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Deutschland und die europaische Foderation

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Das deutsche Fazit von 1955 läßt sich einiger maßen sicher nur dann ziehen, wenn man bei der Bestandsaufnahme auf 1945, das Jahr Null unserer jüngsten Geschichte, zurückgeht und den totalen Zusammenbruch in seiner welthistorischen Verflechtung mit dem Zermahlen Europas zwischen der atlantischen und der russisch-asiatischen Welt betrachtet.

Kluge Beobachter der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts sahen schon vor mehr als hundert Jahren voraus, daß die beherrschenden Weltmächte des 20. Jahrhunderts Rußland und die Vereinigten Staaten von Amerika heißen würden. Europas Staatsmänner und erst recht die deutschen Politiker der Aera nach Bismarck haben diese Einsicht weder rechtzeitig gehabt, geschweige denn verwirklicht. In den Gleisen des kontinentaleuropäischen Denkens festgefahren, glaubte die europäische Mitte, auf sich selbst gestellt, das Gleichgewicht wahren zu können, ohne sich für einen der beiden Pole zu entscheiden und mit ihm zu verbünden. So blieb nach 1870 das Schicksal Europas dem ewigen Bündnis Berlin-Wien anvertraut, das militärisch für den Frieden zu stark und für den Zweifrontenkrieg zu schwach war.

Die Folge war die Entthronung Europas. Schon während des ersten Weltkrieges verlagerte sich innerhalb der westlichen Welt der Schwerpunkt von London nach Washington — mit dem fatalen Ergebnis, daß der Präsident der Vereinigten Staaten in völliger Unkenntnis der Tragweite seines Schrittes die Donaumonarchie zerschlug und so das damals geschlagene Rußland in die Anwartschaft auf Ost-und Mitteleuropa einsetzte. Diese Tragödie wiederholte sich 1945 in verstärktem Ausmaße. Roosevelts Beharren auf der ..unbedingten Kapitulation“ verlängerte nicht nur den Krieg, sondern beförderte Sowjetrußland — als Lohn für seinen späten Kriegseintritt gegen das bereits geschlagene Japan — nicht nur nach China, sondern auch ins Zentrum Europas hinein. Churchill war im Kreise der großen Drei zu schwach, um die Landung auf dem Balkan und den Vorstoß der atlantischen Truppen über Berlin hinaus durchzusetzen Es Hieb bei Jalta, und in Potsdam vollzog sich dann der groteske Schlußakt, daß die Vereinigten Staaten der Sowjetunion ganz Osteuropa und halb Mitteleuropa überließen. Seither sind Deutschland und Europa längs der Elbe geteilt; der politische Begriff Mitteleuropa ist verschwunden; Rußland hat seine Militärgrenze von Brest-Litowsk bis nach Weimar vorgeschoben: der freie Rest Europas ist auf Westeuropa reduziert, unfähig, sich aus eigener Kraft vor der drohenden Einbeziehung in den von Weimar bis Wladiwostok reichenden eurasischen Machtblock der Sowjetunion zu retten. Das Fazit der letzten hundert Jahre lautet also: Hauptsieger Rußland als Vormacht der bolschewistischen Weltrevolution — Hauptopfer Europa insgesamt, vorab Osteuropa und die inzwischen bolschewisierten Staaten Mitteleuropas, Deutschland aber — trotz seiner unbezweifelbaren Schuld am Ausbruch des Infernos — gerade „noch einmal davongekommen“, weil es — im Gegensatz zu den inzwischen bolschewisierten Staaten Osteuropas — mit dem gewichtigeren Teil noch in der freien Welt verblieb. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil jede deutsche Außenpolitik von dieser globalen Bestandsaufnahme der Wirklichkeit ausgehen muß, wenn sie nicht — überwältigt vom Schmerz über die nationale und menschliche Tragödie der Spaltung — den richtigen gesamteuropäischen Ansatz von vornherein dadurch verfehlen will, daß sie die deutsche Frage isoliert betrachtet.

