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Eben kein „Wandel durch Annäherung“

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Es ist nicht mehr zu verheimlichen. Während auf der ganzen Welt der Bewußtseinszustand Entspannung heraufgeführt wurde, hat Sowjetrußland eine Truppenexpansion zustande gebracht, die „an Stärke und Umfang ohne Beispiel“ ist. Niemand kann sie widerlegen, niemand kann sie als Phantasieprodukt kalter Krieger abtun. Im Gegenteil, sie wird Tag um Tag bestätigt, sie zerreißt Traumgespinste und zerstört Hoffnungen.

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Es ist nicht mehr zu verheimlichen. Während auf der ganzen Welt der Bewußtseinszustand Entspannung heraufgeführt wurde, hat Sowjetrußland eine Truppenexpansion zustande gebracht, die „an Stärke und Umfang ohne Beispiel“ ist. Niemand kann sie widerlegen, niemand kann sie als Phantasieprodukt kalter Krieger abtun. Im Gegenteil, sie wird Tag um Tag bestätigt, sie zerreißt Traumgespinste und zerstört Hoffnungen.

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Zwei Entwicklungen laufen aufeinander zu: die neue Welle der Aufrüstung im Ostblock und die Zersetzung des Westens. England ist am Rande, Italien inmitten einer besorgniserregenden Situation, in Frankreich ist alles offen und die Bundesrepublik bekommt die „englische Krankheit“. Noch ist ungewiß, ob der Zerfall der Europäischen Gemeinschaft abgewendet werden kann; und nach der NATO greift die Erosion wie der Saharasand nach dem Sahelgürtel. Wer sich nach angemessenen Konsequenzen umsieht, blickt in den europäischen Nebel. Das Verhalten gegenüber Israel auf dem Höhepunkt der Krise, der Zerfall der Aktionseinheit gegenüber den Ölscheichs, der Unwüle, die militärischen Konsequenzen der neuen sowjetischen Aufrüstung auch nur zu diskutieren, und die offenbar totale Unfähigkeit, gemeinsam mit der Inflation, mit reinen Wirtschafts- und Gewerkschaftsfragen auch nur halbwegs fertig zu werden, treibt das freie Europa in den Zerfall .— und in die Fäuste der Roten.

Gewiß, es gibt Signale und Symbole des Widerstandes. Es gab den glücklosen Edward Heath, der immerhin kundtat, daß der Geist Churchills unter den Konservativen Englands noch nicht ausgestorben ist. Und es gibt unter den deutschen Sozialdemokraten — noch — Georg Leber, der, vereinsamt und bekämpft, mich allmählich an den Bruder Valentin im Faust erinnert. Milde gesagt, weht diesen Männern der Wind heftig ins Gesicht. Denn die Öffentlichkeit liebt, wenn schon nicht die Bundeskanzler, so doch die „Friedenskanzler“; außerdem versteht sie nicht, wieso jetzt plötzlich wieder alles anders sein soll als in den Rosajahren, in denen Funk und Fernsehen und die meisten Zeitungen geringschätzig Abschied nahmen von der „Ära Adenauer“. Wer sich zu ihrem Erbe bekannte, galt als Idiot, wenn nicht als bösartiger kalter Krieger. Im Wahlkampf 72 galt es sogar innerhalb der CDU als unklug, gegen die Ostverträge zu reden; und mancher ihrer Mandatsträger fürchtete, für einen Gänserich gehalten zu werden, wenn er sich in der Rolle der kapitolinischen Gänse sehen sollte. Wenn schon gerade diese Rolle zu den patriotischen Grund-pflichten einer seriösen Opposition gehört.

