re-pafriierungsabkommen für Deutsche in der Sowjetunion, das nur in Deutschland publiziert wird. — Sofort nach Bekanntgabe des Abschlusses der Verträge und ersten Nachricht vom bevorstehenden Besuch Gromykos in Bonn bat der amerikanische Botschafter den Bonner Kanzler um eine Unterredung: verständlicher Reflex. — Die im Flusse befindlichen deutsch-russischen Verhandlungen sind von Wichtigkeit für die gesamten Ost-West-Beziehungen. Fast auf den Tag genau sind es 36 Jahre, seit Rathenau und Tschitscherin in Rapallo den berühmten Rapallo-Verfrag abschlössen, der die junge Sowjetunion aus der Isolierung und Einkreisung zu lösen begann. Der Vergleich mit Rapallo heute ist abwegig, der Bezug der Wirklichkeiten ist es nicht. Westdeutschlands Wirtschaff liegt heute nicht darnieder wie damals, die Sowjetunion ist nicht ein machtpolitisches Vakuum, in dem wesf-östliche Truppen und Interessen aller Art mit blanker Waffe um die Machf kämpfen. Die.Größenordnungen sind heute anders; gerade deshalb fällt die innere Bezogenheit auf. Wörtlich in letzter Minute wurde der Streik an der Ruhr abgeblasen, der 180.000 Arbeiter der Stahl- und Eisenindustrie betroffen hätte. Wer das „Streikprogramm“ für 1958 besieht, die Gefahr des Streiks in nicht wenigen Großsektoren der deutschen Wirtschaft, versteht die Sorge nicht weniger prominenter Politiken man möchte den Eindruck vermeiden, daß Westdeutschlands Wirtschaft heute oder morgen schon auf die riesigen Märkte im Osten angewiesen sei. In eben diesem Sinne gab in Köln der Verband der deutschen Industrie eine Erklärung heraus. Man möchte, verständlicherweise, Wirtschaft und Politik trennen. Dennoch gilt augenfällig: Wer Wirfschaft treibt, macht Politik. Wirtschaftspolitik eines Staates ist Staatspolitik ersten Ranges.

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