Die ersten fünf Jahre nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands verstrichen, ohne daß die westeuropäische Umwelt das Ausmaß der europäischen Katastrophe von 1945 begriffen hätte. Es bedurfte des Vorprellens der Sowjetunion im quergeteilten Korea, um vor allem das Weiße Haus in Washington darüber zu. belehren, daß „good old Joe“ Stalin allen demokratischen Kriegsmaskeraden gegenüber Roosevelt zum Trotz der alte rote Zar geblieben war und keineswegs daran dachte, seinen atlantischen Verbündeten deshalb zu schonen, weil dieser ihm den Sieg geschenkt hatte. Nun raffte sich auch Westeuropa — aus Angst vor Stalins Aggression, aber voll Widerwillen gegen die unumgängliche Einbeziehung der Bundesrepublik — zur Abwehr an der Seite der Vereinigten Staaten auf und entwickelte jene Mixtur aus Partnerschaft und Mißtrauen vom Pleven-Plan über die EVG bis zur sofort kaltgestellten Westeuropäischen Union, der auf deutscher Seite von Anfang an der Kampf um die Priorität von Wiedervereinigung oder europäischer Föderation entsprach, so daß insgesamt bis heute nicht mehr als eine Echternacher Springprozession um den europäischen Sandkasten herausgekommen ist.

Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, die Schuld am Scheitern der so hoffnungsvoll begonnenen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft einseitig Frankreich deshalb zuzuschieben, weil die Pariser Nationalversammlung schließlich am 30. August 1954 mit einer schnöden Geschäftsordnungsdebatte über die EVG zur Tagesordnung überging. Gewiß — die Verantwortung der französischen Antieuropäer in der Allianz der Kommunisten mit den Nationalisten kann nicht wegdiskutiert werden- aber kaum weniger fatal waren die deutschen Mißgriffe. Hier steht an oberster Stelle das zu guter Letzt auch von der Regierung übernommene Klagespiel um die Verträge vor dem Bundesverfassungsgericht, dat im Westen zunächst den Eindruck erweckte, als könne die Regierung Adenauer nicht und als wolle sie vielleicht selber gar nicht mehr. So gewannen die im Mai 1952 völlig überrollten Europagegner Zeit zum wohlgezielten Gegenstoß, zumal niemand damit rechnete, daß die Septemberwahlen 195 3 die Bonner Verfassungsschwierigkeiten beheben würden. Inzwischen aber war Stalin abgetreten und dadurch der europäische Einigungswille seiner Spannfeder beraubt worden. Darüber hinaus war in Bonn in letzter Minute in die Verträge die automatische Erstreckung auf Gesamtdeutschland hineingeschmuggelt worden. Das aber hieß, in die Realität umgesetzt, die Unterwerfung des Raumes von Aachen bis Königsberg unter die amerikanische Tutel, die Verpflichtung Westeuropas zur Aufrollung der deutsch-polnischen Grenzfragen und den — theoretischen — Einbruch in die sowjetrussische Interessensphäre im austro-baltischen Raum. Das war nicht nur für Frankreich, sondern auch für England als. Garantiemacht Polens unannehmbar, und es wird einmal zu den interessantesten historischen Aufgaben gehören, zu untersuchen, ob die Erfinder der automatischen gesamtdeutschen Integrationsformel der EVG wußten, daß der geistige Führer der gaullistischen EVG-Gegner in Paris ein Kind polnischer Eltern ist, das mit der Verwerfung der EVG die Oder-Neiße-Grenze für Polen verteidigte. Es liegen Indizien dafür vor, daß gewissen deutschen Taktikern diese Konstellation genau bekannt war und daß sie die automatische I n t e g r a t i o n s f o r m e 1 mit der Hinterabsicht einbauten, darüber die EVG über die Pariser Kammer zu erledigen und dann über den europäischen Umweg zur deutschen Nationalarmee mit R a p a 11 o - P e r s p e k t i v e n zu gelangen. Schließlich wurde die EVG schon vor der Pariser Abstimmung dadurch getötet, daß die Bonner Koalition auf Drängen der SPD die NichtVerbindlichkeit der Verträge für die künftige gesamtdeutsche Regierung forderte und damit das auch zum Schutz vor Deutschland entworfene Vertragswerk faktisch annullierte.