Heute ist es nicht nur ihre — aber vor allem ihre — Pflicht, Deutschland zu sagen, daß die ersehnte Entspannung ein Irrtum, nein, eine Täuschung und Selbsttäuschung war. Die Feststellung ist kein Anlaß auch nur für einen Hauch von Triumph. Denn der Tatbestand ist aberwitzig. Er läßt Hoffnungen verglühen und die Vernunft resignieren. Was die Verteidigungsministerien seit Monaten wissen und was jetzt unaufhaltsam in die Öffentlichkeit dringt, ist die Tatsache, daß die Sowjets exakt in derselben Zeit, in der sie zusammen mit den Westmächten und der Regierung Brandt angeblich in Entspannung machten, ihre nach Westen gerichtete Front auf mindestens 160 modern bewaffnete Divisionen brachten, von denen der größere Teil (91 Divisionen) zwischen Helmstedt und der polnischen Ostgrenze steht. Die Starlingerthese, der auch Konrad Adenauer einst gerne sein Ohr lieh, ist widerlegt, wenn man mit den 91 die 40 russischen Divisionen vergleicht, die angeblich an der russischchinesischen Grenze stehen. Nicht, wie Dr. med. Starlinger einst vorhersagte, haben die Sowjets ihre Westfront ausgedünnt, um ihre Ostfront zu verstärken; sie haben, im Gegenteil, ihre gegen Europa gerichtete Front so gewaltig verstärkt, daß das schon zuvor bestehende Mißverhältnis zum Verteidigungspotential der NATO katastrophal überhöht wurde.

Das zwangsläufige Ergebnis ist die noch weitere Herabsetzung der Atomschwelle. Denn wer glaubt daran, daß die gewaltige Walze aus dem Osten von den zahlenmäßig weit unterlegenen, konventionell bewaffneten NATO-Divisionen auch nur für nennenswerte Zeit gestoppt, geschweige gar zurückgeworfen werden könnte? Es ist darum nur logisch, wenn sich das Pentagon daran gemacht hat, die Sprengkraft seiner bisherigen taktischen Atomwaffen noch mehr zu verkleinern, nicht um ihre Wirkung ton ganzen zu verringern, sondern um sie noch weit beweglicher als bisher einsetzen zu können.

Dem unibefriedigenden Vergleich der Stärkeverhältnisse zwischen NATO und Warschauer Pakt wurde oft entgegengehalten, daß schließlich nicht das militärische, sondern das im Ernstfall aufbietbare überlegene Wirtschaftspotential der einen oder der anderen Seite entscheide. Man braucht kein Fachmann zu sein, um diesen Einwand zu widerlegen. Er gilt zwar für den Verlauf der beiden Weltkriege. Aber spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, daß sich eine auch hoch überlegene wirtschaftliche Produktionskraft nicht rasch genug in militärische Präsenz verwandeln läßt, um schwerste Verluste zu verhindern. Die Entwicklung der Waffensysteme und das im Vergleich zu dem deutschen Angriffspotential von 1939 in Quantität und Qualität unvergleichlich viel größere des heutigen Ostblocks würden die Zeit vom Angriff bis zur irreparablen Niederlage so verkürzen, daß der freien Welt nach dem ersten Schuß vermutlich keine Zeit mehr bleiben würde, ihre tatsächlich bestehende wirtschaftliche Überlegenheit in eine militärische zu verwandeln. Wenn das nicht vor dem ersten Schuß geschieht, ist es zu spät. Die Politik der Abschreckung wäre Bluff, wenn es anders wäre.

Das entscheidende Element dieser Politik sind die Atomwaffen. Die Risiken ihres Einsatzes sind für beide Seiten so unkalkulierbar groß, daß General de Gaulle die Bereitschaft der USA, sie jemals einzusetzen, stets in Zweifel zog. Die Sowjets scheinen ihm darin zu folgen. Denn wie erklärt es sich sonst, daß ihre in der Nachtruhe der „Entspannung“ vollzogene neue Aufrüstung offenbar vor allem der Verstärkung ihrer konventionellen Angriffswaffen galt?

Die amerikanische Umrüstung der taktischen Atomwaffen auf „handlichere“ Größen spricht indessen gegen jene Zweifel de Gaulles. Und auch der Kreml muß nun erst recht wieder damit rechnen, daß er einen Atomkrieg riskiert, wenn er seine Divisionen durch den Eisernen Vorhang nach Westen rollen läßt. Da er das weiß, ist es unwahrscheinlich, daß er es auf einen Krieg ankommen läßt. In einer ansonst gescheiten Studie sachverständiger Leute wurde kürzlieh die Behauptung aufgestellt, daß Henry Kissinger seinen Erfolg im Nahen Osten der Entspannung zu verdanken habe. Die Behauptung ist falsch. Nicht die Entspannung, die in Tat und Wahrheit nur der Wunsch und Bewußtseinstatbestand der Völker, aber nicht der des Kremls und der Honeckerleute ist, hat das Feuer herunterbrennen lassen, sondern die Abneigung des Kreml gegen die Risiken eines Krieges in unmittelbarer Nähe Europas.