Dazu kam der englische Widerwille gegen die EVG und die mit ihr verbundene Bereitschaft Deutschlands, Paris die Führung auf dem Kontinent anzutragen. Churchill gab schon im Mai 195 3 mit seiner Forderung nach einer Viererkonferenz auf höchster Ebene das für die EVG tödliche Stichwort für die Genfer Koexistenzkonferenz vom Sommer 1955. Er verweigerte der EVG jene Garantie für das Verbleiben der englischen Divisionen in der Bundesrepublik, die er dann sofort der nach London abgezogenen und dort bislang aufs Eis gelegten Westeuropäischen Union um so leichter geben konnte, als die englischen Truppen ohnehin nicht um unserer blauen Augen willen hier stehen, sondern weil England den Raum bis zur. Elbe für sein Radarwarnsystem benötigt. Diese scheinbar antikontinentale englische Regie, die mit Rücksicht auf das Commonwealth getarnt wurde, war in Wahrheit der Versuch' Großbritanniens, sich fals dritte Kraft wieder ins Spiel zu bringen. Nebenbei war sie auch ein Racheakt am angloamerikanischen Vetter, der sich während des Krieges seine Waffenhilfe für England mit britischen Stützpunkten hatte bezahlen lassen. Ein Teil dieses englischen Spiels ist auch die doppelte „Flucht“ des Zonenpendlers Otto John. Im Juli 1954 war seine erste „Flucht“ ein wohlgezielter Schlag gegen die EVG: John motivierte seinen Uebertritt ja mit der These, daß die EVG als amerikanisches Aggressionsprodukt den Weg zur deutschen Einheit versperre. Das jagte in Paris die Affekte gegen eine deutsch-amerikanische Allianz ebenso hoch wie das Mißtrauen gegen die deutsche Föderationsehrlichkeit. Jetzt, da die Bundesrepublik gegenüber Pankow in der Defensive liegt und London befürchtet, daß Westdeutschland dem Einheitssog verfalle und umfalle, heißt Johns Motiv zur „Rückflucht“, er habe eingesehen, daß die Wiedervereinigung unmöglich sei. Der Sprecher des Foreign Office nannte das eine „befriedigende Einsicht“. Es ist bezeichnend, daß Bonns ehemaliger Verfassungsschutzpräsident, der noch immer in der Londoner Anwaltsrolle steht, am Draht desselben Secret Service tanzt, der ihn seinerzeit in Köln eingesetzt hat.

Diese Analyse über das Scheitern der EVG führt zu der Feststellung, daß eine dauerhafte europäische Föderation nur dann erreicht werden kann, wenn der Antrieb dazu aus der Bejahung Europas als Eigenwert kommt, nicht aber, wenn — wie bisher — das Mißtrauen des Westens zwischen der Angst vor dem Kreml und der Furcht vor einem Rückfall Deutschlands in die Hitler-Aera hin und her gerissen wird und sofort zugunsten Moskaus erschlafft, sobald der Kreml vorübergehend die Koexistenztauben flattern läßt. Die Bundesrepublik kann diesen notwendigen neuen und letzten Anlauf zur Föderierung Europas nur dadurch erleichtern, daß sie die deutsche Frage •der gesamteuropäischen ein- und unterordnet, anstatt wie bisher den Verdacht zu erwecken, sie sage nur Europa, um entweder zur gesamtdeutschen Ost-West-Schaukel oder zu einem deutsch angestrichenen oder hegemoni-sierten „Teutschropa“ zu gelangen. Allzu schwer lastet der Schatten Hitlers auf seiner Konkursmasse, als daß wir uns der trügerischen Hoffnung hingeben dürften, die freie Welt werde sich für die isolierte deutsche Frage engagieren. Bislang aber ist es der deutschen Politik nicht gelungen, das gesamtdeutsche Anliegen als ein T e i 1 a n 1 i e-g e n der Freiheit ganz Europas, insbesondere Osteuropas wirklich populär und für den Westen attraktiv zu machen. Solange aber der Westen nicht dieses, die deutsche Frage mitumspannende Gesamtziel anstrebt, wird man uns bei isoliertem Pochen auf die Wiedervereinigung immer entgegenhalten, daß wir — in Vergleich zu Polen, der Tschechei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien usw. — mit der Verankerung des stärkeren Teils von Deutschland in der freien Welt noch relativ gut davongekommen seien.

In Unterschätzung ihrer eigenen Stärke haben die Vereinigten Staaten die einzige Chance zur Revision des europäischen und deutschen Jahres Null beim Tode Stalins verpaßt. Inzwischen hat der Kreml das Atomgleichgewicht wenn nicht erreicht, so doch so erfolgreich vorgeblufft, daß zwischen den beiden Weltmächten Uebereinkunft darüber besteht, den Status quo im großen und ganzen zu bewahren. Das kaum tragbare Pvisiko eines Atomkrieges schließt also eine militärische Revision zugunsten Deutschlands aus, gleichzeitig aber begünstigt die allgemeine Furcht vor dem Atomkrieg die Lokalisierung kleinerer Brandherde, leistet also dem Vorschub, der sich auf dieses Trickspiel am besten versteht. Zugleich besteht Uebereinkunft zwischen Ost und West darüber, daß beide Teile

Deutschlands keine atomischen Angriffswaffen produzieren und besitzen dürfen: im Ostblock wachen Polen und die Tschechei, im Westen Frankreich und England über dieses gesamtdeutsche Atomwaffenverbot.

Diese Situation kommt in erster Linie dem Kreml zunutze, weil er den härteren Aggressionswillen und die zielbewußtere europäische Konzeption auf „Russopa“ hin spielt. Dies trat ganz klar zutage, als er über die Sabotierung der Berliner Konferenz vom Jänner 1954 und den Indochinakrieg gegen Frankreich zugleich das Ende der EVG und die erste Genfer Koexistenzkonferenz erreichte, bei der Eisenhower die Forderung nach der Freiheit Osteuropas nur noch platonisch erhob. Der trotz aller inneren Spannungen sehr geschickt operierende und schnell taktierende Führersenat des Kremls wiederholte nach diesem entscheidenden Schlag gegen den Westen nicht die Fehler der EVG. Er dachte nicht daran, etwa für den Warschauer Pakt die automatische strategische Integration Gesamtdeutschlands in umgekehrter Richtung — also von Frankfurt an der Oder bis nach Aachen — zu fordern. Er begnügte sich auf der zweiten Genfer Konferenz vielmehr mit dem Beharren auf der Teilung Deutschlands längs der Elbe. Diese Aufspaltung des von ihm gefürchteten deutschen Industriepotentials ist seine innere und sichere Operationsbasis. Die Aggression aus der Sowjetzone heraus gegen die Bundesrepublik formuliert er nicht militärisch, sondern primär ideologisch, also „innenpolitisch“. Er überläßt es dem von ihm mitgefädelten „innerdeutschen Gespräch“ und der Wühlkraft seiner Agenten, die Deutschen an einen, das heißt unter seinen Tisch zu bringen. Dieser Taktik diente das deutsche Hauptereignis dieses Jahres, die Einladung des Bundeskanzlers nach Moskau. Weniger mit der vorgeschobenen Gefangenenfrage als mit dem ominösen Verdacht, der einzige Störenfried im planetarischen Koexistenzspiel der Großen Vier zu “sein und dann ganz auf der Strecke zu bleiben, zwang Moskau dem Bundeskanzler die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ab und sicherte sich so den Vorteil, als einziger unter den Großen Vier unmittelbar auf dem Bonner und Pankower Klavier zugleich spielen zu können.

Neben diesem unschätzbaren Vorteil hält.der Kreml weitere gewichtige Trümpfe in der Hand. Zum ersten die D e g r a d i e r u n g der deutschen Frage durch die allgemeine Furcht vor dem Atomkrieg. Zweitens den allzu deutlich sichtbaren Willen Eisenhowers, die nächsten Wahlen mit der Entspannungsformel - das aber heißt Status quo — zu gewinnen. Zum dritten ist Sowjetrußland der einzige unter den Großen Vier, der in dreifach gestufter Form die Revision der drei deutschen Ostgrenzen realisieren kann, sobald ihm der nationalistische Einheitsdruck stark genug erscheint, um ganz Deutschland schrittweise in sein Magnetfeld einzufangen. Man stelle sich einmal ganz nüchtern jene Stunde vor, in der eine gesamtdeutsche Nationalversammlung vor der Entscheidung über die künftigen außenpolitischen Bindungen stehen würde. Wie ein Auk-tionar könnte der Kreml anbieten: zum ersten die Wiedervereinigung bis zur Oder-Neiße für den Austritt aus der NATO, zum zweiten eine Teilrevision gegenüber Polen für eine deutsche Anlehnung an Rußland und zum dritten ein Gesamtdeutschland mit fünfter polnischer Teilung bis über Königsberg hinaus für eine deutschrussische nationalbolschewistische „Föderation“, der binnen kurzem ganz Europa bis zu den Pyrenäen gehören würde. Ein beträchtlicher Vorsprung des Kremls liegt weiter in der seit 1945 eingetretenen Insellage Berlins, und er hat in den letzten Wochen des vergangenen Jahres durch die Erhebung Ost-Berlins zur Hauptstadt der Sowjetzone bereits zu verstehen gegeben, daß er auch diese Karte ausspielen wird. Der Westen kann nur auf die Gefahr eines Prager Putsches hin West-Berlin in dieselbe Position bringen; der nationale preußische Mythos bleibt also einseitig in der Hand der Sowjets, und sie werden diesen Trumpf ausspielen, sobald im Westen Deutschlands der nationale Einheitswille den Einsatzwillen für die Freiheit an die zweite Stelle zu rücken droht, zumal sie genau wissen, daß ein Deutschland mit der Hauptstadt Berlin automatisch ins Magnetfeld Moskaus rückt, solange Polen unter sowjetischer Herrschaft bis Frankfurt an der Oder, also auf 60 Kilometer an das gesamtdeutsche Zentrum heranreicht.