Wozu aber dann eine neue gewaltige Rüstung? Um vor einem Angriff der NATO-Mächte sicher zu sein? Uns Westlern erscheint der Gedanke absurd. Aber man kann nicht ausschließen, daß er für die Sowjets noch immer ein Gewicht hat, das uns unbegreiflich ist. Denn sie brauchen noch nicht einmal ihr dichtes Spionagenetz und ihre mächtigen Geheimdienste, um zu wissen, daß die ganze freie Welt an nichts weniger denkt als an Angriff und daß ihr nichts wichtiger ist als der Friede. Und dies in einem so hohen, nahezu absoluten Maße, daß es die Politik der Abschreckung schon wieder in Frage stellt. In der Werttheorie des Westens gilt zwar noch immer der Vorrang der eigenen Freiheit vor dem Frieden. Aber wie ist es in der öffentlichen Meinung damit bestellt? Und wie würde sie sich angesichts der massiven Drohung in einem Krisenfall verhalten?

Trotz dieser Fragen ist bislang nicht in Abrede zu stellen, daß geschossen würde im Verteidigungsfall. Das Erbe aus der Gründungszeit der NATO ist insoweit noch wirksam, auch wenn es fast nur noch auf dem Automatismus ihres Verteidigungssystems beruhen sollte. Es zu deformieren, zu schwächen und (politisch, psychologisch und militärisch) zu unterlaufen, blieb auch in der Phase der sogenannten Entspannung das wichtigste Ziel des Kreml. Auch deshalb kann von ihr gar nicht im Ernst gesprochen werden. Sie war ein Etikettenschwindel, auf den viele hereingefallen sind.

Wozu aber das Ganze? Wozu Truppenexpansion und Etikettenschwindel, wenn es die Sowjets auf den Krieg, den heißen Krieg doch nicht ankommen lassen wollen? Es gibt eine dreifache Antwort:

1. Im Kreml führen noch immer nicht die Angriffsfanatiker, sondern die auf Überleben bedachten Vorsichtigen. Kriege können auch planwidrig, sozusagen als Verkehrsunfälle der Weltgeschichte entstehen. Man muß dem Kreml zugestehen, daß er das in Rechnung stellt.

2. Der Kreml sieht sich seit Jahr und Tag überrundet von der wirtschaftlichen Kraft und Macht der freien Welt. Mit äußerster Anstrengung geht er in die immer neue Konkurrenz mit der produktiven Kraft der Freiheit. Deshalb seine Prestigedemonstrationen auch in einem so unerhört kostspieligen Bereich wie der Raumfahrt. Seine Ideologie, seine Doktrin von der zukunftsbe-herrschenden Überlegenheit des Kommunismus verlangt nach demonstrativen Beweisen dieser Überlegenheit. Kann sie die Wirtschaft und das soziale Niveau seiner Gesellschaft nicht bieten, so muß es ihre militärische Kraft und Geltung tun.

3. Der Kreml ist nicht blind. Er hat die Selbstgefährdung der freien Welt, insbesondere Europas vor Augen. Er sieht, wie erbittert sie um ihre eigene Balance ringen muß. Er erkennt, daß die westliche Demokratie immer erbarmungsloser gefordert ist, ihre eigene Freiheit mit ihren eigenen Notwendigkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Der Kreml sieht, wie groß die Gefahr ist, die dem freien Europa droht, wenn das Schiffchen seiner Gesellschaft immer mehr aus dem Ruder läuft; und berechnet, nicht ohne Realitätsgefühl, was es für diese Gesellschaft in der Stunde ihrer hohen Gefahr bedeutet, der drohend über ihr hängenden, furchteinflößenden Wand einer gewaltigen, streng geordneten Weltmacht zu widerstehen.