Die Richtigkeit dieser düsteren Bilanz hat Eisenhowers Außenminister John Foster Dulles am 10. Dezember bestätigt, als er die deutsche Wiedervereinigung als ein Anliegen der öffentlichen Meinung der freien Welt bezeichnete. Das heißt:, sie ist bis auf weiteres ad calendas russicas vertagt, denn russische Panzer weichen dem Druck der von uns gar nicht gewonnenen öffentlichen Weltmeinung so wenig wie dem Phantom freier demokratischer Wahlen.

Der Bundestag hat in seiner Debatte über das Fiasko der zweiten Genfer Konferenz diese Analyse durch die auffallende Milde seiner Aussprache ebenfalls bestätigt. Koalition und Opposition mußten endlich eingestehen, daß der Rezeptblock für automatische Wiedervereinigungsformeln in beiden Lagern ausgeschrieben ist. Trotzdem fanden sie sich nicht zu einer gemeinsamen Basis für die Außenpolitik zusammen. Neben der ideologischpolitischen Spaltung zwischen Bonn und Pankow v/ird also auch die innenpolitische Spaltung innerhalb der Bundesrepublik ins neue Jahr hinübergeschleppt. Lediglich darüber besteht Einigung, daß kein direkter Kontakt zu Pankow aufgenommen und der diplomatische Kontakt zu Moskau äußerst zurückhaltend gehandhabt werden soll.

Das aber bedeutet zunächst das Ende einer aktiven Bonner Außenpolitik in der deutschen Frage. Diese Selbstblockade wurde dadurch bekräftigt, daß nicht nur Pankow, sondern auch Prag, Warschau, Budapest, Bukarest und Peking vom Bonner Außenministerium als diplomatisch nichtexistent bezeichnet wurden, indem man am 10. Dezember lautstark verkündete, daß diplomatische Beziehungen Bonns zu den Satelliten insgesamt ausgeschlossen seien und daß jede Eröffnung diplomatischer Beziehungen dritter Staaten zu Pankow als „unfreundlicher Akt“ gegenüber Bonn betrachtet werden müsse. Das wäre ideologisch betrachtet konsequent, wenn man nicht vor kurzem selber die Beziehungen zum Satellitenchef selbst aufgenommen hätte. Realpolitisch betrachtet, übersteigen solche Proklamationen den Heroismus, den sich ein waffenloser Staat leisten kann. Diplomatisch betrachtet, ist es die totale Selbstfesselung, die ein Ueberspieltwerden förmlichprovoziert. Die Ursache für diesen Trapezakt kann nur in dem krampfhaften Bemühen gefunden werden, jetzt die absolute Treue zum Westen, die man in den letzten Monaten (siehe Moskaureise und Saarrummel) zweifelhaft werden ließ, auch um den Preis zu halten, daß der Westen durch das Ueberangebot irre wird. Hier scheint sich der Kardinalfehler der letzten Jahre abermals zu wiederholen: nämlich ein zu starkes Herauskehren der amerikanischen Karte, was im übrigen Europa die Angst vor einer einseitigen deutsch-amerikanischen Militärallianz gegen die Föderationspolitik hervorrief, zumal man dabei übersieht, daß Washington in Europa keine Politik mit Deutschland allein machen kann.

Diese Verkrampfung geht von der irrigen Annähme aus, unsere westdeutsche „Souveränität“ sei politisch hochkarätiger, weil sie von der freien Welt zugesprochen wurde, während die sowjetdeutsche Souveränität ein illegitimes Derivat des Kremls sei. Dieser Irrtum ist lebensgefährlich, weil er übersieht, daß hinter der illegitimen Souveränität der Sowjetzone der eiserne Wille Moskaus steht, in Deutschland als dem Geburtsland der marxistischen Ideologie festen Fuß zu behalten. Außerdem ist der Kreml als einzelner Geschäftsherr der Pankower Souveränität viel leichter in der Lage, seine sowjetzonalen Attrappen an der langen Leine laufen zu lassen, als der immer neu zur Koordination gezwungene Westen, der ohnehin schon zur Zeit mehr an die Zeit nach Adenauer denkt, als man gemeinhin annimmt. Unsere Politik sollte sich daher in der Frage der diplomatischen Kontakte nicht von vornherein selber die letzten Reste des eigenen Operationsfeldes abschneiden und dabei unnötige Einbußen auf allen möglichen Gebieten in Kauf nehmen, zumal ja auch kein Mensch daran denkt, aus der Aufnahme diplomatischer Kontakte zu Moskau eine ideologische Anerkennung des Sowjetregimes herauszulesen. Kontakte mit den Satellitenstaaten könnten durchaus ein Mittel sein, um hinter dem Eisernen Vorhang den Freiheitswillen zu ermutigen und zu stärken.

Alles in allem genommen, fehlt zur Zeit die Möglichkeit zu ertragreicher- eigener Initiative in der deutschen Frage. Nur eine Kräfteverschiebung innerhalb der Weltmächte selbst, etwa ein stärkeres Heranrücken Englands an Europa auf Grund der sowjetrussischen Provokationen in Indien, kann die derzeitige Tiefpunktlage wieder zu unseren Gunsten verändern.

Die einzige reale westdeutsche Außenpolitik kann daher nur in einer konsequenten Wiederaufnahme der europäischen Föderation s z i e 1 e und in einer guten Innenpolitik bestehen. Sozial, kulturell, wirtschaftlich und finanzpolitisch muß die Bundesrepublik für den kommenden Großangriff auf ihre innere Festigkeit gefeit werden. Das Gerede vom „Provisorium“ muß als selbstmörderisch erkannt werden. Ein warmes Staatsgefühl und echter Einsatz für die Lebensordnung ethisch verstandener Freiheit müssen an die Stelle des westdeutschen Staatsverdrusses treten, wenn dieser Staat sich für jene Stunde wappnen will, die ihm vielleicht die Chance gewährt, mühsam und Schritt für Schritt zu einem größeren und freien Deutschland innerhalb eines regional gegliederten Europas zu gelangen. Das derzeitige Primärziel — die Einheit und Freiheit Gesamtdeutschlands — muß als geduldig anzustrebendes Endziel erkannt werden. Einheit und Freiheit werden nicht vom Himmel fallen, sondern sie können angesichts der Weltlage und der Abwertung der deutschen Positionen nur etappenweise — in Form konkret ausgehandelter Freiheiten für die Einzelpersonen — und durch die Bereitschaft zu einer allen Nachbarn erträglichen Gliederung des deutschen Raumes — also -nur auf Umwegen und in neuen elastischen Formen — erreicht werden. Das aber setzt vor allem auch die Bereitschaft voraus, bisher als klassisch betrachtete Funktionen der nationalen Einheit auf der höheren Ebene übernationaler Staatsverbände zu verwirklichen — vor allem im Kontakt zu unseren östlichen Nachbarn. Hiefür die Herzen vorzubereiten, anstatt mit automatischen Formeln uneinlösbare Wechsel auf morgen auszustellen, ist die Hauptaufgabe. Wer es mit einem freien Deutschland in einem freien Europa ehrlich meint, kann nicht mehr mit Prioritätsformeln über Wiedervereinigung und Föderation oder mit faulem Sowohl-Als-auch an der deutschen Frage herumbasteln, sondern bedarf des Mutes, um freimütig zu sagen, daß deutsche Freiheit und Einheit als U n t e r f a 11 eines freien und einigen Europa nur durch eine umfassende Föderation Europas erreicht werden können, denn die 18 Millionen Sowjetdeutschen sind nur ein Teil jener 100 Millionen Europäer, die durch Hitlers Wahnsinn ihre Freiheit verloren haben.

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