Das alles ist nicht ohne Verstand. Ganz ohne Verstand ist nur das Verhalten eines beachtlichen Teils der freien Welt, vorab der Europäer. Bleiben wir bei uns selbst. Am 14. Dezember 1973 erlaubte sich der Verteidigungsminister darauf hinzuweisen, daß die Sowjetunion nicht erwarten könne, daß der Westen mit seinem Geld die Lücke schließe, die die sowjetische Rüstung dem russischen Sozialprodukt fortgesetzt zufügt. Darauf der „Vorwärts“: „Das ist nicht die Politik der Bundesregierung. Das ist eine wenig durchdachte Ansicht Georg Lebers. Wirtschaftliche Kooperation kann nicht starr mit Abrüstungspolitik gekoppelt werden.“ Ich fürchte, der „Vorwärts“ hat so unrecht nicht mit seiner Behauptung über den Standpunkt der Regierung. Aber umso schlimmer. Er charakterisiert damit nur die ganze Pleite des deutschen Entspannungsbeitrags. Was nützen da die bitteren Verzichte der Ostverträge, was die Anerkennung Ostberlins? Es ist kein Trost, daß unsere Vorbehalte und Voraussagen über die völlige Nutzlosigkeit all dieser Opfer rascher bestätigt werden, als wir selbst annahmen. Aber es ist ein Ärgernis zu sehen, daß die offen zutage liegenden, für jedermann einzusehenden Tatbestände frivol ignoriert werden; und daß wir angehalten werden, Frondienste zu leisten für Mächte, die auf nichts mehr erpicht sind als auf unsere Unterwerfung.

Solange solche Denkweisen die Richtung in diesem Lande mitbestimmen, vermöchte nicht einmal eine durchgreifende Organisationsreform der NATO (die ohnehin fällig ist) Deutschland und Europa das notwendige Maß von Sicherheit zu bringen. Denn sie hängt nicht allein ab von der Qualität und Präsenz der NATO. Ein Land, dessen Regierung, Justiz und Bürgerschaft sich daran gewöhnt, Terrorakte, wie wir sie an deutschen Universitäten erleben, schlicht hinzunehmen, beweist nicht gute Nerven, sondern zumindest einen schlampigen Umgang mit dem von ihm selbst gesetzten Recht und der Ehre seiner Bürger. Oder sollte es bereits wieder soweit sein, daß wir uns vor dem Terror ducken, obwohl das Risiko, ihm die Stirn zu zeigen, noch unvergleichlich geringer ist als vor vierzig Jahren?

Man muß davon reden und zwar in diesem Zusammenhang. Denn auch eine auf Brillanz gebrachte NATO in einem global funktionierenden Sicherheitssystem der freien Welt kann auf die Dauer kein Land schützen, das nicht nach dem Maße seiner Kraft das Seine dazu beiträgt. Es ist bedrückend zu sehen, daß die tragende Mitte der wehrfähigen freien Welt, die USA, die einzige NATO-Macht sind, die in ihrem neuen Verteidigungshaushalt angemessene Konsequenzen aus der Truppenexpansion der Sowjets gezogen hat. Wenn die Rechnung des Kreml nicht aufgeht, dann liegt es nicht an uns Deutschen, nicht an uns Europäern in miserablem Zustand, sondern wiederum allein an den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein demütigendes Bewußtsein.

Ich rechne damit, daß eine zeitgemäße Vergegenwärtigung dieser Art als Rückfall in den Kalten Krieg denunziert wird. Nun, das wäre gut moskowitisch — und belanglos. Nützlich aber ist es, an einer solchen Vergegenwärtigung abzulesen, was die Idee vom „Wandel durch Annäherung“ in diesen fünf Jahren bewirkt hat. Sie konnte etwas Gutes schon deshalb nicht hervorbringen, weil sie entweder einer großen Selbstüberschätzung oder einer gedankenlosen Unterschätzung des Weltkommunismus oder beidem entsprang. Wenn aber schon in Schlagworten gesprochen werden soll, dann empfehle ich eines aus der alten Mottenkiste der Sowjets, nämlich die „friedliche Koexistenz“. Ich fand es schon vor zwanzig Jahren passabel. Denn wenn es meinte, was das Wort besagt (und nicht das, was zumeist damit kamoufliert wurde), dann gäbe es für die Verwirklichung dieser Koexistenz auch in der Welt von heute nur zwei Wege. Den vernünftigen: die allgemeine kontrollierte Abrüstung auf allen Ebenen, erzwungene Abrüstung auf allen Ebenen. Oder den anderen, weniger vernünftigen, aber von Moskau erzwungenen: die glaubhafte Abschreckung im Verbund mit der freien Welt.

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